In den unteren Klassen der Waldorfschule werden die Kinder gebeten, die gleichen Texte von der Tafel abzuschreiben, die gleichen Rechenaufgaben zu addieren und zu subtrahieren, die gleichen Lernbeispiele in ihrem Epochenheft festzuhalten, die gleichen Gedichte aufzusagen und die gleichen Lieder zu singen. Jedoch widerspricht „das gleiche Bild zu malen“ unserer Idee eines freien künstlerischen Ausdrucks. Beim Malen erwarten wir, vielleicht, mehr als in den anderen Künsten, einen freien individuellen Ausdruck – einen einzigartigen künstlerischen Stil.
Stellen Sie sich eine Musikklasse von sieben- bis zehnjährigen Kindern vor, in der es erlaubt ist, dass alle gleichzeitig ihr je eigenes Lied singen. Das gäbe natürlich ein totales Chaos. Ein gemeinsames Lied zu wählen, gibt den Kindern einen Rahmen, innerhalb dessen sie nach und nach einen kreativen musikalischen Ausdruck entwickeln und ihre eigene Stimme finden können. So wie die Töne durch das regelmäßige Üben von geeigneten musikalischen Kompositionen gemeinsam in der Gruppe gelernt werden, so können Kinder auch die Farbtöne lernen, indem sie einfache Bildkompositionen wiedergeben. Die Malstunde sollte ein leiser Farbchor sein, in der jedes Bild in der Harmonie der ganzen Klasse mitschwingt.
Die Bilder einer Klasse mögen beim ersten Betrachten uniform erscheinen. Bei genauerem Betrachten entpuppen sie sich aber als recht unterschiedlich. Die Lehrkraft kann lernen, bei jedem Einzelnen nicht nur das Temperament, sondern auch den seelischen Zustand und die Lernschwierigkeiten zu erkennen. So kann auf behutsame künstlerische Weise ein Ungleichgewicht bearbeitet und die kindliche Aufmerksamkeit auf einfache technische Details gelenkt werden: zum Beispiel auf das Schwächen/Stärken oder Aufhellen/Verdunkeln der Farbe, die Wahl eines wärmeren oder kühleren Farbtons, das Trocknen oder Nässen des Papiers, das Beschleunigen oder Verlangsamen der Arbeit, das Mischen oder Trennen der Farben usw.
Auch wenn ein vorschneller Blick auf eine Malklasse scheinbar gleichartige Bilder feststellt, so findet die Lehrkraft, die ihre Schülerinnen und Schüler kennt, auffällige visuelle Hinweise auf die Befindlichkeit der Heranwachsenden und ihre Bedürfnisse.
Wenn also der Malunterricht nicht dazu da ist, dass die Kinder sich selbst verwirklichen oder einzigartige künstlerische Arbeiten erzeugen, wieso wird dann Malen überhaupt so regelmässig unterrichtet? Dieser Frage kann man wahrscheinlich am besten nachgehen, wenn man auf die erste Malstunde für Erstklässler schaut. (i)
Bild 2: Gelb/Blau und Gelb/Grün. Das ist die erste Malstunde die in der ersten Klasse einer Waldorfschule als Gruppenübung ausgeführt wird.
