Von Goethes Text <link http: de.wikisource.org wiki der_versuch_als_vermittler_von_objekt_und_subjekt>“Der Versuch als Vermittler zwischen Objekt und Subjekt” und Rudolf Steiners Darstellung “Goethe und die platonische Weltansicht” (in: Goethes Weltanschauung, GA 6, Kap.4), liess ich mich anregen, daraus eine Idee zu entwickeln, wie Kindergarten einmal anders dargestellt werden könnte. Die Aufforderung, eine lebendige Anschauung von den Kindern zu bekommen, hat mich vom Gesichtspunkt des Versuchs angeregt, mich als “Forscherin” zu entwickeln und zu betätigen.
Forschung im Allgemeinen und Versuche im Speziellen benutzen in der Regel den Dreischritt von Vorbereitung, Durchführung und Auswertung als Grundgerüst. Ich war mir von Anfang an im Klaren, dass mein Forschen nur punktuell sein kann, dass weder eine umfassende Vollständigkeit anzustreben noch eine abschliessende Auswertung möglich ist. Dennoch versuche ich, mich auf einige Textstellen näher einzulassen.
… die Menschen sollen als gleichgültige und gleichsam göttliche Wesen suchen und untersuchen, was ist, und nicht, was behagt. So soll der echte Botaniker weder die Schönheit noch die Nutzbarkeit der Pflanze rühren, er soll ihre Bildung, ihr Verhältnis zu den übrigen Pflanzenreichen untersuchen; und wie sie alle von der Sonne hervorgelockt und beschienen werden, so soll er mit einem ruhigen Blicke sie alle ansehen und übersehen und den Massstab zu dieser Erkenntnis, die Data der Beurteilung, nicht aus sich, sondern aus dem Kreise der Dinge nehmen, die er beobachtet... sobald wir einen Gegenstand in Beziehung auf sich selbst und in Verhältnis mit anderen betrachten und denselben nicht unmittelbar entweder begehren oder verabscheuen, so werden wir mit einer ruhigen Aufmerksamkeit und bald von ihm, seinen Teilen, seinen Verhältnissen einen ziemlich deutlichen Begriff machen können. Je weiter wir diese Betrachtungen fortsetzen, je mehr wir Gegenstände untereinander verknüpfen, desto mehr üben wir die Beobachtungsgabe, die in uns ist. Wissen wir in Handlungen diese Erkenntnisse auf uns zu beziehen, so verdienen wir klug genannt zu werden...i
Diese Aufforderung Goethes hat auch heute ihre aktuelle Gültigkeit. Für uns als forschende Pädagoginnen und Pädagogen kann sie Zugang sein zu einer unvoreingenommenen inneren Haltung, mit der wir den heutigen Kindern begegnen möchten. Wie oft sind wir in unserer Wahrnehmung selektiv, das heisst, wir betrachten entweder nur dasjenige, was uns behagt oder eben nicht behagt.
Ich muss mir einen Raum schaffen, der frei ist von allen gemachten Erfahrungen und Erkenntnissen, und schon allein diese Tatsache bringt meine innere Aktivität in eine unmittelbare, fast intime Nähe zu den Kindern. Ich kann aber bemerken, dass mir durch diese strenge innere Vorgabe gewisse Erscheinungsformen im Spiel, die ich zuvor nicht in dieser Deutlichkeit erkennen konnte, ganz anders zeigen.
So kann ich plötzlich die Bewegungen, die während des Freispiels im Raum stattfinden, aufnehmen und feststellen, dass es gezielte und „sinnlose“ Bewegungen gibt. Dies ist für mich keine neue Erkenntnis – neu ist, dass ich durch die längere Beobachtungszeit die „gezielten“ und die „sinnlosen“ Elemente in ein Verhältnis zueinander setzen kann, was sehr erhellend ist. Plötzlich sehe ich gewisse Vorgänge und Abläufe mit ganz anderen Augen an, und die Kinder stehen viel stärker in ihrer Wesenheit vor mir. Es entsteht gleichsam ein Gewebe, welches sich wie ein atmendes Gebilde darstellt.
Interessant ist zudem auch die Wirkung der gemachten Beobachtungen auf mich: Die Kinder erscheinen mir nebst den ausgeführten Bewegungsmustern ganz stark in ihrer ganzen Körperdynamik, im Blick, der einmal mehr nach innen, einmal mehr nach aussen gerichtet ist. Weitere Aspekte der Forschung könnten das Spielmaterial, die Themen der Spielinhalte, die Spielpartnerschaften eines jeden Kindes sein, um zu einer umfassenderen Anschauung zu kommen. Ich liess zunächst einmal die gemachten Beobachtungen stehen, sodass sie auf mich wirken konnten, und das einzelne Kind hinterliess einen starken Eindruck auf mich.
Was mache ich nun mit den gemachten Erfahrungen?
