Mit ihrem Starbucks Kaffee hat Delzer weltweit für Aufsehen gesorgt. Sie wurde von der amerikanischen Medienfirma PBS Education als North Dakotas beste digitale Innovatorin ausgewählt und durch TED landete sie unter den global bekanntesten Rednerinnen. (1)
In einer Rede im Hauptquartier von Twitter spricht Delzer über die Innovation der digitalen Technik. Ihre Schülerinnen und Schüler posten jeden Tag bei Twitter. Dadurch lernen sie, wie Delzer sagt, authentische Staatsbürgerschaft und dass ihre Welt noch viel größer ist. Sie publizieren für die Welt. Das spornt die Lernenden an. Unsere Aufgabe als Lehrperson sei es, dass alle Lernenden eine Stimme bekommen. Auf den Elternabenden erklärt sie den Eltern, wie man den eigenen Kindern auf Instagram folgen kann.
Der Irrwitz steckt in Delzer’s Argumentation: „authentische Staatsbürgerschaft lernen“ in einer Social Media Welt, die von Selbstinszenierung, Selbstoptimierung lebt? Ist das die neue Authentizität? Die Schüler twittern für die Welt und gewöhnen sich früh an ein Leben im „Undo Modus“ (2). Es ist dieser Modus, in dem man sich früh zu optimieren lernt und Biografien zugleich unumkehrbar werden.
Für einen Tagungsbeitrag auf Lehrerkonferenzen bekommt Delzer mehrere Tausend Dollars.
Amazon, Apple, Google und Microsoft bieten Programme für Lehrpersonen an, damit sie Technologiebotschafter werden, z.B. Apple mit seinem „Apple Distinguished Educators Program“. (3) Mit ihren Reden, Blogs oder Social Media Kanälen bewerben die Botschafterinnen und Botschafter die Klassenzimmertechnologien. Sie erhalten dafür gratis Geschenke und Reisekostenerstattungen. Firmen bieten auch Nachlass an, wenn Lehrpersonen sie als Exklusivpartner wählen.
Mehr als die Hälfte der amerikanischen Grund- und Mittelschüler verwenden mittlerweile Google Apps wie Gmail oder Docs in den Schulen. Das betrifft mehr als 30 Millionen Kinder. Doch Experten warnen: Schulen geben Google mehr als sie gewinnen. In der „Google privacy notice“ ist angegeben, welche Daten von Googles Bildungsdienst gesammelt werden, so zum Beispiel den Standort und wie eine Nutzerin den Googledienst benutzt hat. Wenn sich ein Schüler zuhause einloggt, kann Google sofort den Standort erfassen. Absolventinnen und Absolventen werden von Seiten der Schulen dazu angehalten, ihre Google Schülerkonten nach Abgang in reguläre Googlekonten umzuziehen. (4) Dadurch erlangen die Firmen bessere Profile. Gezielte Werbung wird ermöglicht. Das steigert auch den Börsenwert der Firma.
Google hat weltweit sogenannte GEG (Google Educator Groups) eingerichtet, damit Lehrpersonen ihre Ideen austauschen können. Google sponsert Bildungskonferenzen und nutzt Pädagoginnen und Pädagogen, um ihre Produkte zu testen. Durch die freiwilligen Helferinnen erobert sich Google neue Märkte. Man könnte es einen Win-win-Effekt der modernen Umsonstkultur nennen. (5) Man bekommt eine Gratis-Infrastruktur, zahlt dafür aber mit seiner Freiheit.
Die Schulaufsichtsbehörde der Stadt Chicago hat mit Google über Jahre die Nutzung und den Schutz der Privatsphäre im Sinne des Schulgesetzes ausgehandelt. Die Stadt erhoffte sich so weniger Ausgaben, aber auch die Kontrolle über die Nutzungsrechte von Google Apps zu behalten. Sehr schnell wurden die Diskrepanzen zwischen Business und Schulwerten klar. Google sollte sich an die Familien- und Privatrechte anpassen. (4)
Chicagos Anwälte waren entsetzt: als Antwort auf den Privatschutz schickte Google Links zur Unternehmenspolitik. Doch solche Links sind veränderbar. Heute verpflichtet sich Google bei Schul-Apps, die Bildungsgesetze einzuhalten. Chicagos Aufsichtsbehörde gibt sich zufrieden.
Durch den Chicago Fall entfachte sich eine alte Debatte: Sollen Schülerinnen und Schüler nun mit Wissen oder mit Fähigkeiten ihre Schulkarriere beenden?