In der Vortragsreihe „Methodisch-Didaktisches“ (ii) empfiehlt Rudolf Steiner den Klassenlehrpersonen, ein großes Stück weißes Papier vor der Klasse aufzuhängen. Nun malt die Lehrkraft einen kleinen Flecken Gelb auf die weiße Oberfläche und lädt jedes Kind ein, nacheinander nach vorne zu kommen und ebenfalls einen kleinen Flecken Gelb zu malen. (iii) Sobald die Schülerinnen und Schüler ihren gelben Fleck mit Abständen nebeneinander gemalt haben, malt die Lehrkraft einen blauen Fleck neben den gelben. Die Schülerinnen und Schüler kommen wieder nacheinander nach vorne und tun das Gleiche. Wenn die Hälfte fertig ist, tauscht die Lehrperson Blau durch Grün aus, so dass der Rest einen grünen neben den gelben Fleck malen muss. Das Endergebnis ist ein grosser Papierbogen mit lauter gelben Flecken, davon hat die Hälfte blaue und die andere Hälfte grüne Flecken neben sich stehen (Bild 2). Steiner empfiehlt, dass die Lehrkraft nun sage: „Jetzt will ich euch etwas mitteilen, was ihr noch nicht ganz gut verstehen könnt, was ihr aber einmal gut verstehen werdet: was wir da oben gemacht haben, dass wir blau neben gelb gesetzt haben, das ist schöner, als was wir da unten gemacht haben, wo wir grün neben gelb gesetzt haben; blau neben gelb ist schöner als grün neben gelb!“ (iv)
Obwohl Steiner davon spricht, Blau und Grün „direkt neben“ Gelb zu stellen, ist die Wirkung dieselbe, wenn Gelb von Blau oder Grün umkreist wird. So können die Schülerinnen und Schüler rascher in die nächste Malstunde geführt werden, in der sie eigene Bilder mit von Blau umgebenden gelben Flecken anfertigen können. Damit jedes Kind die Erfahrung beider Anordnungen macht, können auch zwei große Blätter genommen werden, und jedes Kind kann Gelb auf ein Blatt malen und dann eines mit Blau und eines mit Grün umkreisen. So kann sich jedes Kind mit beiden Farbkombinationen vertraut machen.
Ich kenne eine Reihe von Lehrkräften, sowohl in England als auch in den USA, die beim Unterrichten dieser ersten Malstunde ausserstande waren zu sagen, dass „Blau und Gelb zusammen viel schöner sind als Grün und Gelb“. Immerhin ist es ziemlich eigentümlich, in der heutigen westlichen Gesellschaft so etwas zu sagen, denn der Volksmund sagt, dass „die Schönheit in den Augen des Betrachters liegt“. Wenn Kunstmuseen und Galerien Farbkleckse und Trümmerstapel als den neuen Goldstandard der Kunst verkaufen können, dann ist Schönheit zu einer subjektiven Erfahrung geworden. Es ist Teil unseres Zeitalters, die Schönheit im Hässlichen erblicken zu können. Wie kann es eine Lehrkraft wagen, zu behaupten, dass „Blau und Gelb schöner ist als Grün und Gelb!“ Jedoch sagt man nicht, dass Grün und Gelb nicht schön seien – sicher nicht. Sind wir aber in der Lagen, einen Unterschied zwischen Farbkombinationen wahrzunehmen, die als „schöner“ bezeichnet werden können?
Angenommen wir machen diese erste Malübung nur für uns als erwachsene Ästhetikstudenten – die Wissenschaft der gehobenen Sinneserfahrung. Male zwei gelbe Flecken und umkreise einen mit Blau und den anderen mit Grün (Bild 3). Wenn wir ein kühles Zitronengelb und ein kühles Kobaltblau nehmen, werden wir erkennen, wie hell das Gelb bei dieser Anordnung leuchtet. Schau nun genau auf das gleiche Gelb, wenn es von Grün umgeben ist! Es erscheint nicht so strahlend, vor allem wenn wir es in einem sehr gelbgrünen Umfeld betrachten. Tatsächlich erscheint das Zitronengelb nicht nur ein bisschen trüb in diesem Umfeld, sondern es sieht auch ein wenig matter und wärmer aus, als ob es sich an das tatsächliche Farbspektrum anlehne, hin zu einem warmen Gelb und weg von Grün. Es erscheint so, als ob das Grün die Strahlkraft und den Glanz dem Gelb entzieht, und auf sehr reale Weise geschieht genau das. Diese einfache Beobachtung enthüllt ein leicht käsiges Gelb, wenn es von Grün umgeben ist, aber warum?
Bild 3: Gelb umgeben von Blau, und Gelb umgeben von Grün kann uns helfen, die ästhetische Lektion dieser Malübung zu erfahren.
