Mein siebenjähriger Sohn Jonas hält mir einen kleinen Terminkalender mit einer winzigen Landkarte unter die Nase: "Papi, erklärst du mir die Welt?" "Das ist nur eine Schweizerkarte", antworte ich. "Was, nur eine Schweizerkarte?" Jonas ist enttäuscht. Beim Durchblättern des Kalenders ist er zufällig auf eine Karte gestossen; das hat seine Neugier für Geographie geweckt. Aber diese Neugier richtet sich aufs Ganze: Die Welt will er erklärt haben, nicht bloss die Schweiz. Ich versuche sein Interesse mit ein paar Namen zu beleben, die ihm von Ausflügen her bekannt sind: "Schau, hier ist der Genfersee. Und hier der Gotthard. Und da unten liegt Magliaso am Luganersee." Alles vergeblich. Wie sehr diese Namen sonst seine Phantasie anzuregen vermögen; heute wirken sie nicht. Was sollen diese Details. Jonas will keine Einzelheiten, er will das Ganze: die Welt. Ich steige in den Keller hinunter und suche unter einigem Gerümpel einen etwas verbeulten Globus hervor, den eines meiner älteren Kinder vor vielen Jahren geschenkt bekommen hat. Jonas nimmt die Kugel in die Hand und ist selig. Jetzt hat er, was er will: Amerika, Asien, Afrika, die grossen Ozeane, den Mississippi, Grönland, den Nordpol und die Südseeinseln, die er von einer Kindergeschichte her kennt.
Diese kleine Episode aus dem Alltag (1) zeigt, wie viele glückliche Umstände zusammenwirken müssen, bis menschliche Neugier ihren Gegenstand findet. Es ist mehreren Zufällen zu verdanken, dass der kleine Jonas just im rechten Moment in den Besitz eines Globus kommt. Zuallererst muss sich Neugier entzünden und in einer verständlichen Form artikulieren. Was bei diesem subtilen Vorgang Gestalt gewinnt, nennen wir Kernidee. In der Frage "Papi, erklärst du mir die Welt?" ist das Ganze, das Jonas im Auge hat, in vager Form angedeutet: Er hat eine Ahnung vom Ziel, das er erreichen will, und er hat auch eine Vorstellung vom Weg, auf dem er dieses Ziel erreichen kann. Mit seiner Frage weist er seinem Vater die Rolle des Lehrers zu, welche dieser akzeptiert. Auch er lässt sich von einer Kernidee leiten: Er glaubt, Jonas habe sich versprochen und wolle nicht die Welt, sondern bloss die Schweiz erklärt haben. Im äusserst heiklen Dialog zwischen "Schüler" und "Lehrer" wird der Konflikt zwischen diesen beiden Kernideen ausgetragen: Es ist der Konflikt zwischen zwei unterschiedlichen Sehweisen des Ganzen, das Gegenstand des Lernens sein soll. Zum Glück lässt sich Jonas von den wohlmeinenden pädagogischen Massnahmen des Vaters nicht von seiner ursprünglichen Kernidee ablenken. Dank der Beharrlichkeit des "Schülers" und der Zurückhaltung des "Lehrers" stossen die beiden schliesslich auf den Globus: das Lehrmittel, das Jonas im Moment braucht.
In der kleinen Szene mit Jonas herrscht ein Klima, das charakteristisch ist für eigenständiges Lernen. Zwei Merkmale sind auch für die Schule wegweisend:
- Der Lernende greift von Anfang an nach dem Ganzen und will sich nicht mit Bagatellen herumschlagen.
- Die Lehrperson übt sich vorerst in geduldigem Zuhören. Dabei revidiert sie ihr didaktisches Konzept und lässt sich vom Lernenden zeigen, wie und wo sie unterstützend eingreifen soll.
Ein Unterricht, der die Suche nach sach- und schülergerechten Kernideen an den Anfang stellt, fordert Lehrer und Schüler auf, ihre Rollen zu überdenken und neu zu definieren. Beide Seiten werden mit neuen Aufgaben konfrontiert. Die Lehrperson ist aufgefordert, Kernideen zu formulieren, die dem Anfänger einen Blick aufs Ganze des Fachs oder eines grossen Stoffgebiets ermöglichen. Sie darf den anfänglichen Widerstand des Lernenden gegen ihre persönliche Gesamtschau nicht als Angriff missverstehen, sondern muss ihn als Herausforderung zur kreativen Abwandlung oder Neugestaltung ihrer Kernidee aufgreifen. Indem sie sich aufkeimende Kernideen der Lernenden probeweise zu eigen macht und versucht, ihr Stoffgebiet von vielleicht sehr sachfremden Schülerpositionen aus neu ins Auge zu fassen, eröffnet sie den Lernenden die Möglichkeit, eigene Lernwege zu beschreiten. Nicht selten gewinnt sie dabei selber eine ungeahnte Neuinterpretation des Altvertrauten. Das erfordert allerdings nicht nur Geduld und Zurückhaltung, sondern auch die Fähigkeit zur Übersetzung singulärer Sehweisen und Ideen aus der oft noch sehr rudimentären Sprache der Lernenden in fachlich ergiebige Fragestellungen (relativistische Transformation).
