„Die Pädagogik darf nicht eine Wissenschaft sein, sie muß eine Kunst sein. Und wo gibt es eine Kunst, die man lernen kann, ohne daß man fortwährend in Gefühlen lebt? Die Gefühle aber, in denen man leben muß, um jene große Lebenskunst auszuüben, die Pädagogik ist, diese Gefühle, die man haben muß zur Pädagogik, die feuern sich nur an an der Betrachtung des großen Weltalls und seines Zusammenhanges mit dem Menschen.“ (1)
Eine Frage der Identität
Ist die Waldorfschulbewegung heute in Gefahr, wenn wir weiterhin das Paradigma einer Waldorfschule als das Werk eines Künstlers ansehen, der schon lange verstorben ist: ein unfertiges Werk, versiegelt, gerahmt, an einer Galeriewand hängend, als Kalenderkopien weltweit verbreitet. Oder können wir sie als noch in der Werkstatt befindlich sehen als noch zu vollendendes Werkstück wie ein sich entwickelndes menschliches Wesen, mit einer Identität, die sich immer noch im Prozess des Sich-Entfaltens befindet, sowohl von der Zukunft als auch von der Vergangenheit her bestimmt.
1909 hat Rudolf Steiner bereits die wesentlichen Bestandteile der „Erziehungskunst“ (2), wie er sie damals zum ersten mal bezeichnete, skizziert. Er betonte, dass die Erziehungskunst ernsthaft als eine echte, eigenständige Kunstform betrachtet werden und nicht auf allgemeinen Slogans gegründet sein sollte, sondern auf dem wahrhaftigen, kenntnisreichen Wissen über das menschliche Wesen. Zehn Jahre später, bei der Eröffnung der ersten Waldorfschule, konnte er ausdrücken und zeigen wie die neue Kunstform zu verwirklichen wäre und er erweiterte diese Darstellung bis zum Ende seines aktiven Lebens 1924. Während jener Zeit verwendete er den Ausdruck „Erziehungskunst“ in einer Vielfalt verschiedener Zusammenhänge – bei Zusammenkünften von Lehrern, Kommentaren nach Unterrichtsbesuchen, öffentlichen Vorträgen, Artikeln – und in Bezug auf eine Menge verschiedener Themen.
- die Erziehungskunst als eigenständige Kunstform
- die Ziele der Erziehungskunst
- die Erziehungskunst im Gegensatz zu wissenschaftlichem Intellektualismus
- der Lehrer als Künstler
- Künstlerisches Erleben in der Erziehungskunst
- Die spirituelle wissenschaftliche Grundlage der Erziehungskunst
- Die Rolle der Künste in der Erziehungskunst
- Die Rolle der Künste in der Ausbildung der Erziehungskunst
- Soziale Herausforderungen in der Erziehungskunst
Die umfassende Weise, in der obige Themen konsequent im Zusammenhang mit der Unterrichtspraxis behandelt wurden, untermauert die zugrundeliegende Prämisse, dass Erziehung im wesentlichen ein künstlerisches Unternehmen ist. Wie bei allen Kunstformen, so erfordert auch die Erziehungskunst Grundkenntnisse in Fertigkeiten, die notwendig sind für die Entwicklung einer verfeinerten Sinneswahrnehmung, die sodann im Dienste eines schöpferischen Denkens eingesetzt werden kann. Und wie bei jedem authentischen Künstler, so ist auch der Erzieher zutiefst und innig mit seinem Medium verbunden, in diesem Fall sogar noch mehr, da sowohl das Subjekt als auch das Objekt seiner Tätigkeit das sich entwickelnde menschliche Wesen ist.
Die oben angeführte Themenliste kann in der Aussage des Zitats am Anfang des Artikels untergebracht werden. Im Wesentlichen drückt es drei Forderungen aus, denen die Themen zugeordnet werden können. Erstens, Erziehung sollte nicht als Wissenschaft sondern als Kunst betrachtet werden, zweitens, als eine Kunst beruht sie auf dem Gefühlsleben (stets gegenwärtigem Fühlen), und drittens, dass diese Gefühlsqualitäten nur durch Beobachtung und innere Betrachtung des menschlichen Wesens in Bezug auf den Kosmos oder die Welt im weiteren Sinne zum Leben erweckt werden kann.