Grün ist eine Sekundärfarbe, die aus zwei Primärfarben, Gelb und Blau, besteht. Da Grün bereits Gelb in sich trägt, zeigt es keinen starken Kontrast zu dem reinen Gelb, so wie es Blau tut. Blau ist im Spektrum weiter von Gelb entfernt als von Grün. Es zeigt daher einen auffälligen Kontrast und verbessert eigentlich den individuellen Charakter von Gelb, genauso wie Gelb den blauen Charakter aufbessert, da beide Primärfarben sind.
Goethe beschrieb einander nahe Farben wie Gelb und Grün als „uncharakteristische“ Kombinationen und die, die einen Schritt weiter voneinander weg sind wie Gelb und Blau als „charakteristische“ Kombinationen. Im Sinne Goethes sagt Steiner, dass die Malstunde für die Erstklässler zeigt, wie Gelb und Blau in Kombination charaktervoller ist als Gelb und Grün, da letztere eine nicht charakteristische Kombination ist.
Bild 4: Der Farbkreis kann in drei unterschiedliche Gruppierungen von Farbkombinationen eingeteilt werden: nicht charakteristisch, charakteristisch und harmonisch - wie von Goethe beschrieben.
Komplementärfarben, die sich auf dem Farbkreis gegenüber stehen, bezeichnete Goethe als „harmonische“ Kombinationen, da sie die Gesamtheit des Farbkreises verkörpern (Bild 4). Daraus können wir schließen, dass Gelb und Lila sogar harmonischer sind als Gelb und Blau, die nur als Paar charakteristisch sind. In seiner Farbenlehre (v) beschreibt Goethe auch die Prinzipien der Gegensätze, so wie sie im Farbkreis erscheinen. Neben den Gegensätzen wie warm und kalt bei Rot und Blau, existieren die Gegensätze von Hell und Dunkel, wie durch Gelb und Blau beispielhaft gezeigt wird. Goethe entwickelte diese Theorie durch die direkte Beobachtung der Farbphänomene, so wie wir es auch tun könnten.
Was uns mit Blick auf die erste Malübung beschäftigt, ist:
Benachbarte Farben sind „nicht charakteristisch“, sie sind leidenschaftslose, einseitige oder enge Kombinationen – wie etwa Gelb und Grün;
Kontrastfarben sind „charakteristisch“, da sie eine größere Bandbreite des Farbkreis ausdrücken und den individuelleren Charakter jeder Farbqualität fördern und ausdrücken – so wie Gelb und Blau;
Zusätzlich drücken Gelb und Blau die Gegensätze von Hell und Dunkel innerhalb des Farbkreises aus, während Grün und Gelb das nicht tun.
Steiner kannte Goethes Farbbeobachtungen sehr genau, denn er bearbeitete Goethes wissenschaftlichen Ausführungen über eine Zeitspanne von dreizehn Jahren. Aber warum verwendet er das Wort schön in Zusammenhang mit Farbkombinationen? Nachdem man den eher gedämpften Charakter von Gelb und Grün beobachtet hat, könnte man geneigt sein zu sagen, dass Gelb und Blau „wahrer“ zueinander stehen, weil sie sich gegenseitig stärker ergänzen, als es Gelb und Grün tun; aber warum nannte er sie „schöner“? Das führt uns zu der Frage, was Schönheit in der Farbkunst ist. Steiner wollte sicherlich nicht sagen, dass Gelb und Blau zusammen hübscher sind, oder dass wir eine Farbkombination schöner finden sollen als die andere. Er schlägt aber vor, dass die Schönheit eine objektive Tatsache ist, die vermutlich erfahren und verstanden werden kann.
Betrachten wir die Definition von Schönheit des mittelalterlichen Wissenschaftlers Thomas von Aquin: „Für die Schönheit sind drei Dinge erforderlich: erstens eine gewisse Vollkommenheit oder Perfektion, denn alles, was unfertig ist, ist demnach hässlich; zweitens eine angemessene Aufteilung oder Harmonie; und drittens Klarheit, so dass leuchtend angemalte Dinge als schön bezeichnet werden können.“ Vielleicht stimmen wir einer solchen altmodischen Beschreibung heute nicht mehr zu, aber es ist doch interessant zu sehen, zu welchen Ergebnissen von Aquin kommt: Vollkommenheit, Harmonie und Klarheit.
