Es begann an einem Tag vor etwa sieben Jahren. Ich besuchte eine etablierte Waldorfschule und fragte die Lehrpersonen, welche innovativen Ideen sie denn bisher umgesetzt hätten. Eine Lehrerin sagte mir ziemlich forsch: „wir sind nicht innovativ, wir befolgen die Angaben von Rudolf Steiner.“ Ich war leicht schockiert, aber ich begann, über diesen Punkt nachzudenken. Ich glaube, diese Art des Denkens, welche diese Lehrerin zeigte und in unseren Schulen auf verschiedene Weisen lebt, kann wirklich hemmend wirken. Steiner sagte, „er [der Lehrer] darf in keinem Momente seines Lebens versauern […] [und er sollte] lebendiges Interesse haben für alles, was in der Welt vorgeht.“ (1)
Wenn wir aber nur Steiners pädagogischen Hinweisen folgen und keinen anderen Ideen Raum geben würden, würden wir uns neuen Möglichkeiten verschliessen. Wir wüssten nicht, welche Themen in den Erziehungswissenschaften gerade diskutiert werden oder was unsere Schülerinnen und Schüler heute und in der Zukunft brauchen.
Natürlich können und sollen wir Rudolf Steiners Angaben studieren und sie in Beziehung setzen zu unserem Unterricht, zu unserem Arbeitsleben, sowie zu unserer inneren Entwicklung. Aber wir müssen auch offen bleiben für Neues, unsere Gedanken lebendig erhalten und uns immer bewusst sein, was wir tun, warum wir es tun, wie wir zu neuen Einfällen kommen, wie wir ein besseres Umfeld für unsere Kinder schaffen und besonders, wie wir unablässig kreativ bleiben.
Steiner wollte, dass wir eine Beziehung zur geistigen Welt aufnehmen, um phantasievoll zu werden. Im vierzehnten Vortrag der Allgemeinen Menschenkunde gab er dazu gezielte Hinweise:
„Durchdringe dich mit Phantasiefähigkeit,
habe den Mut zur Wahrheit,
schärfe dein Gefühl für seelische Verantwortlichkeit.“ (1)
Vor ein paar Jahren wurde ich angefragt, ein Kapitel für das Buch “Teaching with Spirit: New Perspectives on Steiner Education in Australia” (2) zu schreiben. Ich wählte das Thema “Innovation und Herausforderung in der Pädagogik Steiners.
Nun musste ich wirklich lange nachdenken. Sind Waldorfschulen innovativ? Was ist der Unterschied zwischen künstlerischem Unterrichten, Kreativität und Innovation? Wie verankern wir unsere Arbeit in der Philosophie und Pädagogik Steiners und bleiben trotzdem offen für die Ideen Anderer? Diese Gedanken hatte jene Kollegin ausgelöst, die sagte, dass wir in Steinerschulen „nicht innovativ sind, sondern nur Steiners Angaben befolgen.“
Im Anschluss an die Weltlehrertagung 2008 hatte ich die Gelegenheit, mit vielen Lehrerinnen und Lehrern die Frage zu diskutieren, inwiefern sich Australien von Europa und dem Rest der Welt in Bezug auf die Umsetzung von Steiner's Pädagogik unterscheidet. An dieser Konferenz waren viele Länder vertreten. Die Lehrpersonen diskutierten den starken Einfluss von Europa auf den Waldorflehrplan und wie sie ihn den Bedürfnissen ihres Landes, ihrer Region, und ihrem eigenen historischen und religiösen Kontext anpassen. Im Anschluss dachte ich darüber nach, was Burrows und Stelik im Vorwort ihres Buches schreiben:
„Es ist wirklich an der Zeit, dass wir unseren eigenen, basisdemokratischen Ansatz zur Steinerpädagogik in Australien entwickeln; ein Ansatz der unserem eigenen, einzigartigen Kontext und Land entspringt und lokales und globales Wissen und Können einbezieht.“ (2)
Sie schreiben auch:
„…unter dem Einfluss neuer Technologien und sozialen Formen, Globalisierung, Inklusion, Massenkommunikation und pädagogischen Trends – ist es an der Zeit, zu reflektieren wie die Steinerpädagogik in Australien es geschafft hat, sich dem Ursprung und Impuls der ersten Waldorfschule und ihres Lehrplans über die letzten fünfundfünfzig Jahre zu verpflichten, und gleichzeitig die lokalen und zeitgenössischen Impulse und Zusammenhänge – inklusive der einzigartigen indigenen Geschichte und des multikulturellen Ursprungs unserer modernen Gesellschaft – einzubeziehen.“ (2)
Vor ein paar Jahren liess ich mich dann inspirieren durch „Class Learners“ (3), ein Buch des internationalen Pädagogen Yong Zhao. Letztes Jahr besuchte ich seinen Vortrag über die Bedeutung des Unternehmertums im 21. Jahrhundert und seiner Forschung über die Berufe der Zukunft bei einer Konferenz für Führungskräfte in Sydney. Forscherinnen und Forscher gehen davon aus, dass die heutigen Kindergartenkinder beim Start ins Berufsleben ihren Beruf selber werden erfinden müssen oder dass sie als Erwachsene ihren Beruf mehr als zehn Mal wechseln werden! Das bedeutet, dass sie bestimmte Qualitäten brauchen, um in der globalen Wirtschaft der Zukunft erfolgreich zu sein, in einer Wirtschaft, wo die Automatisierung und Serienproduktion von westlichen Gütern im Fernen Osten die Beschäftigungsmöglichkeiten in den zurzeit wohlhabenden Wirtschaftssystemen verringern werden.
Yong Zhao sagt:
„Um globale, kreative und unternehmerische Talente zu fördern (….) ist die bestmögliche Bildung natürlich eine, die Neugierde und Kreativität anregt, die Risikobereitschaft unterstützt und den Unternehmergeist im Kontext der Globalisierung kultiviert.“ (3)
Und so frage ich mich, wie kann die Steiner Pädagogik diese Qualitäten noch besser fördern?
Wie werden wir im Jahr 2028 leben? The Centre Online hat dazu ein Video veröffentlicht, welches ich sehr empfehle. (4)
Wie bereiten wir Kindergartenkinder auf diese, sich ununterbrochen verändernde Welt vor? Veränderungen haben noch nie so schnell stattgefunden wie in den letzten Jahrzehnten. Steinerschulen in allen Ländern diskutieren fortlaufend, welche Änderungen im Lehrplan nötig sind und wie die Unterrichtspraxis und die Arbeit mit Schülern und Eltern kontinuierlich verbessert werden kann. Wir wollen uns nicht um der Veränderung willen verändern, sondern mit offenem Geist forschen, wie unsere Pädagogik der Zukunft Rechnung trägt; immer auf der Basis, dass das sich entwickelnde Bewusstsein des Menschen im Zentrum steht.
Um ganz ehrlich zu sein: Ich glaube, dass wir in Steinerschulen manchmal leicht überheblich sein können. Wir meinen, dass unser Weg der einzige ist und wir verschliessen uns vor anderen Möglichkeiten, die für unsere Schülerinnen und Schüler hilfreich sein könnten oder wir klammern uns dogmatisch an das, was wir schon immer gemacht haben. Christof Wiechert sprach über diesen Punkt an der australischen Steiner Pädagogik Konferenz im Juli 2017 in Sydney und ermutigte uns alle, besonders genau darüber nachzudenken, was wir tun und warum wir es tun; den Status quo zu hinterfragen.
2016 wurde ich angefragt, an der „K-12 Cultural Innovation“, einer Konferenz für Pädagogik ausserhalb der Steinerschulbewegung, zu sprechen. Das brachte mich wirklich ins Grübeln. Sind wir innovativ? Meine Präsentation sollte über eines der folgenden Themen sein:
Welche neuen Konzepte befinden sich gerade in Entwicklung, die den Unterschied zwischen traditionellen und zukünftigen Schulformen ausmachen?
Die soziale Aufgabe der Schule
Hat sich die Schulführung verändert, wenn sich die Rahmenbedingungen verändert haben?
Wie können wir eine Kultur der Veränderung, Forschung und Innovation in unseren Schulen verankern, so dass diese im Alltag sichtbar wird?
