Einleitung
Das Augenmerk dieser Tagung wird sich auf Verwandlung und Kreativität richten. In einem Zeitalter von standardisierter Prüfung, in der Lehrer und Schüler weltweit gefordert werden nach dem Messbaren hinzuarbeiten, nach dem Vergleichbaren, nach zuvor festgelegten Standards, stellt unser Fokus auf Kreativität und Verwandlung einen klaren Gegensatz und eine befreiende Alternative dar. Fremdsprachenstunden, die traditionelle Schulbücher verwenden, die sich nach einem Standardlehrplan richten und die auf ein nationales Examen abzielen, werden unweigerlich zu einer anderen Beziehung zur Fremdsprache und deren Kultur führen, als ein Lehrvorgang, der darauf basiert die Kreativität der Schüler zu fördern und ihnen einen breiten Raum von Möglichkeiten individueller Entwicklung und Verwandlung zu bieten. Waldorfpädagogik basiert auf der Überzeugung, dass Schüler ein Recht haben auf solche Möglichkeiten.
Glücklicherweise gibt es auch andere Pädagogen und Wissenschaftler weltweit, die aus unterschiedlichen Perspektiven heraus eine humanistischere und kreativere Erziehungsauffassung gefordert haben. Zum Beispiel durch neurologische und pädagogische Untersuchungen gibt es inzwischen ein wachsendes, klareres Verständnis für die weitreichende Gefühlsdimension des Lernens: Schüler, die innerlich angeregt sind, bei dem was sie tun, lernen sehr viel mehr und erinnern sich besser an das, was sie gelernt haben. Solch ein affektives Engagement wird auch entscheidend sein, um eine innere Motivation zu entwickeln weiterzulernen. Das mag für uns als Waldorflehrer vielleicht offensichtlich sein, aber in Hinsicht auf Ergebnisse aus der Erziehungswissenschaft wurde in der Vergangenheit die Bedeutung des Gefühls gar nicht mit solcher Klarheit gesehen. Ein weiteres Beispiel: In der grössten Erziehungsstudie, die je ausgeführt wurde, eine sogenannte Metastudie die auf 50.000 anderen Studien beruht, schloss John Hattie, dass die Qualität der Verbundenheit und die Natur persönlicher Interaktion zwischen Lehrern und Schülern den bei weitem entscheidendsten Faktor in der Lernentwicklung ausmacht. Und als Ergebnis dieser Entdeckungen haben er und andere eine grundlegend neue Auswertung vieler derzeitiger Erziehungsgrundsätze gefordert. Auf unserem eigenen Gebiet des Fremdsprachenunterrichts, ist die kontinuierliche Entwicklung den sogenannten humanistischen Methoden, - deren prominentester Vertreter Prof. Alan Maley, sich für diese Konferenz zu uns gesellt hat, - ein weiteres Zeichen dafür, dass Alternativen zu traditionellen Lehrplänen immer wieder gesucht und entwickelt worden sind.
Wo stehen wir als Waldorflehrer in diesen andauernden Diskussionen zwischen den Vertretern der normativen Lehrpläne und standardisierten Prüfungen und jenen, die kreative und humanistische Alternativen verlangen? Was hat die Waldorfpädagogik, kurz vor ihrem hundertsten Geburtstag, in dieser gegenwärtigen Debatte konkret anzubieten?
2. Die radikalen Ursprünge der Waldorfpädagogik
Wir wollen uns zuerst darauf besinnen, dass die erste Waldorfschule, als sie 1919 gegründet wurde, geschaffen wurde für die Kinder der Arbeiterklasse, für die Kinder der Arbeiter der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik in Stuttgart. Die Delegation von Arbeitern, die zu Emil Molt kamen, um ihn zu bitten, solch eine Schule zu gründen, erzählten ihm, sie hätten keine Illusionen darüber, was sie in ihrem eigenen Leben noch erreichen könnten, aber sie wollten, dass ihre Kinder mehr Chancen bekämen, als sie sie hatten. Die erste Waldorfschule war also nicht als Schule für die Elite geplant, so wie es heute oft gesehen wird, sondern gerade für die Kinder, die sonst die allerwenigsten Bildungsmöglichkeiten gehabt hätten. Die erste Waldorfschule bestand entsprechend aus der einzigartigen Mischung solcher Arbeiterkinder zusammen mit Kindern von Eltern, die zur grossen anthroposophischen Bewegung, die es zu dieser Zeit in Stuttgart gab, gehörten. In Anbetracht der historischen festen Klassenstrukturen des deutschen Erziehungssystems kann diese Mischung nur verstanden werden als eine weitreichende Umwandlung des gesamten Erziehungsgedankens. So gesehen war die Tatsache, dass diesen Arbeiterkindern Gelegenheit gegeben wurde ab erster Klasse zwei Fremdsprachen zu lernen, nicht nur eine revolutionäre Idee in Bezug auf das frühe Fremdsprachenlernen, sondern kann auch im weiten Sinne als radikaler, sozialer und kultureller Akt angesehen werden.