Der griechische Philosoph Aristoteles beschreibt die Schönheit in einer ähnlichen dreiteiligen Charakterisierung von Ordnung, Symmetrie und Klarheit. Stimmen diese Merkmale nicht mit dem überein, was man am Beispiel der ersten Malübung beobachten konnte? Die gelb-blaue Beziehung repräsentierte eine größere Vollkommenheit im Farbkreis, vor allem da es eine Kombination aus Primärfarben ist. Gelb und Blau tragen auch zur Harmonie beider Farbtöne bei und stellen ein Gleichgewicht zwischen Hell und Dunkel her. Gelb und Blau zeigen in ihrer Beziehung zueinander eine grössere Klarheit oder Leuchtkraft. Sicherlich würde Thomas von Aquin mit Steiners Aussage übereinstimmen, dass Gelb und Blau „schöner“ ist als Gelb und Grün.
Am Ende fragen wir uns, ob objektive Schönheit überhaupt existiert. Gibt es eigentlich eine objektive Erscheinung von Schönheit, wenn wir ein Phänomen mit dem anderen vergleichen? Wenn die Lehrkraft darauf mit Nein antwortet, dann ist klar, dass sie es schwierig finden wird zu sagen, dass die eine Zusammenstellung „schöner“ als die andere ist. In diesem Fall kann die Klasse die Begegnung mit den Farben und den kreativen Malprozess ohne Schlussfolgerung genießen. Wenn wir jedoch mit Ja auf die Frage antworten, weil das, was wir beobachten, in den tatsächlichen Farberscheinungen wahr ist, dann erteilen wir in der ersten Malstunde zugleich die erste Ästhetiklektion. Dies ebnet den Weg zum Schönheitssinn, der noch ganz in der Gefühlswelt wahrgenommen wird und die Kinder für ein ästhetisches Urteil im Erwachsenenalter vorbereitet. „Dies wird tief in die kindliche Seele einwirken,“ so Steiner über diese Malübung. (vi)
Beachtenswert ist, dass Kinder kein Problem mit der Aussage „Gelb und Blau sind schöner als Gelb und Grün“ haben. Nur für das Denken der Erwachsenen klingt sie nach Bevorzugung und Vorurteil. Das Kind akzeptiert, was die Lehrkraft für richtig hält, vorausgesetzt die Lehrkraft hat das als eine Erkenntnis für sich selbst gewonnen.
Als unsere Erstklässler ihre erste Malstunde hatten und erzählt bekommen haben, dass sie eines Tages verstehen werden, dass Gelb und Blau schöner ist als Gelb und Grün, haben sie sofort geantwortet: „Oh, wir wissen Bescheid. Ja, wir kennen das. Es ist so wie mit der Sonne am blauen Himmel.“ Nachdem wir uns jedes Gelb, Blau und Grün vorne im Klassenraum angesehen hatten, meinte ein Mädchen: „Ja, aber Gelb und Grün ist auch schön, wie die Blumen im Gras.“ Dies führte zu einer wunderbaren Diskussion und war im wahrsten Sinne des Wortes eine erste Unterrichtsstunde in Ästhetik!
Etwas, mit dem wir Erwachsenen und Lehrkräfte oft Schwierigkeiten haben, ist, dass die Kinder sich in den ersten drei Klassenstufen nur mit Farben beschäftigen. In diesen frühen Jahren sollten die Kindern nicht mit Farbe zeichnen (außer bei der Einführung des Alphabets, wie unten aufgeführt), sondern mit Farben malen; eher Farbformen erzeugen als Dinge oder Objekte mit Linien darstellen. Sie sollten wahre abstrakte Expressionisten sein, nicht-figurative Farbpuristen, die nicht auf Objekte gerichtet sind. Das Malen sollte ein spielerisches Eintauchen in die Farbe sein. Für das Denken der Erwachsenen ist es schwer zu verstehen, wie dieses Spiel mit der Farbe zum Lernen beiträgt. Wir möchten die weltlichen Dinge klar fokussiert in all ihren Details und Umrissen sehen. Das kleine Kind jedoch möchte nicht unbedingt die genauen Details der physischen Welt verstehen. Wenn die Erst- und Zweitklässler das Malen von einfachen Farbflächen üben, von Flecken nebeneinander, umgebend und gegenseitig überlappend, so entwickeln sie ihren Farbsinn und ihr ästhetisches Gefühl. Diese freien Annäherungen an Formen und an das Malen bedeuten aber nicht, dass Kinder nicht irgendwann bei erkennbaren Formen ankommen, zum Beispiel bei einfachen Pflanzen-, Tier- oder Buchstabenformen.