… man kann sich daher nicht genug in Acht nehmen, aus Versuchen nicht zu geschwind zu folgern: denn beim Übergang von der Erfahrung zum Urteil, von der Erkenntnis zur Anwendung ist es, wo dem Menschen gleichsam wie an einem Passe alle seine inneren Feinde auflauern, Einbildungskraft, Ungeduld, Vorschnelligkeit, Selbstzufriedenheit, Steifheit, Gedankenform, vorgefasste Meinung, Bequemlichkeit, Leichtsinn, Veränderlichkeit und wie die ganze Schar mit ihrem Gefolge heissen mag, alle liegen hier im Hinterhalte und überwältigen unversehens sowohl den handelnden Weltmann als auch den Stillen, vor allen Leidenschaften gesichert scheinenden Beobachter....ii
Ich habe schon zuvor geschildert, wie ich mir willentlich einen inneren „leeren“ Raum schaffen muss, und dennoch gesellten sich die Feinde wieder gleich zu mir. Wie schnell doch stellen sich uns Begriffe wie „schwach ausgebildete Basalsinne“, „zu stark im Kopf“, „nicht eintauchen können“ etc. ein. Ich möchte diese Begriffe, die ja gemachten Beobachtungen und Feststellungen entspringen, nicht schmälern und infrage stellen, auch ich bewege mich darin. Ich möchte aber anregen, dass Erziehende doch wagen mögen, sich in einen leeren oder offenen Raum zu begeben, sich der vorurteilslosen Beobachtungs- und Wahrnehmungsweise zu nähern, ohne immer gleich ein Resultat erwarten zu wollen.
Das schon erwähnte „atmende Gewebe“ eröffnet mir eine ganz neue Dimension, mich den Kindern, ihrem Wesen und den Erscheinungsformen desselben zu nähern. Ich kann das Wahrgenommene viel stärker „einfach stehen lassen“ indem ich es als Erscheinung anerkenne. Und dadurch steht das Wesenhafte viel unmittelbarer vor mir, es wird sozusagen greifbar.
In der Schilderung tönt dies ganz unspektakulär, ja fast banal. Doch alle, die sich einmal in offene Räume begeben haben, wissen, dass es auch einiges auszuhalten gilt, da das Resultat nicht immer unmittelbar greifbar ist. Ein anderer Aspekt am Eröffnen neuer Zugänge ist, dass Raum und Zeit geschaffen werden, um das Kind wirklich anzusehen und es in seiner Wesenheit aufzunehmen, rein dadurch, dass ich es betrachte. Dadurch kann das Bild vom Kind, welches ich von ihm habe, durch seine Wesenheit wieder genährt und belebt werden.
Alle unsere Vorstellungen von Erziehung werden durch solch eine vorurteilsfreie Betrachtungsübung auf ein für jeden Erziehenden zu leistendes Mass reduziert, da die Aufmerksamkeit gerichtet ist – im geschilderten Fall auf den leeren Raum -, und dies kann befreiend und entlastend wirken. Wir setzen uns nämlich oftmals selbst unter Druck, was wir alles zu leisten haben.
...der Mensch erfreut sich nämlich mehr an der Vorstellung als an der Sache, oder wir müssen vielmehr sagen: der Mensch erfreut sich nur einer Sache, insofern er sich dieselbe vorstellt; sie muss in seine Sinnesart passen, und er mag seine Vorstellungsart noch so hoch über die gemeine erheben, noch so sehr reinigen, so bleibt sie doch gewöhnlich nur ein Versuch, viele Gegenstände in ein gewisses fassliches Verhältnis Verhältnis zu bringen, das sie, streng genommen, untereinander nicht haben; daher die Neigung zu Hypothesen, zu Theorien, Terminologien und Systemen, die wir nicht missbilligen können, weil sie aus der Organisation unseres Wesens notwendig entspringen....“iii
Robert Walsers' Zitat „im Alltäglichen ruhen die Wahrheiten“ hilft mir immer wieder aufs Neue, mich nicht von – oftmals selbst auferlegten – Ansprüchen erdrücken zu lassen.
Im Unspektakulären anzusetzen ist oftmals wirksamer als allzu hohe und allzu hehren Zielen und Idealen folgen zu wollen. Kann eine Geste der Absichtslosigkeit geschaffen werden, kommt einem der Zauber des Moments entgegen, der zart, huschend und auch poetisch sein kann. Wird dieser Moment von uns Erziehenden ausgehalten, kann sich eine neue Kultur des Fragens entwickeln, die sich der gestellten Aufgabe gegenüber öffnend annähert und dadurch die Gefahr, schnell zu holzhammerhaften Hypothesen und Theorien zu greifen, abbaut. In der Arbeit mit den Eltern kommt mir eine neue Fragekultur als fruchtbare Möglichkeit zu Hilfe, da durch sie auch die Kultur der gegenseitigen Wertschätzung auf gleicher Augenhöhe geübt werden kann.
Kinder in ihrer vitalen Forderung „ich will wahrgenommen werden“ ernst zu nehmen, in ihrer unermesslichen Weltzugewandtheit und fast unerschöpflichen Energie anzunehmen, heisst Wesen und Erscheinung miteinander zu verbinden. Es heisst, Verbindung zum Kind aufzunehmen, in Beziehung mit ihm zu treten.
Wenn inneres Wesen hinüber fliesst in Erscheinung, sodass Erscheinung selbst das Wesen enthält, sprechen wir von „Wirklichkeit“... Rudolf Steiner
Kurzfassung des Kapitels “Wesen und Erscheinung” in: Schiller, H. (2008) Idee und Wirklichkeit. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
i J.W. Goethe. Der Versuch als Vermittler zwischen Objekt und Subjekt.
ii Ibid.
iii Ibid.