Ich wählte die vierte Frage, Kultur der Veränderung, Forschung und Innovation, und ich erhoffte mir, dass die Zuhörerinnen und Zuhörer beeindruckt sein würden von dem, was wir tun und es für kreativ oder innovativ halten würden. Ich beschrieb architektonische Innovationen, unsere wunderschöne Lernumgebung und Unterrichtsmethoden, von denen ich mir erhoffte, dass Andere sie innovativ finden würden.
Ehrlich gesagt, war ich völlig beschämt durch einige der Präsentationen von anderen unabhängigen Schulen und Staatsschulen. Ich war sehr beeindruckt, denn sie bewiesen nicht nur Kreativität, sondern auch einen echten Willen, radikale Ideen umzusetzen, sie zu testen, zu reflektieren und zu zeigen, wie diese Methoden das Lernen, das Wohlbefinden oder soziale Prozesse verbessert haben. Einige der Ideen würde ich nicht in einer Steinerschule ausprobieren, aber das heisst nicht, dass sie nicht erfolgreiche Innovationen sind.
Terminologie
Die Diskussion über Innovation wird oft erschwert weil man sich nicht im Klaren ist, was die Schlüsselbegriffe genau bedeuten. Im besonderen herrscht Ratlosigkeit über den Unterschied zwischen Kreativität, Innovation und Erfindung.
Hier ist eine Auswahl an Definitionen:
“Kreativität ist die Fähigkeit oder Handlung, etwas Originelles oder Ungewöhnliches wahrzunehmen.“
“Innovation ist die Umsetzung von etwas Neuem.”
“Erfindung ist das Erschaffen von Etwas, das noch nie zuvor gemacht wurde und welches als das Produkt einer einzigartigen Erkenntnis wahrgenommen wird.”
Wenn man als Gruppe ein sogenanntes Brainstorming macht und auf Dutzende neue Ideen kommt, dann war man wohl kreativ, aber erst wenn eine Idee umgesetzt wird, kann man von Innovation sprechen. Hat Innovation daher mit der Entwicklung des Willens zu tun?
Jemand muss ein Risiko eingehen und etwas neues tun, um eine kreative Idee in eine Innovation zu verwandeln. Ich glaube, Rudolf Steiner war ein Innovator! Wahrscheinlich können wir in jedem Bereich der Schule innovativ werden.
Innovationen können schrittweise geschehen oder radikal sein. Jede Verbesserung eines Produktes oder einer Dienstleistung kann man als Innovationsschritte sehen. Die meisten Firmen und Führungspersonen beherrschen die kleinen Innovationsschritte. Sie erkennen alltägliche Probleme und korrigieren sie. Für radikale Innovationen muss man jedoch ganz neue Wege finden, darum ist ihre Umsetzung risikoreich oder schwierig.
Die Realität in der heutigen Bildungslandschaft ist in den meisten Ländern so, dass wir uns zunehmend innerhalb eines vorgegebenen Handlungsrahmens zu bewegen haben. Dies ist ein Aufruf an uns alle, kreativ zu bleiben und Innovationen umzusetzen, um die Integrität der Steinerpädagogik zu schützen, dabei bleiben wir aber den externen Bedingungen zur Rechenschaft verpflichtet. Gleichzeitig müssen wir alte Methoden offen hinterfragen und entscheiden, ob etwas Routine, Rhythmus ist, oder ob es einfach so ist, wie wir es hier immer gemacht haben.
Bist du als Lehrerin oder Lehrer kreativ? Ich bin sicher, dass du diese Frage bejahen wirst. Nun, denk mal nach… bist du innovativ?
Wie viele Lehrpersonen borgen sich Unterrichtsprogramme von anderen aus? Natürlich muss man das Rad nicht dauernd neu erfinden und wir haben alle viel zu tun. Aber erinnere dich an deine beste Lektion, deine beste Geschichte, als die Kinder wirklich inspiriert und engagiert waren oder etwas Neues erfunden haben. War das eine Lektion, die du dir von einer anderen Lehrperson ausgeliehen hattest oder hast du selbst daran gearbeitet, um etwas aus deiner eigenen Vorstellungskraft zu erschaffen und es im Schulzimmer umzusetzen? Oder beides?
Anthroposophische Grundsätze
Kehren wir nun zu Steiners Zitat zurück: “durchdringe dich mit Phantasiefähigkeit”. Steiner fordert uns auf, zur Unterstützung unserer Arbeit eine Verbindung mit der geistigen Welt aufzunehmen, indem wir ein reiches Innenleben entwickeln.