In den Kursen für Lehrer, die direkt der Eröffnung der ersten Waldorfschule vorangingen, erklärt Rudolf Steiner, dass seine Vision des Waldorflehrers die eines Erziehungskünstlers ist. Das ist eine Idee, mit der er Perspektiven anlegt, die andere schon vor ihm entwickelt haben, vor allem Goethe und Schiller. Was neu dabei ist, dass es nicht nur als philosophisch-pädagogisches Ideal dargestellt wird, sondern, dass die Grundlage einer Lehrerkunst ausdrücklich verbunden wird mit dem umfassenden Verständnis einer allgemeinen Menschenkunde und der sich daraus entwickelnden erhöhten Wahrnehmungs- und Intuitionsfähigkeiten. Sein Begriff von Erziehungskunst ist auch unmittelbar verbunden mit einem spezifischen Verständnis von Unterrichtsmethodik, die sich sowohl aus der Menschenkunde als auch aus der dynamischen Natur eines Unterrichts ergibt; dem Ein- und Ausatmen in einer Stunde, eine Ausgewogenheit zwischen kognitiven, emotionalen, willenshaften Vorgängen, zwischen Gedächtnis und Phantasie. Diese dynamische Balance zu erreichen wird als ein künstlerischer Vorgang angesehen, der von dem aufmerksamem Wahrnehmen und tiefen Verständnis des Lehrers für den Schüler abhängt, einhergehend mit einer umfassenden Offenheit für den „Pädagogischen Augenblick“. Es ist offensichtlich, dass das Erlernen einer solchen Erziehungskunst eine grosse Herausforderung darstellt. Wenn man jedoch die vielen Jahre kontinuierlichen Übens bedenkt, um die Kunst des Geigenspiels oder die Kunst des Malens zu lernen, wird es deutlich was zu erreichende Künstlerschaft auf einem Gebiet wirklich nach sich zieht. Und natürlich selbst für einen ausgebildeten Künstler bedarf es kontinuierlicher Arbeit, um die eigenen höchsten Standards aufrechtzuerhalten und weiter die Reife der Interpretation zu entwickeln. Es ist am Ende eine lebenslange Aufgabe, die eine dauernde Aufmerksamkeit verlangt und eine unaufhörliche persönliche Entwicklung. Waldorfunterricht so konsequent in das Gebiet der Künstlerschaft zu rücken, kann auch als radikaler pädagogischer Gedanke betrachtet werden.
Schliesslich machte Steiner in diesen ersten Kursen klar, dass die geistige und moralische Aufgabe der Waldorfpädagogik basiert im umfassenden Sinn auf der Verwirklichung der Beziehung des Geistigen im Menschenwesen zur geistigen Welt. Er verlangt auch von den Lehrern in dem Bewusstsein zu unterrichten, dass jeder Schüler sich inkarniert hat um die Möglichkeit zu bekommen weiterzuentwickeln auf eine Weise, die er in der geistigen Welt nicht tun konnte. Entsprechend gehört es zur Aufgabe eines Waldorflehrers diesen Inkarnationsprozess so zu unterstützen, dass sich die physischen, ätherischen und astralischen Leiber des Schülers harmonisch mit ihrem geistigen Wesen und Dasein verbinden können um die von ihm angestrebte Weiterentwicklung zu ermöglichen. Von dieser Perspektive aus gesehen kann die Eröffnung der ersten Waldorfschule auch als radikaler geistiger Akt betrachtet werden.
Aus diesem grösseren Zusammenhang der radikalen sozialen, pädagogischen und geistigen Quellen der Waldorfpädagogik möchte ich jetzt unseren Blick auf die Themen der Tagung werfen.
3. Eine alte Sufi Geschichte
Ich werde zuerst den Versuch unternehmen, den Begriff der Erziehungskunst näher zu untersuchen. In Bezug auf das, was Steiner in verschiedenen Vorträgen sagt, ist es deutlich, dass er nicht bloß Liedersingen oder Gedichte rezitieren meint. Dieses ist unzweifelhaft der Mühe wert, aber ist kaum das, was Steiner unter der Künstlerschaft des Lehrers verstand. Um hier konkreter zu werden, würde ich gerne zwei kontrastierende Beispiele aufzeichnen.
