Mehr denn je braucht die Weltgesellschaft freie und unabhängig denkende Individuen, die sich vorurteilsfrei begegnen können. Doch in ihrem Gepäck schleppt die Waldorfbewegung viel unreflektierten Ballast. Zu oft bekomme ich auf meine Frage, warum ein Lehrer oder eine Lehrerin dieses oder jenes so mache, die Antwort: »Weil man mir gesagt hat, dass ich es so machen soll.« Ich greife nur ein Beispiel heraus, das Formenzeichnen, ein Schulfach, das einzigartig ist, wofür wir Traditionen und Empfehlungen haben, jedoch keinen verbindlichen Lehrplan. In den von mir besuchten Ländern hält sich die Gepflogenheit, im 4. Schuljahr Flechtformen zu zeichnen, die nordeuropäischen, keltischen oder langobardischen Gestaltungen entspringen. Sicherlich ist es pädagogisch wirksam, mit diesen Formen die fließenden Schwünge und den Aufwachmoment des Drunter und Drüber an den Kreuzungspunkten zu üben. Doch übersehen wir dabei leicht, dass der zeichnende und wahrnehmende Schüler sich zugleich mit einem Gestus und mit Bedeutungen identifiziert, die aus einem ganz bestimmten Geistesimpuls kommen.
Rudolf Steiner beschreibt das in einem Vortrag am 13.9.1907, wo er über Zeichen und Symbole spricht: „Machen Sie sich einmal klar, wie der einzelne (mittelalterliche) Handwerker seine Freude an jedem Stück hatte, wie er seine Seele da hineinarbeitete. In jedem Ding war ein Stück seiner Seele. Und wo in der äußeren Form Seele ist, da strömen auch die Seelenkräfte über auf den, der es sieht und ansieht. [...] Was der Mensch sieht, was hineingegossen wird in seine Seele aus seiner Umgebung, das wird in ihm eine Kraft. Danach formt er sich selbst …“ (1)
Für die reale Orientierung der zehn- bis elfjährigen Kinder in ihrer Welt gibt der Waldorflehrplan den Hinweis, die lokale Geografie und Geschichte zu erkunden. Im Formenzeichnen kann man das vertiefen, indem man Zeichen aus den lokalen Kulturen aufsucht und didaktisch in lineare Bewegungsspuren umwandelt.
Bei Fortbildungen zur Kunstdidaktik in Peru und Bolivien mit Lehrern, die stark verwurzelt sind in der Aimara- und Inka-Kultur, musste ich erleben, dass ihnen die Gestaltung von Themen aus der europäisch christlichen Tradition eine Art seelisches Bauchgrimmen verursachte. Und so begannen wir, Motive aus ihrer Mythologie und aus den Zeichen und Symbolen der präkolumbischen Keramik oder Textilkunst zu suchen und didaktisch für das Formenzeichnen aufzubereiten. Das machte sie kreativ, denn sie konnten sich jetzt nicht mehr auf die exzellent ausgefeilte Didaktik der Ars Lineandi eines Rudolf Kutzli (2) verlassen. Mit Entdeckerfreude und Eifer entwickelten sie Neues. Durch das selbst Erarbeitete setzt sich ein Lehrer viel intensiver in Beziehung zu seinen Schülern als durch Übernommenes – ein Qualitätsmerkmal interpersonaler Pädagogik. Diesen Impuls verfolgte ich weiter in Indien, in China und in verschiedenen Ländern Mittel- und Südamerikas.
Je früher und origineller das Liniendesign der alten oder indigenen Kulturen ist, umso näher kommt man dem, was Steiner im selben Vortrag in Bezug auf die „aus dem Wesen der Dinge herausgenommenen“ okkulten Zeichen und Sinnbilder beschreibt, „wodurch wir in die Verhältnisse der geistigen Welten hineinschauen können“.
