Eine Beobachtung bei der Rezitation eines alten Gedichts
Wang Yanmei, eine Klassenlehrerin der vierten Klasse, schildert ihre Beobachtungen bei Kindern, die alte Gedichte rezitieren.
Nach Ankunft in der Schule, sangen und sprachen die Kinder jeden Morgen alte chinesische Gedichte im Morgenkreis. In der ersten und zweiten Klasse sprachen die Kinder im Chor, während sie sich im Rhythmus zu den Gedichten bewegten. Diese rhythmischen Bewegungen werden mit einem Gedicht, zwei bis drei Wochen lang wiederholt. In der ersten Klasse wird der Lehrer den Kindern die Bedeutung des alten Gedichts oder seinen Inhalt, zunächst nicht erklären, denn ein altes Gedicht ist ein Ganzes, und das Ganze ist wie ein vollständiges Bild. Das Sprechen im Chor bedeutet, das Bild mit Emotionen zu "malen", so wie die Kinder das alte Gedicht mit Emotionen im Morgenkreis erleben.
Aber ab der zweiten Klasse bat der Lehrer die Kinder, über ihre Gedanken und Gefühle zu sprechen, darüber, was sie von dem Gedicht hielten, was sie darin gefunden hatten, sei es Sehen, Hören, Riechen oder gar Schmecken. Durch die tagelange Wiederholung können die Kinder diese alten Gedichte leicht rezitieren; wie dieses zum Beispiel:
Reise im Gebirge
Du Mu(Tang Dynasty)
Weit entfernt auf dem kalten Berg, schlängelt ein Steinpfad sich nach oben,
In den weißen Wolken liegt ein Dorf, in dem die Menschen ihr Zuhause haben.
Ich halte die Kutsche an und ich liebe das Ahornholz am Abend.
Die gefrorenen Blätter sind röter als die Blüten des zweiten Monats.
Die Lehrerin erklärte und übersetzte das Gedicht nicht Wort für Wort, Satz für Satz, die Kinder sollen erst mit Gefühl das ganze Bild erleben. Danach bat die Lehrerin die Kinder, zu erzählen, was sie in dem Gedicht gesehen hatten. Einige Kinder sagten, sie hätten einen Berg gesehen, einige sagten, sie hätten einen Weg gesehen, einige sagten, sie hätten ein Haus gesehen, und einige sagten, sie hätten rote Blätter gesehen.
Bis eines Tages, auf dem Rückweg von einer Studienreise, die Kinder im Bus einen versteckten Bauernhof hoch an einem Berg sahen und eines der Kinder aufgeregt laut ausrief: "Schau, Weit entfernt auf dem kalten Berg, schlängelt ein Steinpfad sich nach oben, In den weißen Wolken liegt ein Dorf, in dem die Menschen ihr Zuhause haben.“ Und da sah ich, sah ich wirklich die 'weißen Wolken’ in dem Dorf ’in dem die Menschen ihr Zuhause haben'. Tatsächlich wollte das Kind sagen, dass ich das Bild in dem alten Gedicht gesehen hätte, und die Realität dieselbe war wie in dem alten Gedicht, das ich "sah".
Durch die Wiederholung und Erinnerung an das Gedicht, das Wiedererleben der Emotionen und das Warten auf einen passenden Moment können die Kinder durch sensorische Stimulation wie Sehen, Hören und Riechen die Bilder aus ihren Erinnerungen hervorholen.
In dritten Klasse können sie diesen Weg nutzen, um schneller mehr neue Gedichte zu lernen und zu verstehen. Dabei liest das Kind das sich scheinbar wiederholende Gedicht, imitiert die Stimme, den Ton und die Bewegung des Lehrers und erlebt die Emotion im Gedicht. Schließlich wird der Inhalt, der im Gedicht ausgedrückt werden soll, herausgearbeitet und findet ein Echo in der realen Szene. Über die emotionale Brücke gehen sie vom Wille zum Denken über.