Steiner gibt uns viele Hinweise, um auf dem inneren Weg, in der Arbeit mit den geistigen Hierarchien, vorwärts zu kommen (oder uns im Kreis zu drehen!). In seinen Vorträgen und Schriften appelliert er an die Lehrpersonen, als Gruppe mit den Stärken jedes Einzelnen zu arbeiten. Steiner gab den Lehrpersonen die Imagination, um die Hilfe der geistigen Welt aufzurufen. Diese Imagination gibt uns das innere Bild, das wir für unsere Arbeit brauchen und hilft uns zu verstehen, dass die Welt der Engel uns Kraft schenkt. Ein Schale wird durch den Reigen der Erzengel gebildet und in diese Schale fällt ein Tropfen des Lichts, der Weisheit, eine Inspiration der Archai.
Dies bringt mich zu einem tieferen Nachdenken darüber, was Innovation im Licht der Anthroposophie bedeutet.
Möglicherweise haben wir neue Ideen (das Licht der Weisheit), aber wir müssen auch den Mut haben, diese umzusetzen, sogar wenn sie radikal scheinen. Wir dürfen keine Angst haben, kritisiert zu werden von dogmatischen, engstirnigen Reaktionen. Wir dürfen uns nicht bremsen lassen von Traditionen oder uns von Routine und Rhythmen einschläfern lassen. Wenn wir das Licht der Inspiration erhalten und neue Ideen haben, müssen wir auch die Willenskraft aufbringen, diese umzusetzen, sonst sind wir schläfrig kreativ, aber nicht wahrhaft innovativ.
Das ist für mich der Unterschied zwischen Kreativität und Innovation. Steiner hat uns ein reichhaltiges Gewebe gegeben, womit wir den Menschen verstehen können und eine Philosophie, die uns leiten kann; wir müssen aber seine Worte so umformen und daraus etwas machen, das für uns bedeutungsvoll ist. Es gibt einen schmalen Grat zwischen künstlerischer, kreativer Schläfrigkeit und Willenskraft – dem Wagnis, anders zu sein, es wagen, Neues auszuprobieren; ein Risiko einzugehen anstatt davor zurückzuschrecken.
Wir müssen Vorbilder für unsere Schülerinnen und Schüler sein, darum finde ich es wichtig, innovativ zu sein, neue Wege zu finden, als risikobereite Menschen in der Welt zu stehen, Vorbilder zu sein in Bezug auf Integrität und Rechenschaft.
Lehrerinnen und Lehrer an Steinerschulen können sich sehr über staatliche Vorschriften ärgern und über die Einschränkung ihrer Kreativität lamentieren. Ich wehre mich gegen diese Art des Denkens und mag das Klagen nicht mehr hören, denn dies ist nun mal die Welt, in der wir leben, die Welt in der wir unsere Arbeit tun müssen. Steiner hat uns viele Werkzeuge gegeben, um mit den Gegebenheiten unserer Zeit umzugehen. Erinnern wir uns an Steiner's Michaelsworte:
„Wir müssen mit der Wurzel aus der Seele ausrotten Furcht und Grauen vor dem, was aus der Zukunft herandringt an den Menschen. Wie bangt und ängstigt sich der Mensch heute vor allem, was in der Zukunft liegt und besonders vor der Todesstunde. Gelassenheit in Bezug auf alle Gefühle und Empfindungen gegenüber der Zukunft muß sich der Mensch aneignen, mit absolutem Gleichmut entgegensehen allem, was da kommen mag, und nur denken, daß [das], was auch kommen mag, durch die weisheitsvolle Weltenführung uns zukommt. Dies muß immer wieder und wieder vor die Seele gestellt werden. Das führt dazu, wie ein Geschenk zu empfangen die rückschauenden Kräfte für vergangene Erdenleben.“ (5)
Vertraue in die geistige Welt und du wirst den nötigen Tropfen des Lichtes erhalten, die Inspiration um künstlerisch, kreativ und mit einem reichen Innenleben zu unterrichten.
Habe den Mut zur Wahrheit – sage mutig deine Meinung auch wenn sie von der Norm abweicht, und sei offen für die Meinung Anderer.
Und zum Schluss: Beherrsche deinen Willen – verwandle kreative Ideen in innovative Taten!