Zu einem fruchtbaren Dialog über Kernideen kommt es nur, wenn auch die Lernenden sich ernsthaft daran beteiligen. Auch sie haben Kernideen zum Stoff, obwohl ihnen das häufig gar nicht bewusst ist. Kernideen sind nicht Produkt einer besonderen Anstrengung, sie stellen sich immer von selbst ein, wenn Mensch und Stoff in Kontakt treten. Als Menschen können wir nicht umhin, uns in irgend ein Verhältnis zu dem zu setzen, was uns begegnet. Das zu thematisieren ist allerdings anstrengend und braucht Mut. Das Verhältnis, das die Lernenden dem Stoff oder dem Lernen gegenüber einnehmen, ist häufig so sachfremd, dass sie nicht darüber reden wollen und es auch gar nicht als zum Unterricht gehörig auffassen. "Goethe mag ich nicht" oder "Trigonometrie ist zu schwierig für mich" -, wer möchte sich mit solchen Kernideen blossstellen. Wo aber soll der Lernprozess einsetzen, wenn nicht dort, wo die Lernenden tatsächlich stehen. Ihr Standort ist aber kein anderer als der Ort, der durch ihre Kernidee markiert ist. Sollen die Schulstoffe die Person berühren, sie durchdringen und verändern, so muss jeder Lernende zuallererst seine Position gegenüber dem Stoff und der Lehrperson bewusst einnehmen und von hier aus den Dialog suchen. Er darf sich nicht widerstandslos mit dem Lernarrangement abfinden, sondern muss sich aktiv am Prozess der Suche nach Kernideen beteiligen, die seiner Person ebenso gerecht werden wie der Sache, um die es im Unterricht geht. Erst wenn der Stoff im Gespräch über konkurrenzierende Kernideen eine Gestalt angenommen hat, die das Ganze in einer für alle verständlichen und motivierenden Weise zum Ausdruck bringt, ist die Phase der Initialisierung individueller Lernprozesse abgeschlossen und der Weg zum eigenständigen und sinnstiftenden Aufbau von Fachkompetenz frei.
Wie macht man das mit zwanzig Schülerinnen und Schülern?
Im Rahmen eines Entwicklungsprojekts der Erziehungsdirektion Zürich hatten die beiden Autoren in den Jahren 1988 bis 1990 Gelegenheit, ihr Konzept "Lernen auf eigenen Wegen" mit Klassen aus allen Schulstufen zu erproben. Dabei spielte neben dem Begriff "Kernidee" auch der Begriff "Reisetagebuch" (2) eine zentrale Rolle. Beide Begriffe versuchen Stoffe und Menschen in ihrer Ganzheit wahrzunehmen. Während Kernideen fachliche und emotionale Fixpunkte der Orientierung darstellen und individuelle Lernprozesse auslösen, dient das Reisetagebuch der Sicherung individueller Spuren in weitläufigen Stoffgebieten. Der Gebrauch der schriftlichen Sprache hat im Projekt eine zentrale Rolle gespielt. Beim Schreiben verlangsamen und klären sich Gefühle und Gedanken, nehmen Gestalt an und fordern zur Stellungnahme heraus. Wer schreibt, übernimmt in besonderer Weise Verantwortung für seine Position und öffnet sich der Kritik. Individualisierung ohne Aufbau einer schriftlichen Sprachkompetenz, die es dem Lernenden erlaubt, seine im Moment verfügbare Sprache als Medium des Lernens selbständig zu nutzen, ist undenkbar. Wenn Lernende ihren Lernweg im Sinne der Spuren von Hänsel und Gretel dokumentieren, irren sie nicht planlos im undurchdringlichen Neuland umher, sondern werden bei ihren individuellen Exkursionen nach und nach vertrauter mit dem Stoffgebiet und gewinnen Überblick. Wenn die Schülerinnen und Schüler schreiben, gewinnt die Lehrperson Zeit für Beratung. Anhand der Spuren im Reisetagebuch erkennt sie ohne grossen Aufwand, wo jeder einzelne steht und welche Hilfen er im Moment braucht.
Das zentrale Anliegen des Konzepts "Lernen auf eigenen Wegen" besteht darin, die Lernenden zum Aufbau regulärer Kenntnisse und Fertigkeiten anzuleiten, ohne sie dadurch von ihrer singulären Basis zu entfremden. Das führt zu einer ganz neuen Einschätzung und Wertung der Schülerprodukte und zu einer starken Erweiterung des Leistungsbegriffs. Obwohl im Projekt nicht nur die Schülerinnen und Schüler, sondern auch die Lehrerinnen und Lehrer eigene Wege beschritten haben, haben sich gewisse Konstanten herausgebildet, die es erlauben, das vielfältige Geschehen im Unterricht zu interpretieren und die unterschiedlichen Aktivitäten zu beurteilen. Das folgende Modell mit vier Lern- und Arbeitsfeldern ist eine grobe Orientierungshilfe und darf nicht etwa als lineares Unterrichtsprogramm missverstanden werden, das jedesmal in starrer Abfolge von Punkt 1 bis Punkt 4 durchgespielt werden muss.