„Gleich zu Beginn geben wir unseren jungen Schülern die Möglichkeit, mit den Farben künstlerisch umzugehen und das nicht nur mit Farbstiften, sondern auch mit Wasserfarben. Durch diesen einfachen Weg geben wir dem Kind etwas, wovon ausgehend die Buchstaben entwickelt werden können“ (vii), Steiners Beschreibung, wie man zu einem Buchstaben kommt, ist Teil eines Prozesses, der zum Beispiel mit einer Geschichte beginnt, welche die Lehrkraft erzählt – vielleicht von einem großen schönen Schmetterling (Englisch: big beautiful butterfly). Die Kinder bringen dann mit Farben einfache, sich verändernde Formen auf das Papier, bis sie letztendlich bei einer großen schönen Form eines Schmetterlings landen, dessen Flügel den Buchstaben B andeuten. Der Buchstabe B wird dann nochmals extra gezeichnet und geschrieben, aber als Teil der Geschichte vom „großen schönen Schmetterling“ (Bild 5). Zum Schluss lesen die Kinder ihre eigenen Geschichten vor, um den Kreis von einer mündlichen Geschichte über das Malen, Zeichnen, Schreiben bis hin zum Lesen zu schließen. Eine ähnliche Geschichte könnte man von der „stillen schlängelnden Schlange“ erzählen, vielleicht mit einer Umkehrung der gleichen Farbe, die die Anwendung von positiven und negativen Formen zeigt. Es ist dabei wichtig, dass die Formen nur langsam in ihre Endform kommen, fast wie durch Magie.
Bild 5: Gemalt werden verschiedene Farbkombinationen, auch uncharakteristische Paare (hier Gelb und Grün). So entstehen Bilder, die die Buchstaben in die lebendige Vorstellungswelt eines Erstklässlers bringen.
„Wenn wir das Schreiben bei den Kindern einführen, dann müssen wir...“ so Steiner, „in der Form von Bildern kommunizieren. Das ist jedoch nur möglich, wenn wir nicht damit anfangen, das Alphabet direkt einzuführen, noch es als Fach auffassen, sondern wenn wir mit dem Malen beginnen. Als Lehrer müssen wir fähig sein, in der Vorstellungswelt zu leben... zuerst eine Form mit der Farbe zu malen (das Kind von der Farberfahrung zur Form führen), woraus sich dann das Schreiben entwickelt. Erst dann führen wir das Lesen ein... Man findet, dass zwischen dem zweiten Zahnwechsel und der Pubertät der ganze Lehransatz im Bildlichen und in der Vorstellung liegen muss, und dies ist sicherlich möglich“ (viii).
Farben sind die lebendige Sprache der Natur und für den empfindenden Menschen sind sie ein entsprechendes Instrument für Gefühle. In der Malstunde hat man die Möglichkeit, die Wahrnehmungsorgane aus der Gefühlswelt zu entwickeln, sozusagen die Fähigkeit, Gefühle wahrzunehmen und eine emotionale Intelligenz zu entwickeln. In erster Linie werden die aufeinandertreffenden Farbbeziehungen über die Gefühle gewürdigt. Mithilfe dieser Erkenntnis werden neue seelische Fähigkeiten für qualitatives Abwägen, Bewertung und Balance entwickelt. Dies bildet unser Gefühlsleben für eine moralische Welt, für eine moralische Idee. Der ästhetische Farbsinn ist die Fähigkeit, im Herzen das abzuschätzen und ethisch zu betrachten, was schön ist. In der Mathematik wird eine schöne Gleichung wahrscheinlich als wahr erkannt. Ist es im Malen nicht genauso, dass eine wahre Farbbeziehung, eine Farbgleichung, eher schön ist?