Was das Unterrichten überhaupt bedeutet, scheint eine uralte Frage zu sein. Die Folgende ist eine traditionelle Sufi-Geschichte:
Abu war ein junger Sufi-Lehrer. Eines Tages ruderte er mit seinem Boot über einen großen See. Beim Rudern in stille Kontemplation versinkend, überhörte er beinahe den entfernten spirituellen Gesang einer jungen Sufi-Schülerin. Als der dennoch in sein Bewusstsein drang, bemerkte er, dass diese Schülerin das Mantra nicht ganz korrekt sang, und er fühlte sogleich die Verpflichtung, seine Leidenschaft zu lehren zum Nutzen dieser Schülerin einzusetzen. So ruderte er denn voller Inbrunst zu der Insel, von der das Mantra erklang und war erfüllt von Gedanken an seine eigenen Lehrer, die ihn so großartig ausgebildet hatten.
Nachdem er die Insel erreicht und sich der Schülerin vorgestellt hatte, begann er sogleich mit seinen Instruktionen über die wahre Weise des Mantra. Seine Schülerin war ihm unermesslich dankbar. Viele Stunden verbrachten beide damit, Wortlaut und Tonfall des Mantra einzuüben und auswendig zu lernen.
Nachdem die junge Frau keinerlei Fehler beim Rezitieren mehr machte, verabschiedete sich ihr Lehrer und ruderte weiter über den See, erfüllt mit dem stolzen Gefühl einem anderen Menschen nützlich gewesen zu sein. Aus der Ferne erklang noch der Gesang seiner Schülerin, als ihm plötzlich gewahr wurde, dass sie wieder in die alte falsche Weise zurückfiel. Noch während er überlegte, ob er zurückrudern sollte, bemerkte er zu seiner Verwunderung, dass der Gesang immer lauter wurde.
Als Abu sich schließlich umwandte, sah er seine Schülerin, wie sie auf dem Wasser schreitend seinem Ruderboot nachfolgte. Dort angekommen, hörte er die Schülerin mit flehender Stimme sagen: "Mein guter Lehrer, bitte unterrichte mich noch einmal in der wahren Weise, dieses Mantra zu rezitieren. Ich habe alles vergessen, was du mich gelehrt hast." Abu jedoch war sprachlos.
Es gibt eine Anzahl verschiedener Ebenen, wie man mit dieser Geschichte umgehen könnte. Beginnen wir mit dem Offensichtlichsten: als Lehrer sind wir natürlich vertraut mit dem Phänomen, unsere Schüler etwas gelehrt zu haben, das sie scheinbar gut gelernt haben, und dann finden wir später heraus, vielleicht in der nächsten Hausaufgabe oder im nächsten Test, dass sie es eigentlich gar nicht gut gelernt haben. Wenn es einen Trost gibt, so scheint es dieses Phänomen bei Sufi-Meistern auch zu geben. Wenn wir zur selben Zeit auf unsere eigenen Erfahrungen als Lernende hinschauen, bin ich sicher, dass wir Beispiele auf verschiedenen Gebieten finden, auf denen uns dasselbe zugestossen ist. So ist es in diesem Sinn nicht schwierig, sich mit beiden Charakteren in dieser Geschichte zu identifizieren. Was Sie denken gelehrt zu haben, ist nicht notwendigerweise das, was gelernt wurde. Und was sie denken gelernt zu haben, ist nicht notwendigerweise das, was gelehrt wurde.
Wenn wir eine Ebene tiefer gehen, eröffnet die Geschichte eine andere Sichtweise auf das, was noch darin geschieht. Diese junge Schülerin, die falsch gesungen hatte, war so dankbar, korrigiert worden zu sein und war so in Not, als sie vergessen hatte, was sie eben gelernt hatte, dass sie auf dem Wasser wandelt, um ihren Lehrer zu erreichen. Mit anderen Worten hat sie einen Grad der Entwicklung erreicht, der sehr viel höher ist, als der des Sufi-Lehrers, der ihr so geduldig und leidenschaftlich beigebracht hatte, das Mantra „richtig“ zu singen. Am Ende ist er sprachlos. Weil sie die Worte vergessen hatte? Man will es nicht hoffen. In diesem Augenblick hatte er gerade realisiert, dass sie auf dem Wasser gewandelt war. Was hatte er vorher nicht gesehen? Was hatte er vorher nicht gehört?