Das Silicon Valley scheint seine Antwort bereits gefunden zu haben: Wissensvermittlung durch digitale Technik ist präziser, erfolgreicher und fördert ausserdem die Selbstständigkeit mehr als traditionelle Lernmethoden, die auf der Schüler-Lehrer-Beziehung aufbauen.
Reed Hastings, Geschäftsführer von Netflix, testet in vielen amerikanischen Bundesstaaten ein beliebtes Mathematikprogramm, das sogenannte DreamBox Learning, das genau nach den eigenen Geschäftsprinzipien funktioniert. Netflix- ähnliche Algorithmen bestimmen, welche Unterrichtseinheiten die Lernenden sehen. Das Lernprogramm beinhaltet animierte Videospiele mit Mathematikeinheiten, die durch Aliens und Tiere eingeführt werden. Schülerinnen können Punkte gewinnen, mit denen sie sich virtuelle Belohnungen abholen können. Einige wenige Eltern haben bereits das Suchtpotenzial thematisiert, sie erlebten nämlich, dass ihre Kinder, die morgens um halb sechs aufgewacht sind und DreamBox spielen wollten.
Hastings setzt dagegen, dass digitale Unterrichtseinheiten durch genauere Auswertung besser auf die einzelne Schülerin zugeschnitten werden können und den Lehrpersonen darüber Aufschluss geben, mit welchen Mathematikkonzepten die Schüler zu kämpfen haben. Harvard Forschungen haben ergeben, dass bei einzelnen Schülern tatsächlich bessere Mathematikergebnisse erzielt worden waren, aber dass man zugleich untersuchen müsste, welchen Einfluss dabei die Lehrperson hatte. (7)
Viele einflussreiche Titanen des 21. Jahrhunderts testen ihre Ideen an Schulen. Auch Mark Zuckerberg von facebook ist dabei. Zuckerberg testet zurzeit an mehr als 100 amerikanischen Schulen, wie Schüler mithilfe einer Plattform dazu angeregt werden, selbst zu lernen. Die Lehrerin wird zur Assistentin. Schülerinnen und Schüler können Unterrichtseinheiten in ihrer persönlichen Reihenfolge wählen und nach jeder Einheit einen Multiple-Choice Test absolvieren. (7)
Obwohl nachgewiesen ist, dass Lernen mit Laptops (besonders zuhause!) die schulischen Leistungen verschlechtert (8), sind führende Köpfe in Regierungen, Stiftungen, Schulbehörden etc. der Meinung, dass die Bildung stärker digitalisiert werden sollte. Das führt zu einer erstaunlichen Bewegung: die Eltern, die es sich leisten können, - darunter auch Firmenchefs aus dem Silicon Valley (9) - schicken ihre Kinder auf sogenannte alternative Schulen die künstlerische Fächer, Outdoor Aktivitäten und soziale Fähigkeiten stark fördern und das Lernen am Bildschirm sehr sparsam einsetzen. Auch die Home-Schooling Rate hat in den USA in den letzten Jahren stark zugenommen (8). Die Spaltung zwischen arm und reich wird dadurch größer. Es sind besonders die ärmeren Familien, die der schulischen Digitalisierungswelle ausgesetzt sind.
Ein weiteres Beispiel wie sich Geschäftsinteressen in Schulen schleichen sind Firmen, die Unterrichtsmaterial anbieten, gratis selbstverständlich. Gut aufbereitet, zusammengetragen, zeitsparend, im Unterricht sofort einsetzbar und mit subtiler Schleichwerbung.
Ein solches Beispiel ist der multinationale Konzern Dole, der im internationalen Obstgeschäft tätig ist. Mit dem Slogan „Alles was du brauchst, um deine Schüler dazu anzuregen, Obst und Gemüse zu essen“ wirbt die Firma mit Unterrichtsmaterial wie Arbeitsblättern zu gesundem Essverhalten, kreativen Ernährungsabenteuern, mehrsprachige Materialien, Vorbereitungsskript für ein Musical mit mehreren Rollen, Bühnenanweisung, Audiobeispielen, Liedtexten rund um die gesunde Ernährung usw. (6) Die Lehrperson kann sich alles bequem von Doles Webseite herunterladen.
