Die drei Einsiedler
Zuerst erzähle ich Ihnen eine kurze Geschichte. Ich erzähle Ihnen Leo Tolstoi's Variante.
Drei russische Mönche lebten alleine auf einer einsamen Insel. Eines Tages stattete ihnen ihr Bischof einen Besuch ab. Dabei bemerkte er, dass die Mönche noch nicht einmal das Vaterunser beherrschten. Er verbrachte also seine Zeit damit, ihnen mühsam das Gebet des Herrn beizubringen und verliess sie dann, zufrieden mit dem, was er erreicht hatte. Als er mit dem Schiff den Rückweg übers Meer angetreten hatte, sah er plötzlich, wie die drei Mönche auf dem Wasser gingen und ihm folgten – tatsächlich rannten sie dem Schiff hinterher. Als sie es erreicht hatten, riefen sie: "Lieber Vater, wir haben das Gebet vergessen, das du uns gelehrt hast." Überwältigt von dem, was er sah, fragte der Bischof : "Liebe Brüder, wie betet ihr denn?" Sie antworteten: 'Wir sagen einfach: "Wir sind drei. Ihr seid drei. So es sei." Der Bischof war betroffen von ihrer Heiligkeit und Schlichtheit und sagte nur: "Geht in Frieden zurück auf eure Insel." (1)
An Tagungen besteht die Neigung, Wissen anzuhäufen. Wir alle kennen die Freuden und Tücken, die in den verschiedenen Stufen des Wissens liegen. In unseren Einrichtungen wollen wir heranwachsende Menschen dazu befähigen, Wissen so aufzunehmen, dass sie es sich zu eigen machen können.
Prisma und Stille
Wenn Sie in den nächsten Wochen oder Monaten an die Tagung denken wollen, nehmen Sie einfach das Prisma zur Hand, an das sie sich nun eine Woche lang gewöhnen konnten. Schauen Sie durch den Glaskörper. Je nach dem, bei welcher Beleuchtung und wie sie ihn halten, sehen sie Farben. Im Zusammenspiel von Licht und Glas entstehen Farben. Materie ist für das Licht eine Art Widerstand. An diesem Widerstand gewinnen wir Farben. Ist Ihre Welt vielleicht während der Tagung auch ein wenig farbiger geworden? Haben Sie während der Tagung auch Widerstände überwinden müssen und dabei neuen Mut geschöpft?
Machen Sie doch in den nächsten Tagen oder Wochen eine kleine Übung: Gehen Sie in sich, an einen Ort der Stille, und lassen Sie die Erlebnisse dieser Woche Revue passieren. Vielleicht erscheint Ihnen das Erlebte immer wieder in neuen Farben. Vielleicht treten die ersten, lauten Eindrücke mehr und mehr in den Hintergrund und das Leise, vorerst Unscheinbare leuchtet auf. Erlebnisse verändern sich im Laufe der Zeit. Wir wissen meistens nicht, welche Kraft in ihnen lebt. Wir befreien uns mit dieser kleinen Übung vom ersten Erscheinungsbild eines Erlebnisses und erarbeiten uns zunehmend seine wahre Gestalt.
Wir
Während dieser Woche lebte eine Frage in allen Arbeitsgruppen und Referaten: Wie bringen wir den Mut zu freiem Geistesleben auf oder wie bildet sich ein gesundes Wir?
Die Kultur des Wir verdient Beachtung. Sie ermöglicht Vieles, auch Bedenkliches. Was für ein Wir bildet sich in unserem Unterricht, in der kollegialen Zusammenarbeit, in der Schulgemeinschaft oder in der Gesellschaft? Sind wir wach für den Prozess der Wir-Bildung?
Am Anfang des ersten Lehrerkurses gab Rudolf Steiner den zukünftigen Lehrpersonen eine Imagination (2) der Wir-Bildung und legte damit ein Fundament für die Zusammenarbeit.
Schon am Abend vor dem Kursbeginn weist er auf die Bedeutung der Zusammenarbeit hin:
Ersatz für eine Rektoratsleitung wird geschaffen werden können dadurch, daß wir diesen Vorbereitungskurs einrichten und hier dasjenige arbeitend aufnehmen, was die Schule zu einer Einheit macht. Wir werden uns das Einheitliche erarbeiten durch den Kurs, wenn wir recht ernstlich arbeiten.