Es ist ein wunderbares Beispiel für etwas, das wir die ganze Zeit tun; zuhören und schon wissen, korrigieren mit der Anmassung, dass wir die Antworten schon haben. Weil Abu sofort sicher war, dass er ihr etwas einprägen musste, hörte er auf zuzuhören. Anschliessend belehrte er seine Schülerin mit grosser Begeisterung und den besten Absichten. Es ist nicht schwer, uns selbst hierin zu sehen, nicht wahr? Die Auswirkung seiner ganzen Haltung, einschliesslich sein Enthusiasmus und seiner wohlmeinenden pädagogischen Absichten ist, dass er gerade nicht zuhört oder nicht wahrnimmt, wen er vor sich hat. Er befindet sich in seiner eigenen Vorstellung, in seiner Vergangenheit und kann so, weder für Gegenwart noch Zukunft offen sein. Vielleicht in dem Augenblick am Ende, als er plötzlich sprachlos ist, entsteht ein erster Augenblick von Offenheit und Präsenz, der Beginn seiner eigenen kreativen Verwandlung. In jedem Fall bietet dieser Moment für ihn eine Chance.
4. Oliver Sacks und „die Welt des Einfachen“
Ich würde gerne jetzt auf das zweite Beispiel hinschauen, das einen auffallenden Kontrast bietet. Es ist eine Situation, die von dem berühmten Neurologen Dr. Oliver Sacks beschrieben wird. Viele von Ihnen werden mit seinen wunderbaren Büchern vertraut sein die jeder Lehrer eigentlich verpflichtet sein müsste zu lesen. Sacks hatte ein ziemlich bemerkenswertes Leben und vielleicht kann das entscheidende Ereignis seiner ganzen Karriere gesehen werden als eine Situation die er darstellt in dem Buch „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ ganz am Anfang seines beruflichen Laufbahn. Es ist in dem Abschnitt des Buches, der „die Welt des Einfachen“ genannt wird und in dem Kapitel geht es um eine junge Frau namens Rebecca. Als er Rebecca zuerst traf, war sie 19 Jahre alt und lebte in einer Einrichtung für Behinderte, in der Sacks zum ersten Mal seinen Beruf ausübte. Ihr IQ war geringer als 60. Sie hatte eine Gaumenspalte und konnte kaum sehen. Sie hatte schwere kognitive und motorische Defizite und verbrachte z.B. Stunden damit, den Fuss in den falschen Schuh zu stecken. Sie konnte nur sehr zögernd sprechen, nur einen kurzen Ausbruch von Wörtern auf einmal. Trotz jahrelanger Versuche, sie zu unterrichten, war sie nicht fähig lesen oder schreiben zu lernen. Sacks schreibt:
Als ich ihr zum ersten Mal begegnete und sah, wie unbeholfen und linkisch sie war, glaubte ich, sie sei nichts weiter als ein gebrochener Mensch, dessen neurologische Unzulänglichkeiten ich feststellen und genau abgrenzen konnte: Es lagen zahlreiche Apraxien und Agnosien sowie eine Vielzahl sensomotorischer Behinderungen und Ausfälle vor und sie verfügte lediglich über Konzepte, die etwa denen eines achtjährigen Kindes entsprachen. In meinen Augen war sie ein armes Ding.
Er bemerkte, dass sie mit ihrer Grossmutter sehr vertraut war und stundenlang ganz hingerissen ihrer Grossmutter, die Geschichten mit einer schönen Lesestimme vorlas, lauschte. Das überraschte ihn sehr, aber er stellte keine Verbindung dazu her, dass dies zu seinen anderen Eindrücken nicht passte. Er beschreibt dann wie er an einem sonnigen Tag draussen spazieren ging:
Es war ein herrlicher Frühlingstag, und da meine Arbeit erst in einigen Minuten begann, ging ich noch ein wenig im Park der Klinik spazieren. Ich sah Rebecca auf einer Bank sitzen und schweigend, mit offensichtlicher Freude, die jungen Blätter und Triebe der Bäume betrachten. Ihre Haltung hatte nichts von der Unbeholfenheit, die mir beim ersten Mal so ins Auge gesprungen war. Wie sie da saß, in einem dünnen Kleid und mit einem leichten Lächeln auf ihrem ruhigen Gesicht, erinnerte sie mich plötzlich an eine von Tschechows jungen Frauen – Irene, Anja, Sonja, Nina – vor dem Hintergrund eines Kirschgartens. Sie hätte irgendeine junge Frau sein können, die einen schönen Frühlingstag genießt. Das war das menschliche Bild, der totale Gegensatz zu meinem neurologischen Bild.
Er geht zu ihr hin und sie beginnt in seltsamen Einwortsätzen zu sprechen:
“Frühling” “Geburt” “Wachsen” “Regung” “zum Leben erwachen” Jahreszeiten” “Alles zu seiner Zeit”
Er wird plötzlich an das Alte Testament erinnert:
“Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit...”
Dann vergleicht er sie in dem Augenblick mit der Art, wie sie ihm während der neurologischen und psychologischen Untersuchung erschien, in der sie so schlecht abschnitt und er realisiert, dass all diese Untersuchungen ausdrücklich nur entwickelt worden waren, um Defizite und Mängel aufzuzeigen. Was er durch die Untersuchungen nicht entdeckt hatte, war ihre Fähigkeit, die Welt der Natur als zusammenhängendes, verständliches, poetisches Ganzes wahrzunehmen und dass ihre innere Welt in dieser Beziehung heil und fein ausgebildet war.