Am Anfang eines Lernprozesses stehen Kernideen, die das ganze Stoffgebiet in vagen Umrissen einfangen und als attraktives Gegenüber den Lernenden zum sachbezogenen Handeln herausfordern. Die Auseinandersetzung mit Kernideen spielt sich auf je individuellem Niveau im Reisetagebuch ab und dient dem individuellen Aufbau regulärer Kenntnisse und Fertigkeiten. Der generelle Auftrag lautet: Dokumentiere deinen Lernweg! Vom singulären Standort aus erforscht der Lernende das Sachgebiet in der Vorschauperspektive. Ziel des Lernwegs ist der Überblick über das Sachgebiet in der Rückschau und die Beherrschung der zugehörigen, selbständig aufgebauten Algorithmen.
Unabhängig von der Klassenstufe und von der individuellen Leistungsstärke sind den Schülerinnen und Schülern im Rahmen des Projekts vor allem unter den Aspekten "Vorschau", "Weg", "Produkt" und "Rückschau" Leistungen abverlangt worden. Die dazu gehörigen Leitfragen haben sich als elementares Rüstzeug für ein Lernen auf eigenen Wegen bewährt und die Arbeit der Lernenden in allen Fachgebieten geprägt. Sie zielen auf fachübergreifende Sach- und Sprachkompetenzen und orientieren sich an hochrangigen Bildungszielen, die üblicherweise kaum beachtet werden und in den Präambeln zu Lehrplänen ihr kümmerliches Dasein fristen.
- Wie wirkt dieser Stoff auf mich? (Vorschau)
Wie und wo fordert mich die Kernidee der Lehrperson zum Handeln heraus?
Von welchen Kernideen lasse ich mich leiten?
Gibt es für mich einen persönlichen Zugang zum Stoffgebiet?
Welchen Spielraum eröffnet mit der Auftrag der Lehrperson? - Wie verhalte ich mich beim Problemlösen? (Weg)
Kann ich meine Arbeit mit Hilfe des Reisetagebuchs organisieren?
Wo stehe ich und wo komme ich nicht weiter?
Wie und wo hilft mir die schriftliche Sprache beim Klären der Gedanken?
Wage ich es, auch Irrwege zu dokumentieren, und kann ich aus Fehlern lernen?
Kann ich mir beim Arbeiten selber zuschauen und zweckmässige Strategien entwickeln? - Kann ich mit meinem Wissen und Können vor andern bestehen? (Produkt)
Kenne ich die geltenden Anforderungen: Kann und will ich ihnen gerecht werden?
Kann ich Begriffenes auf meine Weise nachvollziehbar darstellen?
Kann ich beim Gestalten eigene Intentionen mit fremden Erwartungen in Einklang bringen?
Könnte ich meine Leistungen auch einem breiteren Publikum präsentieren?
Bin ich mir klar über mein Konzept, und verfüge ich über die erforderlichen Mittel? - Was habe ich erreicht? (Rückschau)
Bin ich zufrieden mit meiner Arbeit, und wird sie anerkannt?
Was hat sich verändert; welche Konsequenzen ergeben sich?
Wie verhalten sich andere Menschen in vergleichbaren Situationen?
Was kann ich von Mitschülern, Fachleuten oder Künstlern lernen?
Diese Leitfragen entsprechen vier Registern des selbständigen Arbeitens, über die der mündige Mensch frei verfügt. Lehrpersonen, die mit ihren Schülerinnen und Schüler erste Schritte im eigenständigen Lernen wagen, werden sich vorerst nur auf eine dieser Leitfragen konzentrieren, sie altersgemäss modifizieren und den Spielraum entsprechend eingrenzen. Mit zunehmender Sicherheit können mehrere Leitfragen zugleich thematisiert und die Zeiträume für ein Lernen auf eigenen Wegen von einer Doppellektion bis zu einem ganzen Semester ausgedehnt werden. Jedes Register eröffnet Arbeitsfelder mit ganz spezifischen Aufgaben, Arbeitsweisen und Beurteilungsmassstäben. Das ist in der folgenden Tabelle, die anschliessend noch erläutert wird, ersichtlich.
