Das Erleben und Überwinden von Widerständen gehört existentiell zur Entwicklung unserer internationalen Waldorfbewegung dazu. Jede Waldorfschulgründung kennt das Phänomen, dass es gerade die aufkommenden Widerstände sind, die zur Bündelung der eigenen Kräfte, zu neuen Ideenbildungen und zu Verwandlungen führen. Im Rückblick auf manche Krise können Hindernisse in diesem Sinne auch als „Helfer“ erscheinen, neue Entwicklungskräfte in den beteiligten Menschen hervorzubringen. „Not macht erfinderisch“ heisst es in der deutschen Sprache. Für Rudolf Steiner war der Widerstand gegen das alte, gewohnte Denken seiner Zeit eine Notwendigkeit und ein Zeichen für die zukunftsweisende Qualität der neuen Schule: „Sie muss widerstreben; denn würde sie nicht widerstreben, so würde sie nicht in der Richtung der Zukunftsentwicklung arbeiten." (1)
Auch heute, fast drei Generationen weiter, stehen wir mit der Waldorfschulbewegung vor Hindernissen und Fragen des Zeitgeschehens, die uns herausfordern, Stellung zu beziehen. In den letzten Jahren wird von den Medien zum Beispiel stark die „Digitale Revolution im Klassenzimmer“ propagiert.
Komplexe „Beobachtungssysteme“ werden entwickelt, die aus unzähligen Daten nicht nur eine hohe Planbarkeit und Vorhersagbarkeit des Unterrichts versprechen, sondern auch eine „höchst individuelle“ Lernmethode. Der einzelne Schüler kann die Bilder der elektronischen Tafel dann per Knopfdruck verändern: „Mit einem Zoom auf die Alpen verschwindet die letzte Nostalgie im Klassenzimmer.“
Hier sind wir als Waldorfpädagogen herausgefordert, die Faszination einer solchen äusseren Bilderflut zu durchschauen und aus klarer Erkenntnis die Qualität innerer, lebensvoller Bilder von Mensch zu Mensch im Unterricht der jeweiligen Altersstufe weiter zu entwickeln.
Nur am Widerstand entwickelt sich die menschliche Persönlichkeit
Die Frage, wie wir als moderne Menschen gerade am Erleben von Widerständen Erkenntnisse und Handlungsimpulse gewinnen, kommt sehr stark im Drama von Goethe‘s Faust zum Ausdruck. Schon im Prolog beschreibt Gottvater, der Herr, dass der Mensch das Wirken des Mephisto braucht, um neue Kräfte daran zu entwickeln:
Der Herr: „Des Menschen Tätigkeit kann allzuleicht erschlaffen, (340)
Er liebt sich bald die unbedingte Ruh,
Drum geb ich gern ihm den Gesellen zu,
Der reizt und wirkt und muss als Teufel schaffen.“
In diesem Sinne hat Mephisto eine doppelte Wirkung: Er versucht einerseits den Menschen von seinem Weg abzulenken und zugleich ermöglicht er ihm dadurch eine neue Welt- und Selbsterkenntnis. So sagt Mephisto auf die Frage, wer er sei: (1335) „Ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“
Je klarer Faust in sich selbst den Abgrund zwischen den erhebenden göttlichen Kräften und dem erniedrigenden Wesen des Mephistopheles erkennt, desto stärker bildet sich in ihm der Wille, diesen Abgrund durch eigene menschliche Aktivität zu überwinden.
Am Ende des ersten Dramas muss Faust im „Kerker“ schmerzlich erfahren, dass sein Erwachen und sein Handeln für Gretchen zu spät kommen. In der stetigen Auseinandersetzung mit Mephisto hat er durch Höhen und Tiefen hindurch aber seine Urteils- und Initiativraft so verstärkt, dass er ihm in den nachfolgenden Szenen des Faust II. nun freier, selbständiger und initiativer gegenübertritt. Ein solches Erstarken der Persönlichkeit durch die faustische Begegnung mit Gegenkräften schildert R. Steiner als Urbild des modernen Menschen:
„Dieses Hin- und Herpendeln des Menschen zwischen Ahriman und Luzifer muss schon stattfinden, sonst könnte sich die menschliche Persönlichkeit nicht entwickeln. ... Nur am Widerstand entwickelt sich die menschliche Persönlichkeit. Selbst an unserem Leibe entwickelt sich die Persönlichkeit am Widerstand.“ (2)
Erwachen am Widerstand der Wesensglieder
Blicken wir nun auf die Wirkung von Widerständen in unserer pädagogischen Arbeit, so zeigt sich ein erstes menschenkundliches Urbild beim täglichen Aufwachen im und am Leib: Ich und Astralleib als „allerbeste Freunde“ durchdringen an jedem Morgen den Widerstand des physischen und des ätherischen Leibes, die ebenfalls tief miteinander verbunden sind. Da diese Durchdringung im Kind noch nicht zusammenstimmt, wird im 1. Vortrag der Allgemeinen Menschenkunde als Grundaufgabe der Erziehung die schrittweise Harmonisierung der Geist-Seele einerseits und des Körperleibes andererseits beschrieben.
Im Blick auf die kindliche Entwicklung ist nun zu beobachten, dass Schüler in ganz individueller Weise ihre Widerstände an den Wesensgliedern erleben. Stellen wir uns z.B. einen Jungen vor, der am Morgen besonders stark am physischen Leib anstösst: Einerseits wacht er schwer und langsam auf, andererseits aber wird er durch dieses Anstossen sehr früh wach in seinen Gedankenkräften.