Unsere Tests, unsere Ansätze und “Bewertungen” sind geradezu lächerlich unzulänglich, dachte ich, während ich sie auf der Bank sitzen sah, wo sie in eine Betrachtung der Natur versunken war, die nichts Einfältiges, sondern geradezu etwas Heiliges hatten. Sie zeigen uns nur die Mängel, überlegte ich weiter, nicht aber die Fähigkeiten; sie führen uns Puzzles und Schemata vor, während es doch darauf ankommt, Musik, Geschichten und Spiele zu begreifen und zu erkennen....“
Er betrachtet sie ab diesem Zeitpunkt in einem ganz anderen Licht und sie kommen sich im Laufe der Zeit zunehmend näher: „Als ich sie weiter sah, schien sie an Tiefe zu gewinnen, oder vielleicht entfaltete sie ihre Tiefe mehr und mehr“. Dann starb ihre Grossmutter und sie war vor Kummer wie erstarrt. Er versucht ihr zu helfen, schickt sie zu Beschäftigungsgruppen und Arbeitskreise für Menschen wie sie. Und dann nach einer Weile sagt sie ihm eines Tages: „Ich möchte keine Gruppen und Arbeitskreise mehr haben. Diese können nichts für mich tun. Sie bringen mich nicht zu mir selbst.“ Sie versuchen gemeinsam herauszufinden, was sie stattdessen möglicherweise tun könnte, und dann sagt sie: „Es muss Sinn für mich haben. Die Gruppen haben keinen Sinn..., was ich wirklich liebe, ist das Theater.“ Sie bringen sie zu einer speziellen Theatergruppe, die sie sofort liebt und in der sie wunderbar mitmacht. Das Schauspielen fordert sie, sie wird zu „einer Person in ihrer Ganzheit, ausgeglichen, fliessend, mit Stil in jeder Rolle“. Und Sacks schreibt weiter, dass das Theater dann zum Mittelpunkt ihres Lebens wird und dass, wenn man Rebecca auf der Bühne sieht: „man nie vermuten würde, dass sie geistig behindert war“. Und er schliesst mit folgender Feststellung:
Es war ein glücklicher Umstand, dass ich diese beiden so grundverschiedenen Erscheinungsformen von Rebecca vorgeführt bekam – einerseits war sie hoffnungslos zurückgeblieben, andererseits gaben ihre Potentiale Anlass zu Zuversicht und dass sie zu den allerersten Patienten gehörte, mit denen ich in der Klinik zu tun hatte. Denn was ich in ihr sah, was sie mir zeigte, entdeckte ich jetzt auch in allen anderen.
Sacks verschiedene Bücher offenbaren das, was er an seinen verschiedenen Patienten entdeckt hat; Menschen, die oft hinter den Masken von schweren neurologischen Problemen völlig versteckt waren. Er bleibt auch mit vielen dieser Patienten über Jahrzehnte verbunden und verfolgt, was mit ihnen im Laufe ihres Lebens geschieht. Man wird oft an Steiners Anweisung erinnert, immer die Langzeitwirkung der Erziehung nach 20, 30, 40 Jahren zu bedenken. Diese bemerkenswerten neurologischen Fallstudien können entsprechend auch als Vorbild für pädagogische Fallstudien angesehen werden.
5. Sehen und Hören im Zusammenhang mit Geisteswissenschaft
Was offenbaren diese beiden Geschichten über die Natur von Kreativität und Verwandlung? Es kann hier offensichtlich viel gesagt werden. Ich möchte gerne zuerst die Qualitäten der Wahrnehmung betrachten. Sacks sieht Rebecca draussen im Frühlingslicht – etwas ganz Neues und Unerwartetes – und da gibt es plötzlich eine Assoziation zu den Charakteren von Tschechow; er hört ihre langsame, poetische Sprache und er hat sofort eine Assoziation zu der Bildhaftigkeit und Sprache des Alten Testaments. Während dieser Augenblicke taucht sie vor ihm aus dem Schatten ihrer Diagnose auf, und er realisiert dann, wie er und die medizinische Wissenschaft ihre Patienten ansehen. Was Nietzsche den Blick der „kalten grauen Augen“ nennt, wird plötzlich verwandelt und er beginnt sie und dann anschliessend seine anderen Patienten völlig anders wahrzunehmen.