Register der Selbständigkeit | Aufgabe | Aufgabe | Massstab | Funktion |
Vorschau: Entdecken einer eigenen Kernidee (Motivation) und Formulieren eines individuellen Arbeitsauftrags (Problemfeld, Zeitbudget, Ziel) | Singuläre Antwort auf die Kernidee der Lehrperson | Freilegen individueller Intentionen und Kompetenzen durch relativistische Transformation | Relativ zum singulären System des Lernenden generierte Kriterien | Initialisierung einer person- und sachgerechten Beurteilungsgrundlage (initiativ) |
Weg: Lernprozess selbständig organisieren und lenken lernen | Dokumentation des eigenen Lernwegs im Reisetagebuch | Rückmeldungen: | Relativ zu einem sich entwickelnden Begriffssystem und Problemlösungsverhalten generierte Kriterien (Doppelaspekt singulär / regulär) | Optimierung des individuellen Lernverhaltens und Erweiterung der verfügbaren Kompetenzen (formativ) |
Produkt: Beleg für die momentane Leistungsfähigkeit | Synthese von singulären Intentionen und regulären Anforderungen | Feststellen der Differenz zwischen Produkt und anvisiertem Ziel gemäss Arbeitsauftrag | Relativ zum regulären Normensystem generierte Kriterien | Ermittlung des individuellen Leistungsstands auf vorgegebener Skala (summativ) |
Rückschau: Selbstbeurteilung (Prozess und Produkt) | Divergierender Vergleich von Eigenem mit Fremdem (Klasse, Gesellschaft) | Bestätigung oder Korrektur der Selbstbeurteilung des Lernenden | Generelle Kriterien: Lernziele, schulische Leistungsstufen, Vorbilder (Klassenkameraden, Künstler, Fachleute) | Bilanz: Leistungsvergleich und Planung der nächsten Lernphase oder eines Übertritts (diagnostisch und prognostisch) |
Erläuterung der Tabelle:
- Initialisierung der Beurteilung in der Vorschau
Am Anfang einer Lernphase geht es darum, die singuläre Basis des Lernenden zu sichern, der herausgefordert ist, auf eine Kernidee der Lehrperson zu antworten. Es geht in dieser Phase ausschliesslich darum, herauszufinden, wo und wie ein Lernender sich durch die Sache zum Handeln veranlasst sieht. Es gilt, und das ist die Hauptaufgabe der Lehrperson in dieser Phase, Eigenart und Intention dieses Handelns freizulegen, weil darin der Keim für zukünftige Leistungen steckt. Erst wenn es dem Lernenden mit Hilfe der Lehrperson gelingt, im Rahmen des durch die Kernidee der Lehrperson umrissenen Stoffgebiets eine eigene Kernidee zu entwickeln, gewinnt sein Handeln Richtung und Ziel (Vorschau). Dabei handelt es sich um das Herzstück der schulischen Persönlichkeitsbildung, die sich, wenn sie glaubwürdig sein soll, im Dialog mit schulischen Stoffen zu bewähren hat. Erst wenn sich der Lernende die Überzeugung zu eigen macht, die Beschäftigung mit Sprache, Mathematik und andern Stoffen sei sinnvoll und lohnend, wird er offen für eigenständiges Lernen. Die mit dem Willen zur Auseinandersetzung mit schulischen Stoffen verbundene persönliche Wertung ist Voraussetzung dafür, dass der Lernende für Kritik und Beratung zugänglich wird und sie produktiv umsetzen kann. Abschluss dieser Lernphase ist ein individueller Arbeitsauftrag mit Zeitbudget und Zielvorgaben, der massgebend ist für die nachfolgende Beurteilung und Bewertung der Schülerleistungen (initiative Leistungsbeurteilung). - Reflexion und Lenkung des individuellen Lernprozesses
Im Reisetagebuch dokumentiert der Lernende seinen individuellen Lernweg. Er gibt sich damit Rechenschaft über sein Verhalten und seine Erkenntnisse beim Problemlösen. Da er aber über die regulären Begriffe und Verfahren noch nicht verfügt, sondern sie erst erarbeitet, können seine Leistungen nicht relativ zur Norm, sondern nur relativ zu seinem singulären Leistungsvermögen beurteilt werden. Das verlangt eine relativistische Transformationsarbeit der Lehrperson. Durch Rückmeldungen, die zugleich sach- und schülergerecht sind, konfrontiert die Lehrperson den Lernenden mit einem ihm angemessenen singulären Massstab und zeigt ihm, wo er steht und in welche Richtung er sich entwickeln könnte. In der Beratung lassen sich Beurteilung und Bewertung kaum voneinander trennen. Die Lehrperson kommt nicht umhin, in ihre Rückmeldungen auch Qualitätsurteile über die vom Lernenden geleistete Arbeit einzubeziehen. Sie orientiert sich zunächst an den singulären Massstäben des Lernenden, zieht aber nach und nach vermehrt auch reguläre Normen als Massstab heran. Im Wechsel zwischen singulären und regulären Beurteilungskriterien kann der Lernende zunehmend selbst beurteilen, wo seine Schwächen und Stärken liegen und wie er diese Einsicht für seine Arbeit fruchtbar machen kann (formative Leistungsbeurteilung). - Ermittlung des momentanen Leistungsstands
Das Ende eines Lernprozesses in einem Sachgebiet kündigt sich an, wenn der Lernende seinen singulären Intentionen in regulären Formen Ausdruck zu verleihen vermag. Beim kreativen Gestalten in einem Stoffgebiet, in dem sich der Lernende zu Hause fühlt, kommt es zu einer Synthese von Singulärem und Regulärem. Es gelingt dem Lernenden, aus einer komplexen Problemlage geeignete und interessante Teilprobleme auszugrenzen und zu lösen. Er ist jetzt in der Lage, Stoffe persönlich zu durchdringen und sachgerechte Produkte zu gestalten, die mit regulären Normvorstellungen beurteilt werden können und die Aufschluss geben über den momentanen Stand seiner Leistungsfähigkeit (summative Leistungsbeurteilung). - Bilanz und Planung
Charakteristisch für den Lernprozess ist die allmähliche Annäherung an reguläre Begriffe und Algorithmen. Entscheidend ist dabei allerdings, dass das Singuläre nicht erstickt oder verdrängt, sondern in seiner Eigendynamik ermutigt und bestärkt wird. Im divergierenden Vergleich mit fremden Leistungen und Verhaltensweisen entwickelt der Lernende die Fähigkeit, das eigene Tun in der Rückschau kritisch zu überprüfen und an fremden Normen zu messen. Dabei fliessen personenbezogene Werturteile, die das Verhalten des Lernenden im Reisetagebuch betreffen (Lernprozessbeurteilung), und normenbezogene Werturteile, die sich auf Produkte abstützen (Lernproduktbeurteilung), zu einer Gesamtbeurteilung zusammen (zweidimensionale Leistungsbeurteilung). Es gibt, wie das Projekt gezeigt hat, Lernende, die sich vorwiegend als Wegspezialisten, und andere, die sich als Produktspezialisten profilieren. Ihre Leistungen können so gewichtet werden, dass den Stärken auf der einen Seite mehr Gewicht beigemessen wird als den Schwächen auf der andern Seite. Eine Leistungsbeurteilung, die sich auf Weg und Produkt abstützt und die Raum schafft für eine fundierte Selbstbeurteilung des Lernenden, kann neben einer formativen oder summativen Funktion auch Basis für ein Gespräch mit Eltern, Behörden oder Nachfolgelehrern, für die Planung der weiteren Schullaufbahn oder für eine allfällige Selektion abgeben (diagnostische und prognostische Leistungsbeurteilung).