Kann ein Lehrer sich wirklich vertiefen in die Gestaltungen und Wirkungen dieser Linienbewegungen, die ja als Form- oder Skulpturkräfte in allem Lebendigen wirken, so wird er sie unschwer mit einer Angabe zum Zeichnen und Malen im 2. Jahrsiebt, die Steiner in einem Vortrag am 22.9.1920 gegeben hat, verbinden
können: „Das sind die Kräfte, die im Zahnwechsel ihren Abschluss finden, die vorher den Körper des Kindes ausplastizierten, die Skulpturkräfte, und die wir verwenden später, wenn der Zahnwechsel vor sich gegangen ist, um das Kind zum Zeichnen, zum Malen und so weiter zu bringen. Es sind dies hauptsächlich diejenigen Kräfte, die in das Kind gelegt sind von der geistigen Welt aus, in denen die kindliche Seele gelebt hat vor der Empfängnis, in der geistigen Welt. Sie wirken zuerst kopfbildend als Körperkräfte und dann vom 7. Jahre ab als Seelenkräfte. [...] So dass wir für die Zeit vom 7. Jahre ab für unsere autoritären Einflüsse einfach das beim Kinde herauskriegen, was das Kind vorher als Nachahmung unbewusst übte, indem diese Kräfte unbewusst in den Körper einschlugen. Wenn später aus dem Kinde ein Bildhauer, ein Zeichner oder ein Architekt wird, aber ein richtiger Architekt, der aus den Formen heraus arbeitet, so geschieht das aus dem Grunde, weil ein solcher Mensch die Anlage hat, in seinem Organismus etwas mehr zurückzubehalten von den Kräften, die in den Organismus hinunterstrahlen, etwas mehr zurückzubehalten im Kopfe, so dass auch später noch diese kindlichen Kräfte hinunterstrahlen. Wenn sie aber nicht aufgehalten werden, wenn mit dem Zahnwechsel alles ins Seelische übergeht, so bekommen wir Kinder, die dann keine Anlagen haben für Zeichnen, für Bildhauerisches oder für Architektur, die niemals Bildhauer werden können.“ (3)
Die Zeichensprachen indigener Kulturen stammen aus der unmittelbaren Verbindung jener Zeiten und Völker mit den elementaren Kräften der Welt; sie werden nicht erklärt. Daher muss man sich in die Gesten ihrer Liniensprachen hineinfühlen. Auch das ist Teil der vertieften schöpferischen Vorbereitung eines Lehrers. Ich möchte an einem Beispiel aufzeigen, als mir bei meinem Rätseln über die Bedeutung eines Motives eine Erklärung gegeben wurde: eine Linienkombination, die immer wieder auftaucht in der Architektur, der Keramik und der Textilkunst von den Mayas in Mexiko bis zu den Mapuches im Süden Chiles: die Komposition einer Spirale mit Stufen, eine harmonische Verbindung geschwungener und gerader Linien.
Die Spirale, so heißt es, steht für die Zeit – in Zyklen, die Stufen stehen für den Raum. Damit ist das Weltbild der alten Kulturen in einem zusammengesetzten Zeichen zusammengefasst. Meist sind es drei Stufen, welche die Dreigliedrigkeit der Welt symbolisieren: die untere Welt (Ukhu Pacha) repräsentiert durch Schlangen, Fische, Reptilien, die mittlere Welt der Menschen (Kay Pacha), repräsentiert durch den Jaguar oder Puma, und die obere Welt (Hanaq Pacha), repräsentiert durch Adler oder Kondor.
Und so verarbeiteten Kursteilnehmer dieses Motiv
in Bolivien
in Guatemala
Motive aus Rollstempeln der mexikanischen und kolumbianischen Textilkunst
Jugendliche aus prekären Verhältnissen in den Bergen Kolumbiens beschäftigten sich in einem Museum mit archäologischen Funden: tönernen Spinnwirteln, die von den indigenen Frauen mit individuellen Mustern gestaltet worden waren (ca. 5. Jh. n. Chr.). Die Jugendlichen übten in einem Formenzeichnen-Workshop großformatig die Bewegungsgestik dieser Formen – und waren sichtlich glücklich, als sie ihre Ergebnisse dem Museum vorstellten.