Ich denke dieser Vorgang ist verbunden mit einer wesentlichen Dimension, die der Waldorfpädagogik zugrunde liegt. Die Berichte der ersten Lehrer, die direkt mit Rudolf Steiner zusammenarbeiteten, zeigen sehr deutlich, dass Steiner vor allem in der Entwicklung solcher Wahrnehmungsfähigkeiten die besten Möglichkeiten sah, die Ziele der Waldorfpädagogik zu verwirklichen. Einer dieser Lehrer, Erich Schwebsch schreibt:
Alles ging bei Rudolf Steiner auf das Ergreifen der individuellen Gegenwart des Geistes in jedem Menschen aus. Denn im Kleinsten wirkt sich das Ganze des Menschen aus. Und so ward die Erziehung, die Rudolf Steiner für den Lehrer gegeben hat, neben vielem anderen der Weg zum Erkennen dieser Gegenwart des Geistes im einzelnen Falle, den das Leben vor uns als Aufgabe stellt.
Dann erklärt er konkreter was das bedeutet:
Er schulte den künstlerischen Blick für Gestalt, Rhythmus, Farbe, Intensität der Lebensäusserungen am menschlichen Organismus. ... Da konnten dann allerdings manchmal die Schuppen von den Augen fallen. Und auch hier konnte es keine neue Tradition, sondern aus Erfahrungen und befreienden Erkenntnissen erwachsen erste neue wissende Instinkte, geben. Was er gab, war nicht Lehre, sondern ein Augeneröffnen.
Was Schwebsch hier beschreibt gehört zum Wesen aller Geisteswissenschaft – eine selbstlose Aufmerksamkeit, eine selbstlose intentionale Zuwendung. Worin liegen die Quellen für solche Handlungen? Ich glaube, dass sie einem tiefen Interesse für die Anderen und einer Offenheit und Empfänglichkeit für die ernsthaften Fragen zugrunde liegen. In der Sufi-Geschichte hatte Abu keine Fragen; er hörte ihren Gesang und wusste genau, was und wie er es zu tun hatte. Wohingegen beim Sacks im Augenblick als er diese sehr behinderte und schöne Frau im Frühlingslicht anschaut und er ihrer poetischen Schilderung des Frühlings lauscht, ändert sich etwas Prinzipielles in ihm und er fängt an seine vorigen Schlüsse in Frage zu stellen. Das führt ihn dazu die ganze Art der Diagnose und den Blickwinkel, aus dem er seine Patienten betrachtet hatte, in Frage zu stellen. Schliesslich werden seine ganze Ausbildung und sein Beruf in einem neuen Licht wahrgenommen. Die Verwandlung seiner Wahrnehmung hat auch etwas Grundlegendes in ihm verwandelt.
Von diesem Augenblick an beginnt er mit diesen Fragen kreativ zu leben. Er fängt an anders wahrzunehmen und, am wichtigsten, anders zu handeln – so wie Rebecca es auch tut. Dann nimmt sie ihr Leben in ihre eigenen Hände und sagt an einem Punkt zu ihm, dass sie keine Therapie in der Klinik mehr haben will. Im Laufe ihres folgenden Gesprächs entsteht erstmals die Idee Theater zu spielen, die später zu einer existentiellen Wahl wird, eine Wahl, die sie befähigt Dimensionen ihrer selbst auszudrücken und darzustellen, die sonst unberührt, ungehört und ungesehen geblieben wären.
6. Das Selbst als Wille
Was erzeugt die Veränderung in beiden? Offensichtlich befinden wir uns in solchen Verwandlungen tief im Bereich der Tat und des Willens; das sind nicht nur Worte. Wir sind letztlich im Bereich des Selbstes und ich würde gerne in den Raum stellen, dass es jeweils das „höhere Selbst“ von Sacks und Rebecca ist, das als treibende Kraft in jedem von ihnen empfunden werden kann.
Der Begriff eines „höheren Selbst“, hier zu unterscheiden vom „Alltags-Ich“, ist grundlegend für Anthroposophie und für Waldorfpädagogik. Es offenbart sich am deutlichsten nicht in den Begabungen, in dem was auf leichte und natürliche Weise herauskommt, in dem was auf den ersten Blick am offensichtlichsten erscheint, sondern vielmehr in dem Willen, der eine Person antreibt, das zu erreichen, was noch nicht da ist, was gerade nicht leicht zu erlangen, aber doch wesentlich für sie ist. In Sacks Fall kann das vielleicht gesehen werden in seinem andauernden Überwinden seiner von ihm selbst beschriebenen, sehr introvertierten und verschlossenen Natur. In Rebeccas Fall ist es deutlich, dass sie viele ausserordentliche Hürden überwinden muss, um den Punkt, der am Ende beschrieben wird, zu erreichen.