Bild 6: Eine weitere Farbkombination nach Goethe ist das „Charakteristische“. Hier zeigt sich ein Sonnengelb umrandet von einem Himmelsblau und umgekehrt eine einzige blaue Wolke aufgemuntert durch eine sonnig-gelbe Umgebung.
Bild 7: Die „Umkehrübungen“ können verwendet werden, so wie hier in dieser harmonischen Anordnung, um saisonale Themen aus der Farbe hervorzubringen. Die harmonischen Anordnungen erfordern drei Farben nacheinander, um die zweifarbige Anordnung zu erreichen.
Zahlenbeziehungen werden oft als Aufgaben gelöst und jede Farbkombination sollte genauso als Aufgabe im Sinne von Beziehungen, Verhältnissen, Harmonie und Ästhetik betrachtet werden. Farbaufgaben sind auch soziale Aufgaben, da sie sich mit der Interaktion von Elementen, Qualitäten, Sinneseindrücken und dem Sein beschäftigen, welche auf eine bestimmte Weise miteinander reagieren. Die Malstunde sollte eine Zeit für das Lösen von Farbaufgaben sein. So kann sie ein Ort sein, um die Sprache der Natur und die Sprache der Seele zu lernen und um das grosse Potenzial des ästhetischen Farbsinns zu fördern.
„Die Farbe ist die Seele der Natur und des ganzen Kosmos und wenn wir die Farbe erfahren, dann nehmen wir an dieser Seele teil“ – Rudolf Steiner (x).
Van James ist Kunstlehrer an der Honolulu Waldorf School und am Kula Makua Teacher Training in Hawaii. Ausserdem ist er Gastdozent am Rudolf Steiner College in Kalifornien und am Taruna College in Neuseeland.
Dieser Artikel ist die ausführliche Version eines Artikels, welcher 2010 im Renewal Magazine erschienen war.
Aus dem Englischen von Katharina Stemann
i Im Kindergarten werden nur die Grundlagen erlernt, zum Beispiel wie man mit den Materialien umgeht oder dass an einem Bild nicht zu lange gearbeitet wird. Vor der ersten Klasse wird es in einer Waldorfschule keinen formalen Unterricht zu den Bildinhalten geben.
ii Steiner, R. (1990) Erziehungskunst. Methodisch-Didaktisches (II). Vierzehn Vorträge, Stuttgart 21. August bis 5. September 1919. Rudolf Steiner Verlag, Basel. Vierter Vortrag. GA 294
iii Vermutlich wurde als Vorbereitung mithilfe eines Verses oder einer kurzen Geschichte eine geeignete Stimmung in der Klasse geschaffen.
iv Steiner, R. (1990) Erziehungskunst. Methodisch-Didaktisches (II). Vierzehn Vorträge, Stuttgart 21. August bis 5. September 1919. Rudolf Steiner Verlag, Basel. Vierter Vortrag. GA 294. S.58
v Goethe, J.W. (2011) Goethes Farbenlehre. Imhof Petersberg Verlag
vi Steiner, R. (1990) Erziehungskunst. Methodisch-Didaktisches (II). Vierzehn Vorträge, Stuttgart 21. August bis 5. September 1919. Rudolf Steiner Verlag, Basel. Vierter Vortrag. GA 294
vii Steiner, R. Die pädagogische Grundlage der Waldorfschule, öffentlicher Vortrag in Aarau, CH, 11. November 1921
viii Ibid.
ix Steiner, R. (1989) Die Kunst des Erziehens aus dem Erfassen der Menschenwesenheit. Rudolf Steiner Verlag. Basel.
x Steiner, R. Die schöpferische Welt der Farbe. Vortrag vom 26. Juli 1914. Dornach