Wie oft verbringen wir unsere Zeit in Teamsitzungen, machen Brainstorming, generieren tolle Ideen, schreiben sie auf und trotzdem passiert nichts oder nur sehr wenig? Und wie oft sitzen wir nächstes Jahr wieder in der selben Runde und diskutieren über fast die gleichen Themen?
„Willst du dich selbst erkennen, so suche in den Weltenweiten dich selbst;
Willst du die Welt erkennen, so dringe in deine eigenen Tiefen. Deine eigenen Tiefen werden dir wie in einem Weltgedächtnis die Geheimnisse des Kosmos erschließen.“ (6)
Bevor wir kreative, innovative Schülerinnen und Schüler haben, müssen wir kreative, innovative Lehrpersonen haben! Wir müssen die jungen Menschen auf die Zukunft, auf das Leben vorbereiten, nicht nur auf den Beruf. Viele pädagogische Reformen, die von den Behörden verordnet werden, basieren auf der Annahme, dass Bildung dazu da ist, eine Arbeitsstelle zu finden, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. Aber in Steinerschulen sehen wir die jungen Menschen als geistige Wesen, die ihr Bewusstsein entwickeln und darum basiert unser pädagogischer Ansatz auf den Entwicklungsschritten, die Steiner so genau beschreibt.
Und trotzdem frage ich mich: sind wir festgefahren? Sind wir zu sehr auf die altersgemässen Entwicklungsstufen fokussiert? Junge Menschen verändern sich, die Welt verändert sich. Ein Kind im Jahr 1919 ist nicht das selbe wie ein Kind im Jahr 2017. Steiners Pädagogik ist fast hundert Jahre alt, darum müssen wir die Schülerinnen und Schüler genau beobachten und auf ihre Bedürfnisse in der heutigen Gesellschaft mit all ihren Herausforderungen eingehen. Das globale Bewusstsein beeinflusst die jungen Menschen, denn die Welt kommt durch die winzigen, digitalen Geräte zu ihnen. Es gibt keine Grenzen und keine Sicherheiten mehr. Junge Menschen können sich nur noch auf sich selbst verlassen, darum müssen wir innovative Wege finden, ihre Resilienz zu stärken.
Ich bin überzeugt, dass Steiner die Entwicklungsphasen genau richtig beschreibt. Ich sehe, wie sie sich im Verhalten der Kinder, in ihrer Art zu sein, zeigen. Aber ich weiss auch, dass mein erster Klassenzug ganz anders war als mein zweiter und dass die Kinder heute wiederum anders sind und so weiter. Eltern sind anders, ihre Erwartungen sind anders, ihre Ängste grösser.
Wenn die Kinder anders sind und die Eltern anders sind, warum bleiben wir dann „meistens“ bei dem, was wir immer getan haben, ohne ernsthafte Diskussion und innovative Ideen im Schlepptau? Wir bleiben stur bei den Jahrgangsklassen, aber neue, kleine Schulen müssen mit jahrgangsgemischten Klassen klarkommen, mit bis zu vier verschiedenen Jahrgängen. Sie sind jeden Tag innovativ.
Es gibt aber auch Schulen, die neue Dinge ausprobieren. In einer Schule findet der Hauptunterricht für die Mittelstufe am späten Vormittag statt weil die Hirnforschung zeigt, dass Jugendliche aufgrund der veränderten Schlafrhythmen am frühen Morgen noch zu schläfrig zum Lernen sind. Die selbe Schule hat für den Mathematikunterricht der Oberstufe in einem Schulzimmer an allen Wänden Wandtafeln montiert, die Schülerinnen und Schüler arbeiten dort gruppenweise im Stehen an Mathematikproblemen. Eine andere Oberstufe hat den Epochenunterricht an das Ende des Tages gelegt und unterrichtet willensstärkende Aktivitäten am Morgen, um die schläfrigen Jugendlichen aufzuwecken.
Weltweit gibt es einige Schulen, die mit dem “bewegten Klassenzimmer” arbeiten. In diesem Konzept werden die Pulte und Stühle in der ersten und zweiten Klasse entfernt und durch leichte, bewegliche Bänkchen und Kissen ersetzt. In diesen Schulen gibt es auch Treffen um im Rückblick die Vorteile oder Nachteile der neuen Methoden zu diskutieren. Ich applaudiere ihnen dafür, dass sie Neues ausserhalb der „Steiner Norm“ ausprobieren.