Für den Kurs ist anzukündigen, dass er enthalten wird:
erstens eine fortlaufende Auseinandersetzung über allgemeinpädagogische Fragen;
zweitens eine Auseinandersetzung über speziell-methodische Fragen der wichtigsten Unterrichtsgegenstände;
drittens eine Art seminaristisches Arbeiten innerhalb dessen, was unsere Lehraufgaben sein werden. Solche Lehraufgaben werden wir ausarbeiten und in Disputationsübungen zur Geltung bringen. (3)
Die Fähigkeiten für die hier entworfene Form der Schulleitung werden also auf zwei Ebenen entwickelt:
1. Leitung setzt die Bildung eines "Einheitlichen" voraus und das kann durch den Kurs (heute anhand der drei Bücher: Allgemeine Menschenkunde, Seminarbesprechungen und Methodisch-Didaktisches) gewonnen werden, "wenn er recht ernstlich gearbeitet wird."
2. Die Imagination beschreibt was unter "recht ernstlich arbeiten" gemeint ist: Wir studieren Menschenkunde und verbinden den Inhalt mit der geistigen Ebene. Die Früchte der Arbeit sind nicht nur für uns gedacht, sondern für die andern, die Kinder, Kolleginnen und Kollegen.
Ich möchte Ihnen die drei Schritte der Imagination veranschaulichen.
Ein Stuhl
Stellen Sie sich vor, Sie sitzen auf einem Stuhl ganz alleine, Sie sitzen da und beginnen Ihren Unterricht vorzubereiten. Sie vergegenwärtigen sich, dass sich die Individualität der Kinder und Jugendlichen in der Gegenwart zeigen will. Es geht um den Menschen, um Wissen und Beziehung. Als Lehrpersonen sind wir verantwortlich für die Lernatmosphäre. Wir sind Zeit- und Stimmungskünstler für die Kinder und sollen es auch für uns selbst sein.
Leider beachten wir die Einstimmung in eine Unterrichtsvorbereitung nur wenig. Stimmen Sie sich doch in die Menschen ein, für die Sie vorbereiten. Studieren Sie für eine kurze Zeit Menschenkunde bevor Sie mit der Wissenserarbeitung beginnen. Bringen Sie die Fakten in einen Zusammenhang miteinander und stellen Sie schliesslich die Frage, was das alles mit Ihnen als Mensch zu tun hat. Was hat ein Elektromotor, ein Elefant oder der Quarzsand mit Ihnen zu tun? Beachten Sie dabei, in welchem Verhältnis Sie zu der Welt stehen. Hat die Welt in Ihnen Platz oder distanzieren Sie sich von ihr? Es gibt den kleinen Menschen, der der Welt auf eigenen Beinen gegenüber steht. Es gibt aber auch den grossen, kosmischen Menschen, der alles umfasst. Wir sind beides, der grosse und der kleine Mensch oder der Tag- und der Nachtmensch. Wir unterrichten für beide. Was am Tag aufgenommen wurde, wird in der Nacht verdaut. Lernen in eigentlichen Sinne findet in der Nacht statt. Der grosse Mensch, der in der Nacht lebt, umfasst auch die geistige Welt und im besonderen die Welt der Engel. Mit ihnen zusammen bereiten wir uns auf den nächsten Tag vor, indem die Nacht in uns wirkt.
Noch ein Stuhl
Was ereignet sich, wenn noch ein weiterer Stuhl dazukommt und wir ein Gegenüber haben?
2010 setzte sich Marina Abramović im New Yorker MoMA auf einen Stuhl und machte nichts anderes, als denen in die Augen zu schauen, die ihr gegenüber Platz nahmen. 90 Tage lang, sechs Tage in der Woche, immer sieben Stunden am Stück. Ohne Pause, ohne zu essen, zu trinken, zu sprechen. Sie nannte ihr Kunstwerk: The Artist Is Present.
