Der Begriff soziale Gerechtigkeit hat unterschiedliche Bedeutung. Für mich sagt er, dass alle Mitglieder der Gesellschaft als gleichwertig anerkannt werden im Hinblick auf ihre Verdienste, ihren Wert und ihre Bedeutung. Darüber hinaus sollte keine Gruppen innerhalb der Gesellschaft zum Nachteil anderer privilegiert werden, sei es aufgrund von Geschlecht, Klasse, Reichtum, Ressourcenbesitz, Kultur, Glauben oder Nicht-Glauben, Ethnie, sexueller oder geschlechtsspezifischer Orientierung, Bildung, körperlichen oder geistigen Fähigkeiten, philosophischen Überzeugungen oder anderen Unterscheidungsmerkmalen.
Die Waldorfpädagogik hat ihre Wurzeln in der von Rudolf Steiner erdachten Bewegung für soziale Erneuerung, der sozialen Dreigliederung. Diese Bewegung entstand in einer Zeit grosser sozialer Umwälzungen und Nöte nach dem Ersten Weltkrieg und der Russischen Revolution, aber heute befindet sich die Welt vielleicht in einer anderen Zeit grosser sozialer Not. Die Waldorfpädagogik ist das Kind dieser Bewegung, die in den letzten 100 Jahren grossen Erfolg und Akzeptanz gefunden hat. Es gibt wunderbare Beispiele von Waldorfschulen, die sich intensiv mit den Begriffen der sozialen Integration und der sozialen Gerechtigkeit beschäftigen. Viele Lehrerinnen und Lehrer erzielen bei ihrer Arbeit ebenso wunderbare Ergebnisse. Von den drei eigenständigen Bereichen der Bewegung für soziale Erneuerung, die Steiner nennt, gehe ich auf zwei näher ein: das Geistesleben und das Rechtsleben.
Rechtsleben und Geistesleben
Im Rechtsleben herrscht Gleichheit. In seinem Buch «Die Kernpunkte der Sozialen Frage» formuliert Steiner es so: «Im politisch-rechtlichen Staatsleben kommt er zu seiner rein menschlichen Geltung, insofern diese unabhängig ist von den Fähigkeiten, durch die er im freien Geistesleben wirken kann, und unabhängig davon, welchen Wert die von ihm erzeugten Güter durch das assoziative Wirtschaftsleben erhalten.» (1)
Für mich ist dieser Satz ein Aufruf zum Handeln, da viele Menschen in unseren Gesellschaften offensichtlich keine gleiche Stimme haben.
In dem, was Steiner das Geistesleben nennt, sind wir frei, alle verschieden, alle einzigartig. Ich möchte Freiheit im gleichen Sinne wie Bloom verstehen, wenn er sagt: «Freiheit verstand Steiner eher im spirituellen als im politischen Sinne. Jeder Mensch muss frei sein, um seine oder ihre Identität zu entwickeln.» (2)
Ich gehe davon aus, dass diese beiden Grundsätze von allen geteilt werden: dass also alle Menschen die gleiche Stimme haben sollten, einfach weil sie Menschen sind, und dass jeder Mensch die Freiheit haben sollte, seine eigene Identität zu schaffen. Aber Steiner sagt in «Die Kernpunkte der Sozialen Frage» auch, dass die Menschen ihre eigenen Motive und Impulse nicht immer richtig beurteilen (1), und darin liegt ein Problem.
Wir leben in einer Welt, in der soziale Gerechtigkeit nicht verwirklicht ist. Überall finden sich rassistisch motivierte Diskriminierung und Überfälle, religiöse Intoleranz, zunehmende Ungleichheit, die Notlage von Flüchtlingen und Immigranten oder die Unterdrückung von Minderheiten. Angst, Unterdrückung, Intoleranz und Misstrauen sind allgegenwärtig. Sexismus und Patriarchat sind unseren Gesellschaften ebenso wenig fremd, wie eine reiche Minderheit, die Macht ausüben darf über die weniger wohlhabende Mehrheit. Viele von uns sind in Gesellschaften aufgewachsen, die mehr oder weniger homophob und weiss-dominiert waren und in denen das Geschlecht als ein ausschliesslich binäres Konzept betrachtet wurde. Viele von uns sind in Gesellschaften aufgewachsen, in denen die indigenen Bewohner der Länder, in denen wir leben, oft an den Rand gedrängt, vergessen und nicht als Teil der aktuellen Entscheidungsprozesse eingebunden wurden.