Die Differenzierung der Leistungsanforderungen und die klare Unterscheidung von Prozess- und Produktbeurteilung (zweidimensionale Leistungsbeurteilung) führte in allen Projektklassen zu einer Steigerung der Leistungsbereitschaft: Die Verpflichtung zur Dokumentation des eigenen Lernwegs im Reisetagebuch erlaubte es leistungsstarken Schülern nicht mehr, sich auf Lorbeeren ausruhen, gleichzeitig ermöglichte sie leistungsschwächeren Schülern, mit ihren begrenzten Möglichkeiten gute oder sogar sehr gute Leistungen zu erbringen. Dazu ein Beispiel.
Aus dem Reisetagebuch von Astrid und Ueli
Astrid und Ueli sitzen in der 1. Gymnasialklasse unseres Projekts. Auf dem Stundenplan steht Mathematik. Thema sind die rationalen Zahlen. Die Kernidee präsentiert sich diesmal in Gestalt eines veritablen Liegevelos. Es gehört Luki und verfügt über 18 Gänge. Viele Schüler haben schon Probefahrten mit diesem attraktiven Vehikel hinter sich, und so ist die Frage, wie man es zweckmässig schaltet, durchaus aktuell. Fachsprachlich ausgedrückt geht es um die Hierarchie der Gänge. Nach einigem Rätseln wird die Mechanik genauer untersucht: Bei den Pedalen befinden sich drei Kettenräder mit 52, 38 und 26 Zähnen. Am Hinterrad sind sechs Kettenräder mit 32, 26, 21, 18, 16 und 14 Zähnen montiert. In einer ersten Phase des Erkundens finden die Schüler heraus, dass die Brüche, gebildet aus den vorderen und hinteren Zahnzahlen, ein Mass für die Grösse der Gänge sind. Das Mass des Ganges "vorne 52 - hinten 21" lautet beispielsweise 52/21. Das heisst, wenn die Pedale mit ihrem 52er Kettenrad eine volle Umdrehung ausführen, macht das Hinterrad mit seinem 21er Kettenrad 52/21 Umdrehungen. Wie kann man nun aber die Hierarchie der Gänge bestimmen?
Der folgende Auszug aus einem Reisetagebuch (Abbildung 1) dokumentiert den Weg, den eine Schülerin - wir nennen sie hier Astrid - gewählt hat. Sie tut sich schwer mit Mathematik und kommt nicht ans Ziel. Trotzdem hat sie die Chance, eine gute Leistung zu erbringen. Ihr Interesse am Thema bleibt wach.
Abbildung 1: Astrid erfasst den "Witz der Sache", kommt aber nicht zum Ziel.
Astrid kommt mit dem Problem, 18 Brüche gleichnamig zu machen, nicht zurecht. Sie kennt, wie die meisten andern Schüler auch, noch keine Normverfahren. Trotzdem macht sie sich auf die Suche nach einer Lösung und dokumentiert getreulich jeden Schritt. Am Beispiel von Astrids individuellem Lernweg lassen sich einige wichtige Merkmale des Projekts "Lernen auf eigenen Wegen" ablesen.