Die Hilfe des Willens im Mathematikunterricht
Liu Lin, Klassenlehrerin der vierten Klasse, über Beobachtungen im Mathematikunterricht:
Liu Lin sagte, es gebe mathematische Aufgaben, die in mehreren Schritten gelöst werden. Wenn ein Kind das Einmaleins kennt, kann es diese Probleme zwar lösen, aber weil diese Aufgaben in vielen Schritten bearbeitet werden, müssen Kinder um genaue Lösungen zu erhalten sehr aufmerksam und geduldig sein. Wenn man also vierstellige Zahlen mit dreistelligen multipliziert, muss man viele Male multiplizieren. Die willensstarken Kinder können geduldig und sorgfältig rechnen, bis sie die richtige Lösung erhalten. Eines der Kinder, schien etwas ungeduldig zu sein, zu ungeduldig. Es neigte dazu, beim Rechnen Fehler zu machen, und seine Methode, die Aufgabe zu rechnen, war relativ einfach. Doch manchmal fehlte ihm die Geduld, auf die Methode anderer Kinder, eine Aufgabe zu lösen zu hören. Wenn man aber ihre Willenskraft stärkt, werden diese Kinder bei dieser Art von Aufgaben sehr geholfen sein.
Manche mathematischen Probleme haben mehreren Lösungswegen und bei solchen Aufgaben wird der Nutzen der Willenskraft der Kinder stärker hervortreten. Im Allgemeinen ist es einfacher, die Lösung einer Aufgabe auf dem Weg zu finden, den man am besten beherrscht. Wenn das Kind jedoch nicht mit immer nur einer Art der Problemlösung zufrieden ist, muss es weiter vermuten, versuchen und rechnen, bis es eine andere oder sogar mehr als eine andere Lösungsvariante findet. Es gibt auch viele Bereiche der Mathematik, die von den Kindern verlangen, dass sie ihr Gedächtnis stärken und üben, und nach vielen Wiederholungen werden sie dann sehr gut sein.
Nach ihrem Vortrag fragte ich Liu Lin, wie diese beiden Beobachtungen die Beziehung zwischen Denken und Wollen erklären könnten. Sie denkt, dass die Stärkung der Willenskraft Kindern helfen könne, konsequenter und tiefer zu denken.
Physik kommt aus der Lebenserfahrung
Lu Lu ist Klassenlehrerin der siebten Klasse, und in ihrem Beitrag geht es um Physik.
Wegen des neuartigen Coronavirus Ausbruchs haben die Kinder noch nicht mit dem Schulunterricht begonnen, Lu Lu ist zu Hause, um sich auf den Mechanikepoche der siebten Klasse vorzubereiten. Dabei kamen ihr diese Gedanken:
Die meisten Werkzeuge, die der Mensch benutzt, sind Verlängerungen des menschlichen Körpers, wie z.B. eine Schaufel, die wie eine Verlängerung des menschlichen Arms aussieht. Seit dem Kindergartenalter kann das Kind die Tür selbst schließen. Zunächst weiß es nicht, an welcher Stelle es leichter ist, die Tür zu schließen. Nach und nach wird es aber einen Punkt finden, an welcher Stelle es die geringste Kraft aufwenden muss. Das ist eine frühe Lebenserfahrung. Wenn das Kind älter wird, zum Beispiel in der sechsten Klasse, benutzt es eine Schaufel, und findet heraus, wo es leichter ist, die Schaufel zu halten, und wo es schwerer ist. Besonders in der siebten Klasse beginnt es, sich seines Körpers bewusster zu werden. Wenn der Boden bei der Arbeit mit der Schaufel schwer zu bearbeiten ist, wird es darüber nachdenken, wie es Werkzeuge einsetzen könnte, um im Ergebnis eine Arbeitserleichterung zu erreichen. So kommt das Kind von der Lebenserfahrung zum Denken. Ich hoffe, dass der Einstieg in die Mechanikepoche, leichter wird, wenn man von der Lebenserfahrung der Schülerinnen und Schüler ausgeht.
Auf meine Frage, was dieser Beitrag über das Denken und den Willen lehre, sagte sie, da sie diese Epoche noch nicht unterrichtet habe, könne sie nur sagen, dass das Denken nicht unabhängig existieren könne, und habe etwas mit dem Wille zu tun.
Wie Kinder Seilspringen
Die folgenden Beobachtungen stammen von Wang Dami.
Die jüngeren Kinder in der Grundschule sprangen in den Pausen oft mit dem Seil, und ich fragte ein Mädchen in der dritten Klasse, das vorwärts seilsprang: "Du machst das so gut. Kannst du mir beibringen das gekreuzte Seil vorwärts zu überspringen? Ich kann das nämlich nur rückwärts."