Bildung – eine zweischneidige Angelegenheit
Wir dürfen allerdings nicht aus den Augen verlieren, wie all dies unser Denken, Fühlen und Handeln beeinflusst. Mit den Erfahrungen der Vergangenheit ist es schwierig, nicht von systemischem Rassismus, Sexismus usw. beeinflusst worden zu sein. Diese können uns unbewusst prägen und beeinflussen dann unsere Arbeit, ohne dass wir uns dessen bewusst wären. Bildung ist eine zweischneidige Angelegenheit: sie kann ermächtigen und befreien, aber sie kann ebenso gut dazu beitragen, die Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten unserer Gesellschaften zu reproduzieren. Wir mögen Menschen guten Willens sein, die in der Welt Gutes tun wollen. Aber sind uns die Dinge bewusst, die uns möglicherweise daran hindern?
Wen oder was betreffen die Vorurteile? Es geht um Unterschiede, um den Umgang mit dem Anderen, mit Menschen, die nicht wie wir sind (das können unterschiedliche Gruppen in verschiedenen Gesellschaften sein, oft aber sind es die gleichen). Sie können das nicht-dominante Geschlecht (also das weibliche), unterschiedliche Hautfarben, unterschiedliche Religionen, unterschiedliche Weltanschauungen und historische Perspektiven, unterschiedliche sexuelle Identitäten, unterschiedliche Ausdrucksformen des Geschlechts, Sprecher unterschiedlicher Sprachen, unterschiedlich gekleidete Menschen, Behinderte, Arme, Flüchtlinge, Obdachlose betreffen. Und die Liste endet hier nicht. Wenn es Steiners Ideal war, dass alle Menschen aufgrund ihres Menschseins eine gleichberechtigte Stimme haben, wie weit kommt das in der Gesellschaft, in der Sie leben, zum Ausdruck? Was lernen die Schülerinnen und Schüler über diese Gruppen innerhalb ihrer Waldorfausbildung? Ist das, was die Schülerinnen und Schüler lernen, differenziert und komplex genug?
Damit Menschen eine gleichberechtigte Stimme haben, ist es notwendig, dass wir uns als Lehrer klarmachen, auf welche Weise wir unbewusst und unbeabsichtigt diskriminieren und unwissentlich und ohne, dass wir es wollten, selbst voreingenommen sind (3). So können wir selbst erfahren, «was es bedeutet, bestimmte regressive Verhaltensweisen, Ideen, Gewohnheiten und Werte abzulegen, die die herrschende Kultur uns gewissermassen als zweite Natur auferlegt» (4). Ohne diesen ersten Schritt können sinnvolle Schritte, die wir mit dem Ziel sozialer Gerechtigkeit tun nur begrenzten Erfolg haben.
Kernpunkte der sozialen Frage
Die Wurzeln sozialer Gerechtigkeit in der Waldorfpädagogik sind lang und tief. Die Pädagogik wurde entwickelt, um die Gesellschaft zu erneuern. Schon möglich, dass dieser Impuls bis zu einem gewissen Grad überlagert wurde durch die unzähligen anderen Anliegen und Herausforderungen, mit denen Schulen und frühkindliche Einrichtungen konfrontiert sind.
Dieses ursprüngliche Ziel können wir im Lichte zweier kurzer Passagen von Steiner noch einmal überdenken. Die erste ist wieder aus «Die Kernpunkte der Sozialen Frage»: «Denn das Menschenleben ist mit der neuesten Zeit in einen Zustand eingetreten, der aus dem sozial Eingerichteten immer wieder das Antisoziale hervorgehen lässt. Dieses muss stets neu bewältigt werden» (1). Ein ähnliches Zitat stammt aus «Der Sturz der Geister der Finsternis», das ebenso anregend wie ernüchternd ist: «Und realisieren Sie, welches Recht Sie wollen, es kann noch so gut sein: im Laufe der Zeit wird es zum Unrecht. Es gibt nichts Absolutes auf dieser Welt. Das ist die Realität. Man strebe irgendein Gutes an – durch den Gang der Welt wird es ein Schlechtes. Daher muss immer neu und neu gestrebt werden, in immer neuen Gestaltungen gestrebt werden.» (5)
Inwieweit gilt dies für die akzeptierten Waldorfformen? Es gibt eine wohl dokumentierte Tendenz innerhalb der Waldorfpädagogik, das, was seither so gehandhabt wurde, als das zu akzeptieren, wie es ist, als das, was allgemein akzeptiert wird, und oft auch als das, wie es sein sollte. Gibt es in der heutigen Waldorfpädagogik «antisoziale Triebe», die neu bewertet werden müssen? Gibt es innerhalb der Waldorfpädagogik etwas, das dadurch, dass es nicht mehr zeitgemäss ist, nicht aktuell bleibt, indem es nicht immer wieder neue Formen findet, sozusagen zu etwas Unrichtigem geworden ist?
