Verwandlung des Ätherisch-Astralischen in der Pubertät
Jedem Pädagogen und jedem Erziehenden ist das äußere Bild des Jugendlichen in der Pubertätszeit gegenwärtig: das Schwer-Werden der Leiblichkeit, die dem Jugendlichen gleichsam entfällt, was sich durch Gang und Haltung so typisch bemerkbar macht, und andererseits das seelische Chaos, das sich oft in unverständlichen und widersprüchlichen Verhaltensweisen bemerkbar macht.
Dazu sei ein Bild Rudolf Steiners gesetzt, das verdeutlicht, was im Seelisch-Leiblichen, repräsentiert durch Astralleib und Ätherleib des Jugendlichen, in dieser Zeit geschieht.
Rudolf Steiner beschreibt in seinem Vortrag vom 26.5.1922 in „Menschliches Seelenleben und Geistesstreben im Zusammenhange mit Welt- und Erdenentwickelung“ (GA 212), wie der Mensch im Vorgeburtlichen sich kurze Zeit vor dem Herabsteigen in eine neue Erdeninkarnation aus dem gesamten ätherischen Kosmos seinen eigenen Ätherleib gleichsam zusammenzieht. Dieser Ätherleib enthält damit ein Abbild des gesamten Kosmos, insbesondere des Tierkreises, der Sonne und des Mondes. Der so aus dem Vorgeburtlichen mitgebrachte Ätherleib steht in den ersten Lebensjahren des Kindes gleichsam neben der Entwicklung, die zunächst im Leiblichen von dem vererbten Ätherischen gestaltet wird. Nur nach und nach, mit einem Schwerpunkt im zweiten Lebensjahrsiebt, wird das vererbte Ätherische durch dieses vorgeburtliche Ätherische ersetzt. Dabei verwandelt sich die Konfiguration des Ätherischen in der Weise, dass neben anderem eine gewisse Konzentration der ätherischen Gestaltungskräfte in der Herzgegend stattfindet. Rudolf Steiner beschreibt diesen Vorgang als die Bildung eines neuen Ätherherzens, das das alte Ätherherz ersetzt. Dieses Ätherherz ist räumlich an der Stelle des physischen Herzens vorzustellen. Der Prozess erlebt seinen Höhepunkt in der Pubertät und gleichzeitig auch seinen Abschluss. Von diesem Zeitpunkt an trägt der Jugendliche gleichsam ein Abbild des ganzen Kosmos in seiner Herzgegend.
Dazu setzt Rudolf Steiner ein anderes Bild von der Verwandlung des Astralischen. Auch den Astralleib trägt der Mensch aus dem Vorgeburtlichen in seine neue Inkarnation hinein. In diesem erscheint ein Abbild seiner Erlebnisse zwischen Tod und neuer Geburt. Alle Geheimnisse der Individualität zeigen sich in der sehr differenzierten Struktur des Astralleibes. Mit diesem geschieht nun Ähnliches wie mit dem Ätherleib: er ersetzt zunehmend das vererbte Astralische. Dieser Vorgang wird so beschrieben, dass beginnend mit dem Ich-Bewusstsein im zweiten/dritten Lebensjahr die sehr differenzierten Strukturen des Astralischen in die physischen Organe eintauchen. Insbesondere sind davon die Organe oberhalb des Zwerchfells betroffen - vor allem auch das Gehirn. Dieser Vorgang erhält eine besondere Dynamik und wiederum einen Abschluss in der Pubertätszeit. Dadurch verändert sich der Astralleib dergestalt, dass die zunächst vorhandenen Strukturen immer undifferenzierter werden und der Astralleib nur noch eine Art Nebelwolke darstellt. Die weitgehend aufgelösten Formen des Astralischen beginnen sich in besonderem Maße in der Pubertät neu zu bilden.