Erziehung darf keine Wissenschaft, sie muss eine Kunst sein
Warum sollten wir Erziehung als eine Kunstform und nicht als eine Wissenschaft ansehen? In Rudolf Steiners Darlegung ist die zentrale Stellung des Fühlens bedeutsam. Das Fühlen bildet einerseits die Brücke zwischen dem schöpferischen Streben des Lehrers und andererseits den Fertigkeiten und Methoden beim Unterrichten. Ohne diese Grundlage wäre der Lehrer nicht länger ein Ausübender, der durch neue Gedanken motiviert wird, sondern ein bloßer Techniker, der durch die Forderungen vorgegebener Normen und Inhalte getrieben wird. Pädagogische Fertigkeiten würden dann nur nach vorbestimmten, standardisierten Zielen und Ergebnissen angewendet werden ohne jegliche Betrachtung für die unmittelbare Wirklichkeit der jeweiligen Situation, genauer der Individualität des jungen Menschen, mit dem es der Lehrer zu tun hat.
Das künstlerische Empfinden in der Unterrichtstätigkeit markiert die wesentliche Unterscheidung zwischen dem Unterrichten als bloße Technik, als eine angewandte Form der Verhaltensforschung, als einer Form von sozialer und psychologischer Manipulation und Unterrichten als Kunst. Genau in diesem Zusammenhang hat Rudolf Steiner auf die Qualitäten des Fühlens als Vorbedingung für die Praxis der ‚großen Lebenskunst’ verwiesen und gleichzeitig wiederholt die negativen Auswirkungen einer wissenschaftlich orientierten Unterrichtspraxis im Klassenraum aufgezeigt.
Immer wieder verwies er auf diese Infragestellung, indem er den verfrühten und einseitigen intellektuellen Fokus wiederholt betonte. Bei vielen Gelegenheiten verwendete er bestimmte Beispiele aus der Unterrichtspraxis, indem er den künstlerischen mit der weit verbreiteten übertriebenen wissenschaftlich intellektuellen Herangehensweise verglich und betonte die schädigenden Wirkungen der letzteren Methode auf die physische, emotionale und spirituelle Gesundheit der Kinder (3). Bei anderen Gelegenheiten stellte er die Gefahren ohne Umschweife dar. Eine besonders starke Aussage dazu führt in die vier Vorträge aus „Erziehung und Unterricht aus Menschenerkenntnis. Meditativ erarbeitete Menschenkunde“ (4) ein. Seine kompromisslose Haltung und sein eindringlicher Ton ist ein markanter Appell, den zarten Anfang eines neuen Unterrichtsimpulses sowohl äußerlich als auch innerlich zu schützen.
Solch eine Reaktion zu der Herausforderung einer wissenschaftlichen Anschauung von Unterricht sollte jedoch nicht als reaktionär betrachtet werden. Keinesfalls sollte Rudolf Steiner als Befürworter einer rückwärtsgewandten, instinktiven Unterrichtspraxis gesehen werden. In einem Artikel, der auf einen 1922 gehaltenen Vortrag zurückgeht (5) bestätigt er voll und ganz die Rolle von wissenschaftlichem Intellektualismus in der menschlichen Entwicklung, doch betont er die Notwendigkeit, mit einer künstlerisch durchdrungenen Wissenschaft der Seele und des Geistes, die neue Erziehungskunst zu befördern und zu erneuern. Und in einem weiteren, eindringlichen Abschnitt fordert er die Lehrer heraus, anzuerkennen, dass die Aufgabe der Erziehungskunst der Zukunft darin besteht, die Wissenschaft zu einem künstlerischen Erfassen der Welt umzugestalten:
„Man sollte das Gefühl haben: Insofern du bloß Wissenschafter bist, bist du ein Mondkalb! Erst wenn du umgestaltest deinen seelisch-geistig körperlichen Organismus, wenn dein Wissen künstlerische körperliche Form annimmt, wirst du zum Menschen. Im wesentlichen wird die zukünftige Entwickelung führen - dazu hat der Pädagoge mitzuwirken - von der Wissenschaft zum künstlerischen Erfassen der Welt, von der Mißgeburt zum Vollmenschen.“ (6)
Eine erste Aufgabe in der Erziehungskunst ist daher, auf diese Zukunft vorzubereiten. Es ist die Forderung, das wissenschaftliche zu einem künstlerischen Erfassen des menschlichen Wesens in der Unterrichtspraxis der gegenwärtigen Situation an den Schulen zu führen.