- Astrid nützt eine Möglichkeit der schriftlichen Sprache aus, von der in der Schule selten Gebrauch gemacht wird: Beim Schreiben klären sich die Dinge. (Heuristische Funktion der Sprache)
- Astrid macht sich Gedanken über ihre individuelle Art des Problemlösens und kann ihre Verfahren später im Vergleich mit andern optimieren. (Metakognition)
- Astrid übernimmt Verantwortung für Verlauf und Abbruch ihrer Arbeit. (Mündigkeit)
- Astrid ist gespannt auf die nächste Lektion: Die persönliche Auseinandersetzung mit dem Stoff in der Zurückgezogenheit des Reisetagebuchs hat seine natürliche Ergänzung und Entsprechung in der Öffentlichkeit der Klasse und schafft die Basis für ein Lernen in der Gemeinschaft. (Divergierender Vergleich)
- Der Text im Reisetagebuch zeigt, wo Astrid steht: Sie hat ein Gespür für die zu erwartende Grösse des gemeinsamen Nenners. Es fehlt ihr aber noch an Vertrauen ins eigene Denken: Sie bricht einen erfolgversprechenden Lösungsweg ab, obwohl der gefundene gemeinsame Nenner 26x18x16x14 nur noch viermal grösser ist als der kleinste. (Sicherung singulärer Spuren)
- Der Lehrer erkennt sofort, womit Astrid Probleme hat, und kann mit einer kurzen schriftlichen Rückmeldung eine individuelle Fortsetzung der Arbeit anregen und einleiten. (Formative Beurteilung)
Astrid hat sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten ernsthaft um eine Lösung des Problems bemüht. Ihre gute Leistung auf der Ebene des Problemlöseverhaltens wird nur erkennbar, weil sie ihren Lernweg in vorbildlicher Weise dokumentiert. Sie hat zwar das fachliche Ziel nicht erreicht, hat aber einen Leistungsnachweis auf der Ebene von fachunabhängigen, übergeordneten Bildungszielen erbracht. Wir rechnen ihr diese gute Leistung an: Sie wird auch die Zeugnisnote in Mathematik beeinflussen. Weil Astrid sich das Problem so zurecht legt, wie es ihr entspricht, ist sie nach Abschluss der Arbeit nicht frustriert, sie ist sogar gespannt auf die Lösungen der Mitschüler. Die Arbeit im Reisetagebuch ermutigt aber nicht nur leistungsschwächere Schüler, sie spornt auch die starken an, ihr Bestes zu geben. Ueli zum Beispiel hat das Ordnen der Brüche spielend geschafft und ist schon tiefer ins Thema eingedrungen. Davon zeugt sein erstaunlicher Kommentar (Abbildung 2), den er seiner langen Liste mit den korrekt geordneten Gängen beifügt. Ueli hat beim Lösen der Aufgabe ein persönliches Vorurteil überwunden und eine interessante Entdeckung gemacht. Das kommt in seinen gewundenen Äusserungen allerdings nur bruchstückhaft zum Ausdruck. Seine singuläre Sprachkompetenz ist den Ansprüchen des im Vergleich mit Astrids Überlegungen doch schon recht komplexen fachlichen Sachverhalts noch nicht gewachsen. Dieses Ungleichgewicht zu erkennen und für das Lernen fruchtbar zu machen, ist zwar eine schwierige, aber unerlässliche und befriedigende Aufgabe der Lehrperson. Dank der Transformation von Uelis Text in die reguläre Sprache wird seine brillante fachliche Leistung ebenso freigelegt wie sein sprachliches Defizit. Uelis befriedigende Erfahrung, in seiner beiläufigen Reflexion zu einer umfangreichen Mathematikaufgabe verstanden worden zu sein, stärkt nicht nur sein Vertrauen ins eigenständige Denken, sie ermutigt ihn auch, Entdeckungen weiterhin schriftlich niederzulegen und dabei dem Leser vielleicht ein paar weitere Schritte entgegenzukommen.
Abbildung 2: Ueli hat entdeckt, dass unser 18gänger mit seinen sechs hinteren Kettenrädern kein Modell für das 2stellige Zählen im Sechsersystem ist. Will man das Velo vom kleinsten bis zum grössten Gang durchschalten, darf man die vorderen Kettenräder nicht als übergeordnet betrachten und sie immer erst dann wechseln, wenn alle hinteren vom grössten bis zum kleinsten an der Reihe waren. Es ist also nicht wahr, dass die 2stellige Zahlenfolge 00, 01, 02, 03, 04, 05, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 20, 21, 22, 23, 24, 25 die Hierarchie der 18 Gänge wiederspiegelt. (Bei dieser Zählweise entsprechen den vorderen Ziffern 0, 1 und 2 das kleinste, mittlere und grösste vordere Kettenrad; den hinteren Ziffern 0, 1, 2, 3, 4, 5 entsprechen die hinteren Kettenräder, und zwar in der Reihenfolge vom grössten zum kleinsten.) In dieser abstrakten Schreibweise lautet - im Falle von Lukis Liegevelo - die korrekte Hierarchie der Gänge: 00, 01, 10, 02, 03, 11, 04, 20, 12, 05, 21, 13, 14, 22, 15, 23, 24, 25.
Individualisierung und Notengebung -
ein unlösbarer Widerspruch?
Das Projekt "Lernen auf eigenen Wegen", aus dem das Beispiel mit Astrid und Ueli stammt, sollte Möglichkeiten eines integrierenden und individualisierenden Sprach- , Mathematik- und Sachunterrichts aufzeigen, die im Rahmen der bestehenden Schulstrukturen realisierbar sind. Dazu gehören neben Jahrgangsklassen, Stundenplänen, traditionellen Fachgrenzen und baulichen Gegebenheiten auch die Selektion und die Leistungsbewertung mit Noten. All diese Randbedingungen beeinflussen den Unterricht an Gymnasien in verschärfter Form. So sind etwa Bemühungen um eigenständiges Lernen chancenlos, wenn sie sich nicht ins traditionelle System der Leistungsbewertung einbetten lassen. Das folgende Modell einer nicht-linearen, zweidimensionalen Leistungsbewertung lässt sich zwar mit der gängigen Praxis der Notengebung in Einklang bringen, enthält aber auch ein beträchtliches Potential für eine tiefgreifende Reform. Soll sich eine Reform nicht in Oberflächenkosmetik erschöpfen, muss sie von einer durch positive Erfahrungen überzeugten Lehrerschaft getragen werden, die in Anlehnung an Vertrautes den Leistungsbegriff schrittweise erweitert und neue Möglichkeiten des Lehrens und Lernens entdeckt hat.
