Veilchenblau
Eckermann über Goethe:„Das Iod beschäftigte Goethe vorzugsweise; er sprach über diese Substanz mit einem Erstaunen, als ob ihn die neuen Entdeckungen der Chemie ganz unvermutet überrascht hätten. Er liess sich etwas Iod hineinbringen und verflüchtigte es vor unseren Augen an der Flamme einer Wachskerze.“1
VERSUCH 1: Wenige Körnchen Iod werden ins feuerfeste Reagenzglas gegeben und über der Kerzenflamme erwärmt
Hinweis: das Experiment lässt sich problemlos im Klassenzimmer in Vierergruppen durchführen.
BEOBACHTUNG: Intensiv violette Gase (Iod bedeutet veilchenblau) steigen auf und am Glas bilden sich dunkel glitzernde Kristalle.
Die Jugendlichen experimentieren selber, schauen genau hin und sammeln Beobachtungen. Es gilt: lange genug beim Phänomen bleiben – nur so erhalten Experimente das nötige Gewicht und die Stoffe „beginnen zu sprechen“. Am Anfang steht stets das Verstehen mit den Sinnen. Diesen Weg können wir als phänomenologisch bezeichnen. Die Jugendlichen dokumentieren ihre Beobachtungen in Bild und Text: ein interessantes Übungsfeld!
Feuerpilz
„Und als es mit Prüfen, Verhören und Zeugnis geben zu Ende war, war auch das Interesse an der Chemiestunde allerseits so gut wie erschöpft. Doktor Marotzke fing an, ein paar Experimente zu machen, ein wenig zu knallen und farbige Dämpfe zu entwickeln, aber das gleichsam nur, um den Rest der Stunde auszufüllen. Schliesslich diktierte er das Pensum, das für das nächste Mal zu lernen war.“
Aus: „Buddenbrooks“ von Thomas Mann
VERSUCH 2: 1-2 cm Kerzenwachsspäne werden ins nicht feuerfeste Reagenzglas gegeben und bis zum intensiven Sieden erhitzt. Das Reagenzglas wird in einen Plastikbecher mit Wasser getaucht.
Sicherheitshinweis: Die Lehrperson führt den Versuch in der Kapelle durch. Die Kapelle wird mit Zeitungspapier ausgelegt. Schutzbrille und Handschuhe tragen!
BEOBACHTUNG: Rauch steigt in die Höhe und brennt als oranger Feuerball ab.
Die Jugendlichen beobachten das spektakuläre Experiment: auch in kleinen Mengen Kerzenwachs sind grosse Kräfte gefesselt. Alltagsstoffe lehren uns das Staunen. Wiederum gehen wir den phänomenologischen Weg und beschreiben die Beobachtungen präzis. Das bedeutet: das Experiment verdient Raum und will ernst genommen werden.
Goethe: „Man kann sich nicht genug in Acht nehmen, aus Versuchen nicht zu geschwind zu folgern. Hier lauern dem Menschen seine inneren Feinde auf: Vorschnelligkeit, Selbstzufriedenheit…“2
Natürlich wollen die Jugendlichen die Gesetzmässigkeiten hinter den Phänomenen entdecken. Alters- und stufengerecht gilt es den Prozess zu begleiten und zu unterstützen. Das Vorgehen von Doktor Marotzke gilt es zu vermeiden. Zentral in der Chemie ist die Brücke zwischen Phänomen und Interpretation. Im Idealfall finden die Jugendlichen den Übergang selber.
Rudolf Steiner: „Ein abstrakter Begriff hat für sich keine Wirklichkeit, ebenso wenig wie eine Wahrnehmung. Erst der Zusammenhang der beiden ist die volle Wirklichkeit“.3
Mutprobe
„Ein Lehrer in Gambia sammelt Gedichte für den naturwissenschaftlichen Unterricht. Eines geht so: „Die Welt ist voll von tausenden von Dingen, wir können glücklich sein wie die Könige“. Im Laufe der Zeit werden die Kinder die Herrlichkeit schwinden sehen. Des Königs alte Kleider werden behutsam als Lüge entlarvt. In seiner Schatzkammer findet man nur noch Protonen, Elektronen und Neutronen in verschiedenen Mengen und Anordnungen.“
Aus „Der sinnliche Stoff“ von Mins Minssen
VERSUCH 3: 50ml Alkohol und dann 50ml Wasser werden in einen Messzylinder gefüllt.