Ich denke es ist an der Zeit, sich die großen Grundfragen erneut zu stellen: Welche Rolle spielt die Lehrperson überhaupt noch? Wozu brauchen die Schülerinnen und Schüler Lehrpersonen? Welche Rolle spielt die Lehrperson in welcher Altersstufe? Wann sind digitale Medien im Unterricht sinnvoll, wann nicht und ab welcher Altersstufe? Wie kann Bildung frei bleiben, frei von Marktmechanismen? Warum ist die Bildungsfreiheit wichtig? Warum ist die Erziehungskunst heute wichtiger denn je? Was bedeuten Erziehen als Kunst und die Kunst des Erziehens?
Nicht zu vergessen, das Lernen hat auch eine soziale Komponente. Die Schülerinnen und Schüler lernen nicht nur von den Lehrpersonen, sondern auch voneinander und miteinander. Wie wichtig ist beim Lernen die Interaktion mit echten Menschen? Wie zentral ist das Erlernen von Sozialkompetenzen?
Diese alt bekannten Fragen wieder neu zu beantworten, wird eine große Aufgabe für die Zukunft sein.
Katharina Stemann ist begeistert vom internationalen Wachstum der Waldorfschulen und den mutigen Menschen, die weltweit Schulen in schwierigen Situationen initiieren. Sie hat Kulturanthropologie studiert und als Mitarbeiterin der „Freunde der Erziehungskunst“ die weltweite Waldorfschulbewegung begleitet. Zurzeit ist sie für die Online-Plattform „Waldorf Ressourcen“ und darüber hinaus für die Pädagogischen Sektion und die Internationale Konferenz der Waldorfpädagogischen Bewegung tätig.
Literatur
(1) Delzer, Kayla: YouTube Video, Twitter Headquarters, 2016. https://www.youtube.com/watch?v=bKgACeH0Fvs
(2) Schmidt, Robin: Der digitale Wandel als Gesellschaftssituation. Vortrag bei der Tagung Digitale Zeit. Pädagogik. Perspektiven. Goetheanum, September 2017.
(3) Singer, Natasha: Silicon Valley Courts Brand-Name Teachers, Raising Ethics Issues, New York Times, September 2017. https://www.nytimes.com/2017/09/02/technology/silicon-valley-teachers-tech.html?smid=fb-share
(4) Singer, Natasha: How Google Took Over the Classroom, New York Times, Mai 2017. https://www.nytimes.com/2017/05/13/technology/google-education-chromebooks-schools.html?action=click&contentCollection=Technology&module=RelatedCoverage®ion=Marginalia&pgtype=article
(5) Brand eins: Ich zahle gern, 19. Jhg, Juni 2017.
(6) Dole: http://www.superkidsnutrition.com/nc_dole5aday/ und Educationworld: http://www.educationworld.com/a_curr/curr110.shtml
(7) Singer, Natasha: The Silicon Valley Billionaires remaking America’s Schools, New York Times, Juni 2017.
https://www.nytimes.com/2017/06/06/technology/tech-billionaires-education-zuckerberg-facebook-hastings.html?action=click&contentCollection=Technology&module=RelatedCoverage®ion=Marginalia&pgtype=article
(8) Dr. Screen-Free Mom: The rich get smart, the poor get technology: the new digital divide in school choice, screen-free parenting, November 2017. www.screenfreeparenting.com/rich-get-smart-poor-get-technology-new-digital-divide-school-choice/
(9) Richtel, Matt: A Silicon Valley School that doesn’t compute. New York Times, Oktober 2011.
http://www.nytimes.com/2011/10/23/technology/at-waldorf-school-in-silicon-valley-technology-can-wait.html
Weiterführende Literatur
Ehrenhauser, Astrid: Kleine Geschenke mit Nebenwirkung. Google in der Grundschule, taz, Oktober 2017.
Lembke, Gerald: IT-Lobbyisten in den Klassenzimmern, Süddeutsche, 13. September 2017. http://www.sueddeutsche.de/bildung/schule-it-lobbyisten-machen-vor-den-klassenzimmern-nicht-halt-1.3663067
Hesse, David: Ja, jetzt herunterfahren. Der Bund. Schweiz, Februar 2018. https://www.derbund.ch/schweiz/standard/ja-jetzt-herunterfahren/story/26961781
Maurer, Mathias: Die »soziale Industrie« frisst unsere Kinder, erziehungskunst, Nov 2011. http://www.erziehungskunst.de/artikel/zeichen-der-zeit/die-soziale-industrie-frisst-unsere-kinder/
Niblett, Holly: Guide to screen addictions and responsible digital use. compare the market, Dez 2020. https://www.comparethemarket.com/broadband/content/screen-usage-guide/