„Um das zu verstehen, muß unsere Auffassung von dem Bau des Menschen,
von der inneren Gestaltung des Menschen eine künstlerische sein. Und der Lehrer muß imstande sein, das Kind künstlerisch, als Artist zu erleben. Ihm muß alles im Kinde innerlich beweglich sein. Da wird die Philosophie kommen und wird sagen: Ja, aber wenn man etwas erkennen will, dann muß eben die Sache logisch sein. Ganz richtig, aber so, wie das Kunstwerk logisch sein muß, wenn wir die Welt vor uns haben, und die Welt kann durch künstlerisches Erfassen repräsentiert werden im Inneren.“ (7)
Damit eine solche Erziehungskunst entwickelt und in der Praxis verwirklicht werden kann, muss sie ständig als Kunstform, angepasst an unsere gegenwärtigen Erfordernisse, geltend gemacht werden und nicht als eine angewandte Wissenschaft. Sie wird ständig mit der extremen Tendenz in Richtung standardisierter Unterrichtspraxis zu kämpfen haben, die aus einer übertriebenen intellektuellen und materialistischen Wissenschaftsanschauung resultiert. Dementsprechend wird sie auch ständig vor einer zunehmend fehlgeleiteten Antipathie der wissenschaftlich orientierten Entscheidungsträger, Gesetzgeber und Unterrichtenden weltweit geschützt werden müssen.
Wo befindet sich die Kunst, die es zu erlernen gilt, ohne dass man ständig im Bereich des Fühlens lebt?
Mehrfach verwendete Rudolf Steiner den Ausdruck „künstlerisches Erleben“ (8) im Zusammenhang mit der Erziehungskunst; an anderer Stelle gebrauchte er verschiedene Wörter, die das Gleiche passend zum jeweiligen Kontext bezeichnen, doch beim Hervorrufen einer bestimmten religiösen Stimmung und bei der Beschreibung der Beziehung zwischen sinnlicher Wahrnehmung und Erkenntnis. Jedoch können all diese Nuancen von Gefühlen einbezogen werden zu denen, „in denen man leben muß, um jene große Lebenskunst auszuüben“. (8) Auf diese Weise wird in Rudolf Steiners Aussage die Betonung auf Gefühle deutlich. Doch welcher Art sind diese Gefühle und inwieweit lassen sie sich auf das Thema des künstlerischen Erlebens in der Unterrichtspraxis beziehen?
In seinen vier Vorträgen mit dem Titel „Meditativ erarbeitete Menschenkunde“ vereinigte Rudolf Steiner auf eine umfassende Weise die ganze Bandbreite dieser Gefühlsnuancen. Beispielsweise empfiehlt er den Lehrern, empfindungsreiche Stimmungen aus dem Bereich des Theaters zu nehmen, wie zum Beispiel das Tragische, Pathos und Humor, oder andere wie Ehrfurcht, Enthusiasmus und schützendes Mitgefühl. Doch bezog er sich vor allem auch auf Gefühle als Fähigkeiten, die das erhöhte Wahrnehmungs- und Erkenntnisvermögen des Lehrers entwickeln. Bei der Beschreibung des letzteren verwendete er Ausdrücke aus dem Bereich anderer Kunstformen, vor allem aus dem Bereich der Musik, der bildenden Kunst, der Bildhauerei, Sprachgestaltung, Bewegungskunst und besonders aus der Kunst des Gleichgewichthaltens anwendbar auf das Unterrichten aller Fächer. Das umfassende Spektrum all dieser Empfindungen können als das künstlerische Werkzeug des Lehrers angesehen werden, als eine Palette von Seelenqualitäten für die Unterrichtspraxis.
Doch was ist dann der qualitative Unterschied zwischen dem normalen Ausdruck von Gefühlen im täglichen Leben und ihrer Verwendung als Werkzeug in der Unterrichtspraxis, und wie gelingt ihre Verwandlung?
Als ein Beispiel hierfür können wir vielleicht etwas nehmen, das Rudolf Steiner im Zusammenhang mit dem Gebrauch der dramatischen Stimmungen im Unterricht erwähnte. In diesem Zusammenhang betonte er die grundlegende Forderung, dass Lehrer fähig sein müssten, sich von ihren persönlichen Stimmungen und Gefühlen zu distanzieren; und dass sie auch die Fähigkeit beherrschen müssten, diese dramatischen Stimmungen frei in sich zu erzeugen, so wie sie bei einem entsprechenden Unterrichtsinhalt gefordert sind und in Übereinstimmung mit der entsprechenden Präsentationsphase.