Tatsächlich hatte ich schon früher versucht, mitten in der Bewegung abzubrechen oder andere in Zeitlupe zu imitieren, aber es klappte nie. Ich blieb immer irgendwo stecken oder trat beim Vorwärtssprung auf das Seil oder sprang mit nur einem Fuß rüber.
Das Mädchen zögerte und sagte: "Schon, aber ich weiß nicht, wie ich Ihnen das Springen beibringen soll.“ Ich bat sie, langsamer zu werden, damit ich von der Seite zusehen könne. Aber als sie versuchte, langsamer zu werden, klappte es nicht mehr. Sie blieb im Moment des Übersprungs stecken, genau wie ich.
"Warum versuchst du es nicht selbst", sagte sie. Ich nahm das Seil, probierte in Gedanken die Bewegungen, die ich gerade gesehen hatte, und begann dann zu springen.
In diesem Moment wurde mir klar, dass ich meinen "Kopf" benutzte, um zu springen, und das neunjährige Kind sprang einfach. Als sie anfing, darüber nachzudenken, konnte sie es nicht mehr, und bei mir war es umgekehrt.
Ich ließ sie weiter springen. Im Falle des Sprungseils bleibt die Frage, wie Denken und Wille sich übertragen lassen unbeantwortet. Vielleicht finde ich eine Antwort, wenn ich so leicht springen kann wie sie.
All diese Beobachtungen sind vielleicht ein Prozess der Entdeckung und Erfahrung, aber wir stehen erst am Anfang.
Übersetzt von Gerd Stemann
Wang Dami, ist stellvertretende Klassenlehrerin an der Waldorfschule Chengdu in China. Sie hofft das Heranwachsen und die die Natur des Menschen, zu verstehen. Dabei hatte sie das Glück, der Anthroposophie zu begegnen, und wird die nächste Klasslehrerin einer ersten Klasse. Bei einer Pflanze dauert es etwa ein Jahr von der Aussaat bis zur Frucht. Diesen Prozess auf den Menschen zu übertragen, ist viel komplizierter und der Zyklus ist viel länger. Wie man diesen Prozess erkennen und unterstützen kann das ist es, was sie lernen möchte. Man kann sagen, dass ihr Interesse am Wachstum des Menschen und ihr Wunsch nach kontinuierlichem Wachstum ihre treibenden Kräfte sind.
Die Waldorfschule Chengdu ist die erste Waldorfschule in China. Sie wurde 1994 gegründet. Anders als Waldorfschulen in anderen Ländern wurde sie von Eltern gegründet. Aus Unzufriedenheit mit dem traditionellen Erziehungssystem und aus dem Wunsch heraus, dass ihre Kinder eine ordentliche Ausbildung erhalten sollten, entschieden sich die ersten drei Gründereltern eine Waldorfschule zu gründen. Bis heute haben sich viele Eltern aus den gleichen Gründen für die Waldorfpädagogik entschieden. In China, wo die Waldorfpädagogik noch relativ jung ist, schwanken die Eltern aufgrund eines unvollkommenen Bewertungssystems von Schülern und Lehrern zwischen der Erwartung, dass die Kinder eine humanistische Erziehung erhalten und dem traditionellen Bewertungssystem, was die Lehrer vor große Herausforderungen stellt, obwohl auch wir Bewertungen bereits durchführen. Eine weitere Herausforderung besteht darin, wie die traditionelle chinesische Kultur vermittelt werden kann. Anfangs unterrichteten die Lehrerinnen und Lehrer hauptsächlich westliche Geschichte und Kultur. Jetzt, 15 Jahre später, ist die Frage, wie man zur chinesischen Kultur steht, zu einem neuen Thema geworden.
* Der ‚Erste Lehrerkurs‘ umfasst die Vorträge von Rudolf Steiner zur „Menschenkunde“, „Methodisch-Didaktisches“ und „Seminarbesprechungen“. Die Kernfragen sind während der Jubiläumskonferenz zum ‚Ersten Lehrerkurs“ 2019 am Goetheanum entstanden. Ein Dankeschön für die Mitarbeit geht an Claus-Peter Röh, Leiter der Pädagogischen Sektion. Das Interview führte Katharina Stemann.