Abramovićrichtete ihre Aufmerksamkeit auf den andern, auf den Menschen, der auf dem Stuhl gegenüber sass. Es entstand etwas zwischen den beiden Menschen, ein Dazwischen, das ein tiefes Mysterium ist. Viele haben versucht, es in Worte zu fassen. Zum Beispiel die Bibel: „Wenn zwei oder drei in meinem Namen zusammen sind, bin ich mitten unter ihnen“ oder Martin Buber: „Ich werdend spreche ich Du.“ Eine entscheidende Rolle spielt dabei, was der eine dem andern geben kann. In dieser inneren Geste liegt die Quelle des Vertrauens, der Freundschaft, des Du, der Liebe und des Mutes.
Und noch ein Stuhl
Stellen wir jetzt noch einen weiteren Stuhl hin. Haben wir uns eben in das Gegenüber eingelebt, löst ein weiterer Stuhl ein kleines inneres Erdbeben aus. Die Zweisamkeit wird durch das Dritte förmlich erschüttert. Dreiecksbeziehungen sind anspruchsvoll. Wir haben zwei Beziehungen und bei einer sind wir in der Beobachterrolle. Das Spiel der Gruppe beginnt.
Eine Dreiergruppe ist noch überschaubar, die Komplexität steigert sich jedoch mit jedem weiteren Mitglied. Wir sind plötzlich mit den Herausforderungen der Gemeinschaftsbildung konfrontiert und die Frage entsteht, was für ein Wir in unserem Zusammensein entsteht.
In einem Kollegium haben wir es mit vielen Menschen zu tun. Trotz historischer und persönlicher Erfahrung halten sich gewisse Spielregeln hartnäckig. Wir nehmen beispielsweise an, dass das Wohl der Gemeinschaft über dem des Einzelnen steht. Zur Zeit erleben wir in der Politik wieder eine Renaissance nationaler Wir-Gefühle, es geht dabei vor allem um die Anpassung an die Gruppe und um das Ausschliessen des sogenannt „Fremden“. Das Bedürfnis nach Identität, das jeder Mensch hat, kann schnell zum Missverständnis führen, dass nicht der Einzelne als Individualität zählt, sondern, zu welchem Wir er gehört. Wenn sich der Einzelne zu sehr der Gruppe unterordnet schwächt er damit seine Fähigkeit zum selbstverantwortlichen Handeln.
Eine Besinnung auf das gesunde Wir führt zu anderen Gesichtspunkten. Die amerikanische Kulturanthroplogin Margaret Mead sagt: "Human diversity is a resource, not a handicap." Das ist eine wichtige Aussage, die die Verschiedenheit der Menschen positiv wertet. Der einzelne Mensch ist die Grundlage der Gemeinschaft. Darauf baut auch Steiners Wirverständnis:
In einer wirklichen Lehrer-Republik werden wir nicht hinter uns haben Ruhekissen, Verordnungen, die vom Rektorat kommen, sondern wir müssen hineintragen [in uns tragen] dasjenige, was uns die Möglichkeit gibt, was jedem von uns die volle Verantwortung gibt für das, was wir zu tun haben. Jeder muss selbst voll verantwortlich sein.
Das ist eine anstrengende Tätigkeit. Gemütlicher wäre es, in der bequemen Anonymität der Gruppe unterzutauchen. Um die wohlige Atmosphäre aufrecht zu erhalten, nehmen wir Unterwerfungen in Kauf und passen uns dem Lauf der Dinge an, von dem wir nicht recht wissen, wer ihn eigentlich bestimmt. Die Gefahr sah Steiner voraus.
Meine lieben Freunde, wir kommen mit unserer Aufgabe nur zurecht, wenn wir sie nicht bloss betrachten als eine intellektuell-gemütliche, sondern als eine im höchsten Sinne moralisch-geistige;
Das Vertrauen in uns selbst und die Mitmenschen legt ohne Zweifel die Grundlage für jede Gemeinschaft. Sie ermutigt uns, den Schritt in die Vielfalt zu wagen. Wir haben die Aufgabe zu lösen, wie wir in der Vielheit vereint sein können. Die Angst vor den andern ist weit verbreitet. Die Füsse führen uns auf den Mitmenschen zu. Behindern wir die Füsse nicht, schaffen wir einen begegnungsoffenen Raum. Das Leben darf uns begegnen. Darin liegt ein Bekenntnis zur Vielfalt. Wir versuchen, die Unterschiede auszuhalten, ja sie als eine kreative Spannung anzunehmen.