„Als Lehrer müssen wir uns dazu erziehen, solche Stimmungen abzulegen und nur aus dem Inhalt des Darzustellenden heraus zu reden, so daß wir wirklich in der Lage sind, indem wir den einen Gegenstand darstellen, aus dem Gegenstand heraus tragisch zu sprechen und übergehen können zu einer humorvollen Stimmung,
indem wir in unserer Darstellung fortfahren, wobei wir uns ganz dem Gegenstande überlassen.“ (9)
Die Distanzierung von persönlichen Gefühlen und eine hohe Flexibilität in dem absichtsvollen Gebrauch bestimmter Stimmungen zu einem gegebenen Anlass, sind zwei Qualitäten, die alltägliche Gefühle von diesen verwandelten und in den künstlerischen Bereich gehobenen Gefühlen unterscheiden.
Bezogen auf den Distanzierungsprozess ist der einleitende Satz bedeutsam: „Als Lehrer müssen wir uns dazu erziehen, solche Stimmungen abzulegen und nur aus dem Inhalt des Darzustellenden heraus zu reden“. Gerade so wie die kompetente Schauspielerin ihre eigenen persönlichen Stimmungen beiseite legen muss, wenn sie als Julia die Bühne betritt, um ihren Romeo zu treffen, so ist ein ähnlicher Abstand vom Lehrer gefordert, wenn er oder sie das Klassenzimmer betritt.
Doch gibt es einen zentralen Unterschied zwischen dem Lehrer und der Schauspielerin oder, sagen wir, dem Zirkusclown. Der Clown mag Gelächter hervorrufen, doch hinter seinem aufgemalten Lächeln mag er weinen. Im Fall des Lehrers ist solch eine Aufspaltung zwischen innerer Empfindung und äußerer Darstellung hoch problematisch. In einer Klasse junger Kinder wird es einem Lehrer zweifellos misslingen, eine Stimmung der Ehrfurcht zu erzeugen, wenn er nicht selbst überzeugend eine wahrhaftige Ehrfurchtsstimmung in sich trägt. In einer älteren Klasse mag der Lehrer seine Stimme tadelnd erheben, wenn sich Jungs in der hinteren Reihe daneben benehmen, wenn er jedoch einen anderen vorne zu seinem Nachbarn flüstern hört „Oh, er tut nur so ärgerlich“, weiß der Lehrer, dass er verloren hat.
Doch, was passiert, wenn der Lehrer wirklichen Ärger in sich aufsteigen spürt, wenn er die Ungerechtigkeit einer Gruppe von Neuntklässlerinnen wahrnimmt, die einen neuen schwachen und empfindsamen Neuankömmling ärgern? Die Frage ist nicht länger, ob er berechtigt ist seinem Gefühl der Entrüstung freien Lauf zu lassen, sondern wie er mit diesem Gefühl umgeht. Unterdrückt er es oder verwandelt er es und verwendet es, um eine entsprechende pädagogische Antwort zu dieser spezifischen vorgegebenen Situation zu finden?
Eine ähnliche Herausforderung entsteht, wenn ein Lehrer mit einem Sinn für Humor ausgestattet ist. Freude und Lachen in geeigneten Unterrichtsmomenten zu erzeugen ist ein wichtiges Mittel in der pädagogischen Kunst. Doch kann dieses Talent auch zu Missbrauch führen, wenn der Lehrer unfähig ist, unterschwellige Haltungen und Gefühle vor dem Klassenzimmer zu lassen. Ansonsten kann Humor ein zweischneidiges Schwert sein. Wenn beispielsweise ein Lehrer zulässt, dass persönliche Frustrationen den gesunden Gebrauch von Ironie in beißenden Sarkasmus verwandelt. Oder wenn ein Lehrer mit wenig Selbstbewusstsein, das Klassenzimmer als Arena für unterhaltsame und komische Darstellungen benutzt, um Bewunderung und Beliebtheit hervorzurufen.