Oder stellen wir uns ein Mädchen vor, das sich mit ihrem Ich immerzu in einer Auseinandersetzung mit ihrem sehr starken Astralleib befindet: Sie wacht leicht auf und trägt, beflügelt vom astralischen Leib, eine heitere, staunende, oft kaum zu bremsende Sinnes- und Erlebnisfreude in den Tag. Ihr fällt es leicht, sich über das Gefühl freudig mit allem Bewegten und Rhythmisch Musikalischen zu verbinden. Gilt es aber, sich ganz auf eine stille, besinnende Tätigkeit zu konzentrieren, erlebt sie ihre astralische Bewegungsfreude als grossen Widerstand.
Auch an uns selbst beobachten wir als Lehrer, dass wir jeder in eigener Weise Widerstände in uns selbst überwinden und dass diese Überwindung das individuelle Freiheitsgefühl, die seelische Gestimmtheit und unsere Initiativkraft beeinflusst: Entschliesse ich mich zum Beispiel, eine mir über Jahre vertraut gewordene Unterrichtsgewohnheit in einer nächsten Klasse zu verändern, steht mir die alte Gewohnheit solange als kräftiger Widerstand des Ätherleibes gegenüber, bis sich die neue Gestaltung verankert hat.
Die andere Seite des Ich in den äusseren Widerständen
Jene inneren Widerstände beschreiben nur die eine Seite des pädagogischen Lebens. Indem wir mit unseren Sinnen, unserem Interesse und unseren Handlungen auf die Welt und auf äussere Widerstände zugehen, können wir eine rätselhafte Entdeckung machen: Selbst, wenn wir es vielleicht anfangs nicht wahr haben wollen, erkennen wir doch immer stärker, dass die Erlebnisse, Herausforderungen und auch Schwierigkeiten, denen wir in der Schule begegnen, in tiefer Weise mit uns selbst zu tun haben. Es erscheint sogar so, als kämen wir uns selber im äusseren Schicksal entgegen.
Dieses sich selbst in der Begegnung mit dem anderen Menschen und der Welt neu wiederfinden wird von Martin Buber mit den Worten ausgedrückt: „Der Mensch wird am Du zum Ich.“ Gerade als Waldorflehrer kann uns jeder einzelne Schultag herausfordern, so in der Liebe zum Handeln zu leben, dass wir uns im Unterricht und im Schulgeschehen von unserem Gewohnheitsmenschen lösen und ganz in der Tätigkeit und in den Begegnungen aufgehen. Geschieht diese Hingabe im Sinne der Philosophie der Freiheit aus individueller Intuition, aus freier Überzeugung, so realisieren sich damit Schritte der Selbstfindung im sozialen Geschehen. Steiner beschreibt dieses als eine zukünftige Stufe des Menschseins: „So steuert der Mensch auf das soziale Zeitalter zu, dass er in Zukunft sagen wird: Mein Selbst ist bei all denen, die mir da draussen begegnen; am wenigsten ist es da drinnen.“ (3)
„Werde ein Mensch mit Initiative“
Das Erleben der inneren Betroffenheit in der Uneinheitlichkeit, in der Diskrepanz gegenüber dem Ideal verwandelt sich mit dem ersten Ergreifen der Initiative oft unmittelbar in eine neue Tragekraft und in ein neues Vertrauen. Offensichtlich verbinden wir uns in der Willens-Initiative ganz mit der werdenden, noch in der Zukunft liegenden Seite unseres Ich.
Im Karma-Band III. beschreibt Steiner die biographische Bedeutung der Entwicklung von Initiative an Hindernissen mit folgenden Worten: “Werde ein Mensch mit Initiative, und siehe nach, wenn du aus Hindernissen deines Körpers, oder aus Hindernissen, die sich dir sonst entgegenstellen, den Mittelpunkt Deines Wesens mit der Initiative nicht findest, wie im Grunde genommen Leiden und Freuden bei dir von diesem Finden und Nichtfinden der persönlichen Initiative abhängen.“ (4)
Mit dem Thema dieser Welt-Lehrer-Tagung „Gewinnen am Widerstand – Mut zu freiem Geistesleben“ möchten wir in diesem Sinne an der Weiterentwicklung unserer freien menschlichen Initiativkraft arbeiten.
Claus-Peter Röh, geboren am 15.12.1955. Nach dem Studium der Pädagogik war er von 1983 an als Klassen-, Musik- und Religionslehrer an der Freien Waldorfschule in Flensburg tätig. Neben der Unterrichtstätigkeit arbeitete er als Gastdozent an der Pädagogischen Hochschule in Flensburg und gab Kurse an verschiedenen Lehrerseminaren in
Deutschland. Seit 1998 ist er Mitglied im Initativkreis der Pädagogischen Sektion in Deutschland. Im September 2010 wechselte er zur Pädagogischen Sektion am Goetheanum in Dornach/CH über. Ab Januar 2011 in Kooperation mit Florian Osswald Übernahme der Sektionsleitung. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Quellen
(1) Steiner, Rudolf: "Die Waldorfschule und ihr Geist". GA 297. S.40.
(2) Steiner, Rudolf: "Faust, der strebende Mensch". GA 272. S. 310.
(3) Steiner, Rudolf: "Wie kann die Menschheit Christus wiederfinden?" 4.Vortrag 27. Dezember 1918. GA 187. S. 80f.
(4) Steiner, Rudolf: "Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge". Karma-Band III. 10. Vortrag. S.151.