Die Texte aus dem Reisetagebuch von Astrid und Ueli sind eine solide Basis für eine Bewertung, die Leistungen auf dem individuellen Lernweg anerkennt und das Verhalten beim Lösen fachlicher Probleme berücksichtigt. Astrids Leistung empfindet man spontan als "gut", auch wenn sie mit Uelis Leistung nicht direkt vergleichbar ist. Hätte Ueli in seinem Reisetagebuch nur die rechnerische Lösung präsentiert, ohne seiner fachlichen Einsicht Ausdruck zu verleihen, wäre seine Leistung bloss befriedigend, mehr nicht. Sein noch unbeholfenes sprachliches Gebilde dagegen zeugt von einem gedanklichen Wurf, den ohne die Verpflichtung zur Schriftlichkeit wohl nie jemand beachtet hätte. Solche Werturteile lassen sich ohne grossen Aufwand fällen, wenn man nur grob klassifiziert. Für die Beurteilung der Leistungen im Reisetagebuch haben sich in unserem Projekt die Wertungen "gut", "erfüllt", und "nicht erfüllt" - symbolisch dargestellt mit zwei, einem oder einem durchgestrichenen "Haken" - als praktikabel erwiesen. Für überraschende, originelle, ungewöhnliche Leistungen war das Prädikat "ein Wurf" (drei Haken) reserviert. Als "Wurf" kann selbstverständlich auch ein fruchtbarer Irrtum oder eine transparente Wissensodyssee ohne Resultat gelten, nicht aber eine Lösung nach konventionellem Muster. In unserem Beispiel erhält Astrid also zwei, Ueli dagegen drei Haken.
nicht erfüllt
erfüllt
gut
Wurf
√ √
√√
√√√
Im Reisetagebuch hat Astrid durchaus die Möglichkeit, Ueli zu überflügeln. In konventionellen Prüfungen dagegen, die wir zu den Produkten rechnen, ist Ueli der stärkere. In unserem zweidimensionalen Modell der Leistungsbewertung können sich Astrid und Ueli in zwei gleichberechtigten Wertsystemen bewegen: dem lernwegorientierten Generieren des Wissens und dem lernzielorientierten Herstellen von Produkten. In beiden Wertsystemen sind eigenständige Leistungen möglich. Durch eine spezielle Form der nicht-linearen Verrechnung von Noten aus konventionellen Prüfungen (Produkt) und Leistungen im Reisetagebuch (Weg) haben wir den Schülerinnen und Schülern Gelegenheit gegeben, ihre für das Fach relevanten Fähigkeiten dort unter Beweis zu stellen, wo ihre Stärken liegen. Einem Lernenden, der das Reisetagebuch als Werkstätte des geistigen Tuns optimal zu nutzen vermag, darf man eine gute Prognose stellen, auch wenn er sich im Vergleich mit seinen Klassenkameraden mit eher einfachen Sachproblemen befasst. Deshalb haben wir der guten Leistung im Reisetagebuch gegenüber der schwächeren Leistung in Prüfungen mehr Gewicht beigemessen. Entsprechendes gilt für den Lernenden, der in Prüfungen gute Leistungen erbringt, im Reisetagebuch dagegen Mühe bekundet. Seine guten Prüfungsleistungen wiegen mehr als seine vorläufigen Schwierigkeiten beim individuellen und selbständigen Problemlösen. Diese nicht-lineare, zweidimensionale Leistungsbewertung führte nicht nur zu einem fast vollständigen Abbau des Prüfungsstresses und in der Folge zu einem zweckmässigeren Verhalten beim Arbeiten unter Zeitdruck, sondern auch zu einer deutlichen Zunahme der freiwilligen Mitarbeit und des Interesses am Fach.
Wie Leistungen im Reisetagebuch mit Leistungen in Produkten gegeneinander abgewogen und schliesslich zu einer Zeugnisnote verrechnet worden sind, zeigt die folgende Tabelle. Sie ist in Anlehnung an das Weber-Fechnersche-Gesetz entstanden, das den Zusammenhang zwischen menschlichem Empfinden und physikalischen Reizen herstellt, und zeigt deutlich die beiden extremen Bereiche, in denen genügende Leistungen möglich sind (3).