In Rudolf Steiners Darstellung ist nicht nur die Aufforderung an den Lehrer, persönliche Gefühle abzulegen, sondern auch zu bestimmen, wann und wie geeignete Stimmungsqualitäten in jeglicher Unterrichtsphase einzubauen sind. In diesem Sinne ist der Lehrer aufgefordert, künstlerisches Empfinden als schöpferische Urteilskraft einzusetzen, um den unmittelbaren Notwendigkeiten des entsprechenden Moments gerecht zu werden. Und in diesem Zusammenhang entsteht die Frage bezüglich des Unterschieds zwischen dem Charakter künstlerischen Empfindens in der schöpferischen Praxis und dem, was wir im Allgemeinen Gefühl nennen.
Künstlerisches Empfinden als Erkenntnisorgan
Was es auch immer bedeuten mag – und es gibt viele Bedeutungsnuancen – der Ausdruck „ästhetisches Empfinden“ beinhaltet klar das künstlerische Wahrnehmungs- und Urteilsvermögen. Er meint eine bestimmte Art erhöhter Achtsamkeit, abgestimmt auf eine bestimmte Kunstform durch die Schulung der Wahrnehmung. Der Musiker hört Töne und Klänge, der Maler sieht Farben und Formen – in geschärfter, gesteigerter Weise qualitativ anders als der ungeschulte Hörer oder Betrachter.
Obwohl das vorrangige Sinnesorgan in dem Prozess tätig sein mag, ist die vollkommene Beteiligung des Denkens, Fühlens und Wollens des Künstlers eingeschlossen. Das ganze Wesen des Künstlers ist beteiligt, Qualitäten von Aufmerksamkeit sind im Spiel, die bewusst geschult wurden, um die Wahrnehmungs- und Erkenntnisorgane zu schärfen. Dies trifft insbesondere auf das ästhetische Empfinden in Bezug auf die ‚große Lebenskunst’ zu, bei welcher nicht erwartet werden kann, dass ein Sinn dominiert; tatsächlich sind alle Sinne – die des Körpers, der Seele und der übersinnlichen Bereiche umfassend beteiligt.
Was ist jedoch die objektive Grundlage, auf der der künstlerische Lehrer die Beteiligung dieser besonderen Gefühlsqualitäten rechtfertigen kann? Eine objektive Sorgfalt und Exaktheit ist eine grundlegende, wissenschaftliche Voraussetzung für eine erkenntnismäßige Beurteilung. Ein charakteristisches Merkmal solch eines Prozesses ist die systematische Ausschaltung des Subjektiven bei der Nachforschung. Doch Gefühle sind subjektiv. Wie kann dann die Geistesverfassung, die in der pädagogischen Kunst beteiligt ist, gleichzeitig subjektiv und objektiv sein? Wenn Erziehende die Unterrichtspraxis und die Wahrnehmungsschulung auf der Grundlage des künstlerischen Empfindens mit Überzeugungskraft durchführen, dann sollten sie unvermeidlich mit der Herausforderung, eine zufriedenstellende Erklärung für dieses Dilemma selbst zu finden, konfrontiert werden.
In dem Bereich der künstlerischen Kreativität erfordert die Aneignung solch einer Überzeugung mehr als die transparente Logik, die normalerweise für den Erwerb solch einer Sicherheit in einem wissenschaftlichen Kontext gefordert wird. Worin besteht nun dieses „Mehr“?. Eine Annäherung an eine Antwort ist, genauer zu untersuchen, inwieweit jeglicher wahrhaftiger Erkenntnisakt als rein objektiv angesehen werden kann. In diesem Zusammenhang beleuchten Rudolf Steiners Kommentare zu Brentanos und Sigwarts Auseinandersetzung die Rolle, die Gefühle bei der Urteilsfindung spielen. Nach Rudolf Steiner muss das Wechselspiel der Gefühle (10) – in dem ganzen Akt der Urteilsfindung – notwendigerweise betrachtet werden, jedoch als eigenständiges Element, durch welches die „Richtigkeit“ des Ergebnisses bestätigt wird, auch wenn die Objektivität eines solchen Urteils seinen Wert innerhalb des Denkprozesses beibehält.