Ein abschliessendes Zitat von Steiner lenkt die Aufmerksamkeit auf den Begriff der Inklusivität. «Hiermit wird eine Tatsache berührt, über welche viele, die nur über das Proletariat denken können, nicht mit demselben, nur ganz verschwommene, ja in Anbetracht der ernsten Ereignisse der Gegenwart schädliche Urteile haben.» (1)
Wenn wir das, was Steiner hier über die Arbeiterklasse sagt, auf irgendeine Gruppe ausdehnen, müssen wir, wenn wir uns für soziale Gerechtigkeit einsetzen wollen, mit Gruppen arbeiten, nicht Dinge für sie tun oder sie belehren. Dies stellt die Vorstellung des wohlmeinenden, liberalen Lehrers als «Gutmenschen» in Frage, der den Entrechteten helfen will. Wie arbeiten wir mit marginalisierten Gruppen oder denken mit ihnen? Wir müssen sie nur aufsuchen, ihnen begegnen, müssen sie bitten auch Minderheitenstandpunkte in den Unterricht einzubringen, sie um ihren Rat bitten beim Verständnis der Komplexität alternativer Lesarten von Geschichte, Glauben und Weltanschauung.
Soziale Gerechtigkeit als Begriff versucht, gleiche Ausgangsbedingungen zu schaffen, die Entrechteten zu ermächtigen, die Vergessenen anzuerkennen und den Marginalisierten eine Stimme zu geben. Das ist herausfordernd und unbequem, aber auch lohnend, komplex und nicht auf schnelle Lösungen ausgerichtet. Vor allem ist es ein Prozess mit offenem Ende, ein Prozess, der, wenn er einmal begonnen hat, nicht aufhört und auf ein nicht realisierbares Ideal hinarbeitet, das dennoch angestrebt werden muss.
Schliesslich kann die Arbeit an einer sozial gerechten Erziehung mit dem Streben nach der Verkörperung von Aspekten der Bewusstseinsseele verbunden werden, wobei ich Elan Leibners Definition der Bewusstseinsseele (6) als «einfühlsame Seele» zugrunde lege. Für mich erfordert die Arbeit für soziale Gerechtigkeit, für Inklusion und Entkolonialisierung das man Empathie für den anderen hat. In sich selbst zu spüren, wie der Andere leidet, wenn er an den Rand gedrängt, unterdrückt, karikiert oder unsichtbar gemacht wird, und es nicht nur zu verstehen oder zu wissen, markiert den Beginn der Veränderung. Es ist ein wichtiger Schritt zur sozialen Erneuerung, die das Herzstück der Waldorfbewegung ist.
Neil Boland
Übersetzt von Gerd Stemann
Neil Boland ist Professor am Institut für Erziehungswissenschaften an der Auckland University of Technology, Neuseeland. Sein Forschungsinteresse gilt folgenden Bereichen: Steiners Angaben über Musik für kleine Kinder, die Kontextualisierung der Waldorfpädagogik in nicht-europäischen Kulturen und Ländern sowie Fragen der Lernbeurteilung. Seine Aufgabe umfasst die Verbindung zwischen der Waldorfbewegung und anderen pädagogischen Philosophien herzustellen.
Literatur
(1) Steiner, R. (1919/1920/1976). Die Kernpunkte der Sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft. GA 23. Rudolf Steiner Verlag Dornach.
(2) Bloom, J. (2017). One hundred years: In recognition of Rudolf Steiner’s threefold commonwealth
(3) Harvard University. (2019). Project implicit
(4) Giroux, H. (2019). Now is the time to break the spectacle of ignorance and violence
(5) Steiner, R. (1917/1977). Die spirituellen Hintergründe der äusseren Welt. Der Sturz der Geister der Finsternis, GA 177. Rudolf Steiner Verlag Dornach.
(6) Leibner, E. (2017). Between our demons and our gods: Human encounter in the light of anthroposophy. Paper presented at the AWSNA Summer Conference, Portland, OR.