Mittelwert der Hakenzahl (Weg) | ||||||||
0 | 0.5 | 1 | 1.5 | 2 | 2.5 | 3 | ||
1 | 1.0 | 2.0 | 2.5 | 3.0 | 4.0 | 4.5 | 5.0 | |
1.5 | 1.5 | 2.0 | 2.5 | 3.5 | 4.0 | 4.5 | 5.0 | |
2 | 1.5 | 2.0 | 3.0 | 3.5 | 4.0 | 4.5 | 5.0 | |
2.5 | 2.0 | 2.5 | 3.0 | 3.5 | 4.0 | 4.5 | 5.5 | |
Mittelwert der | 3 | 2.0 | 2.5 | 3.5 | 4.0 | 4.5 | 5.0 | 5.5 |
Produktnoten | 3.5 | 2.5 | 3.0 | 3.5 | 4.0 | 4.5 | 5.0 | 5.5 |
4 | 3.0 | 3.5 | 4.0 | 4.0 | 4.5 | 5.0 | 5.5 | |
4.5 | 3.5 | 3.5 | 4.0 | 4.5 | 5.0 | 5.0 | 5.5 | |
5 | 4.0 | 4.0 | 4.5 | 4.5 | 5.0 | 5.5 | 6.0 | |
5.5 | 4.5 | 4.5 | 5.0 | 5.0 | 5.5 | 5.5 | 6.0 | |
6 | 5.0 | 5.5 | 5.5 | 5.5 | 6.0 | 6.0 | 6.0 |
Wegnoten und Produktnoten können, wie das Projekt gezeigt hat, erheblich voneinander abweichen. Leistungsstarke Schüler können Leistungen erbringen, die im Vergleich mit ihren Klassenkameraden gut, relativ zu ihrer Leistungsfähigkeit aber schlecht sind. Die Schule erweist ihnen einen schlechten Dienst, wenn sie diese Differenzierung nicht vornimmt, weil sie dann vorhandene Begabungen nicht fördert und Leistungsreserven brachliegen lässt. Aber auch die leistungsschwächeren Schüler kommen nicht auf ihre Rechnung, wenn ihre Leistungen nicht differenziert beurteilt werden. Wenn die Lehrperson nicht erkennt, dass eine Leistung im Vergleich zur Norm zwar schlecht, relativ zur Leistungsfähigkeit des Lernenden aber gut ist, untergräbt sie dessen Leistungswillen und lässt ihn orientierungslos im diffusen Gefühl des Ungenügens hängen. Er verliert die Möglichkeit, seine eigene Leistung realistisch einzuschätzen und zu verbessern, und er wird früher oder später auch die Leistungen verweigern, die er ohne weiteres erbringen könnte.
Bei diesem nicht-linearen, zweidimensionalen Bewertungssystem handelt es sich um einen Versuch, der individuellen Leistungsentwicklung gerecht zu werden, ohne überindividuelle Massstäbe aus den Augen zu verlieren. Dass schliesslich die Bewertung der Schülerleistung im Zeugnis auf eine einzige Zahl verkürzt wird, mag unter verschiedenen Gesichtspunkten unbefriedigend erscheinen. Wir sehen darin keine abschliessende Lösung der Notenproblematik, wohl aber eine deutliche Verbesserung gegenüber dem linearen, eindimensionalen Bewertungssystem, das nur ungenügende Anreize für singuläres Gestalten und individuelle Leistungsfortschritte schafft.
Zu den Autoren
Urs Ruf, Dr. phil., geboren 1945 in Olten. Lehrer für Deutsch und Philosophie an der Kantonsschule Zürcher Oberland und Lehrbeauftragter am Real- und Oberschullehrerseminar Zürich.
Peter Gallin, Dr. sc. math., geboren 1946 in St. Moritz. Lehrer an der Kantonsschule Zürcher Oberland und Lehrbeauftragter für Fachdidaktik der Mathematik an der Universität Zürich.
Seit 1980 sind die beiden Autoren gemeinsam in der Weiterbildung der Gymnasial- und Volksschullehrer tätig. Sie haben sich zum Thema Sprache und Mathematik in mehreren Publikationen geäussert.
(1) Die Szene stammt aus Peter Gallin/Urs Ruf: Sprache und Mathematik in der Schule. Auf eigenen Wegen zur Fachkompetenz. Illustriert mit sechzehn Szenen aus der Biographie von Lernenden,
Verlag Lehrerinnen und Lehrer Schweiz, Zürich 1990 (Auslieferung Lehrmittelverlag Zürich)
(2) Das Reisetagebuch steht seit bald 20 Jahren im Zentrum unseres Deutsch- und Mathematikunterrichts am Gymnasium. Seit 1980 stellen wir dieses Arbeitsinstrument auch in Kursen und Publikationen zur Diskussion (Tages Anzeiger vom 23. 9. 80; Gymnasium Helveticum, 1/82; Praxis Deutsch, Heft 70, 1985; mathematik lehren, Heft 9, 1985). Ausführliche Darstellungen individueller Lernprozesse, wie sie in Reisetagebüchern erkennbar sind, haben wir 1986 unter dem Titel "Lernen auf eigenen Wegen" in einer kleinen Auflage in Umlauf gesetzt. Dieses Manuskript bildete die Grundlage für das erwähnte Entwicklungsprojekt im Kanton Zürich. Wir wissen auch von einer ganzen Reihe von Kolleginnen und Kollegen, die ausserhalb unseres Projekts mit Reisetagebüchern arbeiten. Schöne Einblicke in mathematische Reisetagebücher hat Peter Geering 1989 in dieser Zeitschrift publiziert (Schweizer Schule 2/1989).
(3) Aus der Summe aller Haken, die ein Schüler im Laufe eines Semesters gesammelt hat, ist die mittlere Hakenzahl (h) pro Auftrag berechnet worden. Sie schwankt zwischen h = 0 und h = 3. Bezeichnet man den Mittelwert der Produktnoten mit P, so berechnet sich die Zeugnisnote Z durch folgende Formeln:
1. Aus h wird eine Wegnote W berechnet: W = 1 + 2.5·log2(h + 1)
2. Aus P und W berechnet sich die noch nicht gerundete Zeugnisbasis z:
z = W+P + 0.3 (W+P)2
2 12-W-P
falls W und P nicht zugleich 6 betragen
z = 6 , falls W = P = 6.
3. Schliesslich wird z auf die nächste halbganze Zahl Z gerundet.