Ein künstlerisches Vorgehen vereint nun sowohl kognitive als auch schöpferische Aktivitäten gleichzeitig in dem schöpferischen Akt. Auf diese Weise entspricht er genau der Urteilsfindung wie zuvor beschrieben. Dies wird besonders offenbar in den darstellenden Künsten, in der Arbeit eines kompetenten Schauspielers, Tänzers, Sängers oder Musikers. Kreativität vereint einen Willensakt mit einem Denkvorgang. (Kreativität verbindet Willen und Denken.) Sie vereint den bewussten Willen mit lebendigem Denken im Zusammenspiel mit dem bejahenden Charakter des „richtigen Urteils“, das auf dem Fühlen basiert. Dieses besondere Vermögen für künstlerisches Empfinden durchdringt den gesamten schöpferischen Prozess vom Anfang bis zur Durchführung/ Aufführung. Selbst der Zuschauer kann nicht als distanzierter Betrachter gesehen werden. In vieler Hinsicht engagiert der schöpferische Wille des Ausführenden das Publikum als Mitwirkende, bemüht, ihren Willen mit dem künstlerischen Prozess zu halten und zu verbinden. Jedoch ist die ästhetische Distanz in einem gewissen Grad noch ausreichend bewahrt, um dem Kunst- oder Musikliebhaber die Freiheit zu geben, sein (oder ihr) kritisches Urteilsvermögen auszuüben: ein Urteilsvermögen, das gleichzeitig mit seiner oder ihrer subjektiven Beteiligung an dem schöpferischen Willen des Durchführenden (des Künstlers) zusammenwirkt und wiederum durch das verfeinerte ästhetische Empfinden geprägt ist.
In einer wahrhaft künstlerischen Betätigung kann das ästhetische Empfinden nur durch die Entwicklung eines bewussten Urteilsvermögens zusammen mit der Strenge einer konsequenten, praktisch orientierten Willens- und Sinnesschulung erweckt, gestärkt und entwickelt werden. Die Forderung ist, sowohl die subjektiven als auch die objektiven Bereiche gleichermaßen zu schulen, ineinanderwirkend ohne Grenzziehung. Solche Qualitäten von ästhetischem Empfinden können nicht durch Nachdenken und theoretische Abhandlungen allein gestärkt und entwickelt werden, sondern durch eine gestufte, dauernde, praktische Beschäftigung mit dem betreffenden künstlerischen Medium – in dem Fall des pädagogischen Künstlers mit den Kindern.
Übersetzt aus dem Englischen von Ulrike Creyaufmüller
Michael Grimley ist Kunstlehrer mit einem Master in Kunstwissenschaft. Für viele Jahre war er Lehrer an staatlichen Schulen wie auch an Waldorfschulen in Südafrika. Er war Mitglied der Vereinigung der Waldorfschulen in Südafrika und der Internationalen Konferenz der Waldorfpädagogischen Bewegung. Er initiierte in Südafrika die Arbeit der Pädagogischen Sektion. Weiterhin hält er im ganzen Land Vorträge und widmet sich Ausbildungsprogrammen.
Literatur
(1) Steiner, Rudolf: Allgemeine Menschenkunde. 10. Vortrag. GA 293, Stuttgart. 1919. S. 159.
(2) Steiner, Rudolf: Lucifer- Gnosis 1903-1908. GA 34, S.20.
(3) Steiner, Rudolf: GA 34, 302a (Nr.17), GA 307 (2, 4 und 7)
(4) Steiner, Rudolf: Erziehung und Unterricht aus Menschenerkenntnis, Meditativ erarbeitete Menschenkunde. GA 302a. Stuttgart, 1920.
(5) Steiner, Rudolf: Ein Vortrag über Pädagogik während des Französischen Kurses am Goetheanum. 16. September 1922. Der Goetheanumgedanke Inmitten der Kulturkrisis der Gegenwart. Gesammelte Aufsätze aus der Wochenschrift 1921–1925. GA 36. S. 285.
(6) Steiner, Rudolf: Erziehung und Unterricht aus Menschenerkenntnis, Meditativ erarbeitete Menschenkunde. GA 302 a. Stuttgart, 1920. S. 40.
(7) Steiner, Rudolf: Die geistig-seelischen Grundkräfte der Erziehungskunst. GA 305, Oxford 1922. S. 115/ 116.
(8) z.B. Steiner, Rudolf: Die geistig-seelischen Grundkräfte der Erziehungskunst. Oxford, 1922. GA 305, S.115.
(9) Steiner, Rudolf: Erziehung und Unterricht aus Menschenerkenntnis, Meditativ erarbeitete Menschenkunde. GA 302a. S.22/23.
(10) Steiner, Rudolf: Das Ineinanderfließen der Seelentätigkeiten. GA 293, S.85