BEOBACHTUNGEN: Es steigen Blasen auf, Schlieren bilden sich, das Gesamtvolumen beträgt
97ml und die Lösung erwärmt sich.
ZUSATZVERSUCH: Finger in die Lösung tauchen und Flüssigkeit an einer Kerzenflamme
entzünden.
Hinweise: Es darf nur das Alkohol-Wasser-Gemisch verwendet werden. Reiner
Alkohol führt zu Verbrennungen. Im Dunkeln ist das Experiment sehr attraktiv.
Der sinnliche Stoff: so könnte das Motto für Steiner Schul-Chemie lauten. Der Chemieunterricht bietet zahllose sinnliche Erlebnisse, die keine unnötigen Risiken bergen.
Die Teilchenvorstellung und das Denken in Modellen wird erst am Ende der Ausbildung stehen. Selbstverständlich muss der Übergang an weiterführende Schulen gut funktionieren.
Steiner Schul-Chemie stellt zu Recht Phänomene ins Zentrum. Am Ende ihrer Ausbildung sind die Jugendlichen einer breiten Palette von Lernfeldern begegnet. Sie haben Erfahrung im Umgang mit Chemikalien und Geräten, sie schauen genau hin, sie stellen selber die wesentlichen Fragen und dokumentieren ihre Einsichten in eigenen Worten. Der Erkenntnisgewinn ist individuell – entsprechend den persönlichen Möglichkeiten. Und die Jugendlichen sind sich bewusst: Materie bleibt ein Geheimnis. Rudolf Steiner spricht von der höchsten Hierarchie.
Zum Schluss – in phänomenologischer Tradition – eine Interpretation der Experimente.
AUSWERTUNG VERSUCH 1: Iod geht direkt vom festen in den gasförmigen Zustand über, es
sublimiert. Im kühlen Bereich des Reagenzglases wandeln sich die Gase in Kristalle um – wiederum überspringt Iod den flüssigen Zustand.
AUSWERTUNG VERSUCH 2: Durch den Temperaturschock beim Eintauchen erhält das Glas Risse. Wasser dringt ein und verdampft explosionsartig. Durch die starke Volumenzunahme beim Verdampfen wird das flüssige Wachs in kleinsten Tropfen ausgetrieben. Die Tröpfchen sind in einem reaktionsfreudigen Zustand und zünden spontan.
AUSWERTUNG VERSUCH 3: Beim Mischen von Flüssigkeiten unterschiedlicher Dichte treten
Schlieren auf. In Wasser gelöste Luft wird ausgetrieben und das Gesamtvolumen
ergibt neu 97ml.
AUSWERTUNG ZUSATZVERSUCH: Die Verdunstungskälte von Wasser kühlt beim Verbrennen.
Thomas Loosli, geboren am 15.03.1960, Dr. phil. nat.. Besuch der Rudolf Steiner Schule, Studium der Chemie an der Universität Bern. Von 1992-2010 Unterricht an der Steiner Schule Bern und Ittigen. Seit 1998 Lehrer am Gymnasium Köniz, ab 2009 Dozent für Fachdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz.
1 Eckermann, J.P. (1981) Gespräche mit Goethe. Frankfurt: Insel Verlag.
2 Goethe, J.W. Der Versuch als Vermittler zwischen Objekt und Subjekt. In: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, Bd.16. (1949) Zürich: Artemis Verlag
3 Steiner, R. (1894) Die Philosophie der Freiheit.
<link file:7>Zum Weiterlesen: Reader Chemie. Einarbeitungshilfe für den Aufbau des Chemie Unterrichtes an Freien Waldorfschulen. Zusammengestellt von Dr. Dirk Rohde.