Es gibt noch eine andere Dimension, die sich hier offenbart. Jeder von ihnen braucht den Anderen, um diese Entwicklungen zu machen. Der Psychologe Viktor Frankl drückt es so aus:
Im Dienst an einer Sache oder in der Liebe zu einer Person erfüllt der Mensch sich selbst. Je mehr er aufgeht in seiner Aufgabe, je mehr er hingegeben ist an seinen Partner, um so mehr ist er Mensch, um so mehr wird er er selbst. Sich selbst verwirklichen kann er also eigentlich nur in dem Maße, in dem er sich selber vergisst, in dem er sich selbst übersieht.
Diese existenzielle Verbindung zwischen Selbstlosigkeit und die Entwicklung des eigenen Selbst wird bei Sacks deutlich in den ganzen Auswirkungen seiner Begegnung mit Rebecca,vor allem in seinen anschliessenden tiefen und langjährigen Beziehungen zu seinen Patienten. Wenn man auch betrachtet, was Rebecca als Künstlerin erreichen konnte, indem sie in das Leben anderer Charaktere eintritt und diese Rollen für Zuschauer spielt, denke ich, dass auch vergleichbare Bezüge zwischen das Selbstlose und die Entwicklung ihres Selbst für sie da sein konnte. Was diese Entwicklungen auch gemeinsam haben ist, dass solche Schritte gar nicht „gelehrt“ werden können. Diese können nur durch die Personen selbst gemacht werden; jedoch haben sie die andere Person auch dringend nötig. Das lässt das Unterrichten in einem anderen Licht erscheinen.
7. Fremdsprachen in Waldorfschulen unterrichten
Ich möchte am Ende zurückkommen auf die konkreten Realitäten des Fremdsprachenunterrichtes und dabei drei Fragen stellen. Am Anfang dieses Vortrages habe ich über die radikalen Ursprünge der Waldorfpädagogik gesprochen. Es ist zweifellos ein weiteres radikales Element des Waldorfunterrichts, dass wir aufgefordert sind, immer wieder an die höchsten Fragen zu denken, Fragen, die sich auf ein ganzes Menschenleben beziehen, während wir auch versuchen unsere konkreten Stunden so gut wie möglich zu geben. Diese Beziehung zwischen dem Ganzen und dem Konkreten ist eine grundlegende und kann auch als rhythmischer Vorgang verstanden werden. Dies ist auch nicht nur ein esoterisches Prinzip – es liegt begründet in unserer Erfahrung des Hier und Jetzt. Eine der Tradition der grossen Kulturen ist, dass Ideale konkret gelebt werden sollten, dass der Töpfer jemand ist, der versucht mit den grossen, ewigen Fragen zu leben, während er zur selben Zeit ein Gefäss formt. Meine erste Frage bezieht sich auf diesen Prozess: Was bedeutet es konkret für den Fremdsprachenunterricht, wenn beides in einem Klassenraum anwesend ist – die bestimmte sprachliche Arbeit, die getan werden soll und die grundlegendeBeziehung zum Ganzen des Kindes und zu seinem weiteren Leben?
In Ihren Methodikgruppen diese Woche, wenn Sie den verschiedenen Arten des Fremdsprachenunterrichtes nachgehen, hoffe und vertraue ich, dass diese Frage und Beziehung gegenwärtig ist und besprochen wird.
Ich möchte gerne zwei weitere Fragen stellen, die eng mit dem Thema dieser Tagung verbunden sind. Die erste hat mit der Differenzierung zwischen dem Üben und dem Training zu tun. Es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen beiden und die Bedeutung dieses Unterschieds liegt im Herzen dieser Tagung. Was sie zuerst gemeinsam haben ist eine Regelmässigkeit; es wird etwas wiederholt und dann immer wieder. Während des gesamten Prozesses der Wiederholungen bleibt das Training eindeutig zielorientiert. Zum Beispiel wenn Sie im Fitness-Studio trainieren um Ihre Muskeln zu stärken, tun Sie es nicht aus einem innerlichen Anlass Gewichte nur so zu heben, sondern Sie wollen dieses Ziel der Muskelstärkung erreichen. Da ist auch nichts Falsches daran.
In der Schule trainieren unsere Schüler auch auf Ziele hin, vielleicht am intensivsten für die zentralen Prüfungen in der Oberstufe. Sie werden bestimmte Dinge regelmässig wiederholen, damit sie diese in der Prüfung so gut wie möglich können. Aber auch früher wurden unsere Schüler oft aufgefordert für Tests, Diktate, Examen etc. zu trainieren. Ich will nicht damit sagen, dass das grundsätzlich falsch ist: Ich möchte nur jetzt versuchen die Unterscheidung zwischen dem was Trainieren und das Üben bedeuten können deutlich zu machen.