Aber ich habe nur wenige innovative Beispiele. Wahrscheinlich gibt es noch mehr aber ich höre nicht immer davon. Manchmal meinen die Menschen, was sie tun ist „nicht Steiner“ und verstecken sich, denn sie fürchten das Urteil der Dogmatiker.
Nun, das Tolle ist, dass Kreativität jeden Tag durch unsere Herzkräfte auftritt, darum haben wir viele Möglichkeiten, innovativ zu sein. Wir müssen nur unseren Willen beherrschen und es umsetzen. Danach müssen wir gedanklich darüber reflektieren, ob es funktioniert! Lehrpersonen müssen täglich bewerten, abwägen und Entscheidungen treffen; diese beeinflussen die Schülerinnen und Schüler, ihre Neigungen und wie sich selbst als Lernende wahrnehmen. Das ist seelische Verantwortlichkeit, Verantwortung für das Seelenleben jedes uns anvertrauten Kindes.
Damit komme ich auf Steiners letzte Worte am Schluss der Allgemeinen Menschenkunde zurück:
„Durchdringe dich mit Phantasiefähigkeit,
habe den Mut zur Wahrheit,
schärfe dein Gefühl für seelische Verantwortlichkeit.“ (1)
Die OECD definiert Anpassungsvermögen als das übergeordnete Ziel aller Bildung. “Die Fähigkeit, gelerntes Wissen und Fertigkeiten flexibel und kreativ in verschiedenen Situationen anzuwenden.“ (7)
Sind wir zu sehr in unserer Routine verhaftet? Ist alles zu sehr rhythmisiert? Sind wir zu sehr fokussiert auf die wunderschönen Tafelbilder die so wunderschön in den Epochenheften reproduziert werden? Werden wir als Schulen wahrgenommen, die mit ihren Holzpulten, Wandtafeln und geraden Sitzreihen im neunzehnten Jahrhundert stehengeblieben sind? Oder werden wir als zeitgemäss und führend in der Pädagogik wahrgenommen, als Schulen, welche jene Qualitäten in jungen Menschen fördern, die sie für die Zukunft brauchen?
Wir haben die Möglichkeit, führend in der Pädagogik zu sein, denn viele Pädagoginnen und Pädagogen sprechen heute über die Dinge, die wir seit Jahren tun: Moralische, ethische, künstlerische Bildung, auf das Kind als Ganzes im Mittelpunkt fokussiert, die physischen, sozialen, emotionalen, intellektuellen und spirituellen Bedürfnisse zu balancieren. Um dies zu tun, müssen wir die Nase vorn haben, ein bisschen mutig und innovativ sein, uns der sich veränderten Welt anpassen. Wie wird das aussehen und was bedeutet das für den Alltag der Lehrpersonen?
Theresa Sayn Wittgenstein Piraccini war Klassenlehrerin, Pädagogin und CEO der Steinerschulbewegung in Australien. Sie war Mitglied der Internationalen Konferenz der Waldorf Steiner Bewegung und ist heute Schulleiterin der Michael Park Schule in Auckland, Neuseeland.
Übersetzt aus dem Englischen von Karin Smith
Literatur
Steiner, Rudolf: Die Allgemeine Menschenkunde. GA 293. Stuttgart, 1919.
Burrows, L. and Stehlik, T. Teaching with Spirit: New Perspectives on Steiner Education in Australia. I B Publications Pty, Limited. NSW Australia. 2014.
Zhao, Yong: World Class Learners: Educating Creative and Entrepreneurial Students. SAGE Publications Ltd. London, United Kingdom. 2012.
The Centre online, 29.12.2014, https://www.youtube.com/watch?v=QpEFjWbXog0
Steiner, Rudolf: Erkenntnis und Unsterblichkeit, Öffentlicher Vortrag, Bremen, 27.11.1910
Steiner, Rudolf: Westliche und östliche Weltgegensätzlichkeit. 5. Vortrag, Wien, 5.6.1922.
Lucas. B., Claxton, G., Spencer, E.: Expansive Education: Teaching learners for the real world. ACER press. Australia. 2013.