Das neue Wir will gelebt werden. In ihm liegt das Potential, dem Einzelnen eine Orientierung zu verschaffen. Es verlangt nicht Opferbereitschaft, sondern dass jedes Individuum seine Angst vor dem eigenen Mut überwindet.
Das von Steiner beschriebene "Einheitliche" lebt auf, wenn es uns gelingt ein Wir zu bilden. Es ist ein Geschenk. Wir bereiten uns vor, machen uns empfänglich im Bilden eines Wirs.
Das grosse unternehmerische Wagnis einer waldorfpädagogischen Einrichtung heute und morgen ist die Bildung dieses Wirs, in dem der Einzelseele Kraft und ihr Mut, dem Andern zu begegnen, lebt. Aus diesem, sich stets neu bildenden Wir entsteht die Orientierung für die Führung der Einrichtung. Das ist ein wahrhaft bahnbrechendes Führungskonzept. Es wurde vor hundert Jahren entwickelt und an vielen Orten auf der Welt bereits erprobt. Seine besondere Qualität besteht darin, dass es die Verbundenheit mit der geistigen Welt bewusst pflegt. Falls wir also bereit sind, die Hilfe der geistigen Welt in unsere Arbeit mit einzubeziehen, können wir von ihr wieder beschenkt werden.
Die drei Mönche haben geübt. Sie verbanden ihre Arbeit ganz mit der geistigen Welt, verbanden das Oben mit dem Unten.
Wir sind drei. Ihr seid drei. So es sei.
Florian Osswald, geboren in Basel, Schweiz, studierte Verfahrensingenieur. Nach einer Ausbildung zum Heilpädagogen in Camphill, Schottland, besuchte er das Lehrerseminar in Dornach. Während 24 Jahren unterrichtete er Mathematik und Physik an der Rudolf Steiner Schule Bern-Ittgen und war in verschiedenen Ländern als kollegialer Berater tätig. Seit Anfang 2011 leitet er zusammen mit Claus-Peter Röh die Pädagogische Sektion am Goetheanum.
Anhang
Diese Imagination nannte Steiner "eine Art Gebet". Der Wortlaut wurde nicht stenographisch festgehalten. Die Kursteilnehmer Caroline von Heydebrand (1886-1938) und Herbert Hahn (1890-1970) haben aus der Erinnerung den Inhalt der von Rudolf Steiner gesprochenen Worte schriftlich niedergelegt. Die folgende Aufzeichnung stammt von Caroline von Heydebrand:
«Wir wollen unsere Gedanken so gestalten, daß wir das Bewußtsein haben können: Hinter jedem von uns steht sein Engel, ihm die Hände sanft aufs Haupt legend; dieser Engel gibt Euch die Kraft, die Ihr braucht. - Über Euren Häuptern schwebt der Reigen der Erzengel. Sie tragen von einem zum andern, was einer dem andern zu geben hat. Sie verbinden Eure Seelen. Dadurch wird Euch der Mut, dessen Ihr bedürft. (Aus dem Mut bilden die Erzengel eine Schale.) - Das Licht der Weisheit wird uns geschenkt von den erhabenen Wesenheiten der Archai, welche sich nicht im Reigen abschließen, sondern aus Urbeginnen kommend sich offenbaren und in Urfernen verschwinden. Sie ragen nur wie eine Tropfenform hinein in diesen Raum. (In die Schale des Mutes hinein fällt von dem wirkenden Zeitgeist ein Tropfen des Zeitenlichtes.)» (4)
Literatur
(1) Tolstoi, Leo: "Die drei Einsiedler", in: "Die zwei Brüder und das Gold und 19 andere Volkserzählungen", Übertragen von Dr. Leo von Witte, Herder Buchgemeinschaft 1960
(2) siehe Anhang
(3) Steiner, Rudolf: Allgemeine Menschenkunde, GA 293, Ansprache 20. August 1919
(4) Steiner, Rudolf: Allgemeine Menschenkunde, GA 293, 1.Vortrag, 21. August 1919, Hinweise S.217f