Jeder, der gelernt hat etwas zu üben – ein Instrument, ein Handwerk, eine Meditation – weiss, dass die bewusste und dauernde Praxis dieser Aktivität zu etwas grundlegend Neuem führen kann. Der Geigenspieler, der Zimmermann, der Meditierende haben gemeinsam, dass sie durch die Praxis des Übens verwandelt wurden. Was sie geübt haben, hat sich tief mit ihrem Leib, mit ihren Bewegungen und ihrem Willen verbunden. Es wurde auch Teil ihres Gefühlslebens und ihrer Art zu denken. Die schönste Beschreibung der verwandelnden Fähigkeiten des Übens, die ich kenne, ist das klassische Werk von Eugen Herrigel „Zen und die Kunst des Bogenschiessens“, mit dem vielleicht einige von Ihnen vertraut sind. Von der Perspektive aus, die Goethe uns anbietet, können wir sagen, dass durch das Üben neue Wahrnehmungsorgane entwickelt werden können. Solche Entwicklungen geschehen, weil die ganze Aufmerksamkeit auf die Arbeit selber gerichtet ist, und nicht auf ein äusseres Ziel. So die nächste Frage, die ich stellen will, ist: Wie können wir Wege finden, dass unsere Schüler solche Formen und Chancen des Übens beim Fremdsprachenlernen erfahren?
Die letzte Frage, die ich stellen möchte, bezieht sich auf die Erfahrung des Staunens - Augenblicke, in denen Schüler völlig überrascht und bewegt sind – präsentiert mit etwas, das sie nie erfahren oder sich vorgestellt haben. Was Abu unmittelbar realisiert, als er seine Schülerin auf dem Wasser wandeln sieht, und was Sacks plötzlich begreift, als er Rebecca im Frühlingslicht erblickt, sind Zeugnisse für die Kraft solcher Augenblicke des Staunens. Die sind oft sehr schöpferische Momente und sie können einen Menschen tief verwandeln. Es ist offensichtlich, dass dies auf sehr verschiedene Weise in einer 1. Klasse, einer 6. Klasse und in einer 12. Klasse vor sich geht. Es ist auch einleuchtend, dass das nicht in jeder Stunde bei jedem Schüler geschehen kann! Nichts desto weniger ist es wesentlich zu realisieren, dass die Waldorfpädagogik uns reiche Möglichkeiten und die Freiheit bietet, Wege des Staunens zu suchen und wahrzunehmen. Meine dritte Frage ist entsprechend diese: Wie können wir mehr Erlebnisse des Staunens in der Fremdsprachenunterricht der Unter-, Mittel- und Oberstufe schaffen?
Lassen Sie uns diese Woche in unseren Methodikkursen auf Inhalte und Methoden schauen, in denen solche Erfahrungen unseren Schülern ermöglicht werden können. Und in unseren künstlerischen Kursen lasst uns unsere Instrumente der Stimme, der Gebärde und des Ausdrucks, die Fähigkeiten in Drama und zur Improvisation, in Kürze, unsere eigene Künstlerschaft als Lehrer entwickeln – die alles dazu beitragen wird, solche Erfahrungen für unsere Schüler möglich zu machen. Schliesslich lasst uns der Tatsache erfreuen, dass so viele von uns hier sind, von so verschiedenen Orten der Welt, um diese Schritte gemeinsam miteinander zu gehen.
Übersetzt von Barbara Seefried
Peter Lutzker ist Professor für Waldorfpädagogik an der Freien Hochschule Stuttgart. Er studierte Musik und Literatur in den USA und Deutschland. Während 25 Jahren unterrichtete er Englisch an Waldorfschulen in Deutschland und war in der Aus- und Weiterbildung von Fremdsprachlehrkräften in Europa, Asien und den USA tätig. Von ihm sind zahlreiche Artikel und Bücher über Sprache und Fremdsprachunterricht erschienen, unter anderem The Art of Foreign Language Teaching: Improvisation and Drama in Teacher Development and Language Learning.
Bibliography
Frankl,Viktor E.: Das Leiden am sinnlosen Leben. Psychotherapie für heute. Freiburg: Herder, 1977.
Hattie, John. Visible Learning for Teachers: Maximizing Impact on Learning. London: Routledge, 2012.
Herrigel, Eugen. Zen in der Kunst des Bogenschiessens. Munich: O.W. Barth, 1982.
Meixner, Johanna. Das Lernen im Als-Ob: Theorie und Praxis ästhetischer Erfahrung im Fremdsprachenunterricht. Tübingen: Narr, 2001.
Sacks, Oliver. The Man Who Mistook His Wife for a Hat and Other Clinical Tales. N.Y.: Harper, 1990.
Schwebsch, Erich. Erziehungskunst aus Gegenwart des Geistes. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben, 1953