An dieser Stelle stellt sich insbesondere für die Pädagoginnen und Pädagogen die drängende Frage nach dem Vorgang, der für die Neugestaltung verantwortlich ist. Denn hier tauchen erneut Entwicklungsprozesse auf, die in vergleichbarer Bedeutsamkeit nur von dem Kind im frühkindlichen Alter durchlaufen worden sind. Letztere liegen jedoch noch in der Verantwortlichkeit der Eltern. Für die zweite große Entwicklungsphase – beginnend in der Vorpubertätszeit – muss auch die Lehrperson Verantwortung übernehmen. Damit bekommt die folgende Aussage Rudolf Steiners ein besonderes Gewicht: die Neugestaltung erfolgt durch alles, was die Heranwachsenden mit Armen und Beinen an Bewegungen in der Welt ausführen. „Es schreibt sich die gesamte Tätigkeit eines Menschen, die einen Ausdruck in der Außenwelt findet, jetzt in diesen astralischen Leib ein.“ Damit bekommt alles, was Jugendliche tun, ihre gesamten Handlungen – selbstverständlich auch die Handlungen in der außerschulischen Zeit – eine für ihr späteres Seelisches gestaltende Bedeutung. Nicht flüchtige Ideen, Fantasien, nicht Emotionen sind es, die in erster Linie diese Neukonfiguration des Astralischen bewirken, sondern dasjenige, was Jugendliche konkret in der Welt bewirken.
Weiter gehend beschreibt Rudolf Steiner, dass auch der Astralleib in dieser Zeit eine Konzentration in der Herzgegend erfährt, sodass an dieser Stelle des menschlichen Leibes eine besondere Begegnung zwischen dem Ätherischen und dem Astralischen erfolgt, was in keinem Bereich der menschlichen Leiblichkeit so intensiv der Fall ist. Das führt dazu, dass alle neuen Gestaltungen des Astralischen gleichsam dem Ätherischen übergeben werden – von diesem aufgenommen werden. Von der Pubertät an schaltet sich auf dem Umwege durch das Astralische „die gesamte menschliche Tätigkeit in das Ätherherz ein, in dasjenige Organ, das aus den Abbildern der Sterne, aus den Abbildern des Kosmos geworden ist“. Es ist in diesen Worten unmittelbar erlebbar, wie Rudolf Steiner den Prozess der zukünftigen Schicksalsbildung beschreibt: alle Taten des Menschen werden über den Astralleib in das Abbbild des Kosmischen, wie es im Ätherleib vorliegt, eingeschrieben. „Hier schließt sich der Kosmos mit seinem Geschehen und das Karma des Menschen zusammen.“ Rudolf Steiner macht damit deutlich, dass der eigentliche Prozess der Bildung von zukünftigem Karma erst mit der Pubertätszeit beginnt. Es beeindruckt zutiefst das Bild, dass der Mensch in seiner Herzgegend zunächst einem Abbild des Kosmos sein ganzes Tun übergibt und erst im Nachtodlichen, wenn dieses im Herzen getragene Abbild sich in den ganzen Weltenäther hinein weitet, die Grundlage für die Bildung der zukünftigen Leibesgestalt geschaffen wird.
Selbstverständlich ist das Ichwesen des Jugendlichen, das in dieser Zeit noch stark mit dem Astralleib verbunden ist, an diesem ganzen Geschehen beteiligt. Es lebt – so Rudolf Steiner – in einer Art Sympathieverbindung mit den Gebilden des Astralischen, wodurch sich auch die Absichten und Ideen, die den Handlungen zu Grunde liegen, in das Ätherische, d.h. in das Abbild des Kosmos einschreiben, womit auf eine moralisch-ethische Dimension der Handlungen hingewiesen wird.
Bahnbrechende Entdeckungen der Hirnphysiologie
In den letzten 25 Jahren sind in der Hirnphysiologie gewaltige Fortschritte gemacht worden, besonders was das Verständnis der Architektur und der Funktion des Gehirns betrifft. Insbesondere wird das Jahrzehnt von 1990 bis 2000 als das Jahrzehnt des Gehirns bezeichnet. Der gewaltige Zuwachs an Erkenntnissen ist völlig neuartigen Messverfahren zu danken, die es ermöglichen, ohne das Gehirn zu öffnen, ein Bild von den Vorgängen im Inneren des aktiven Gehirns zu erzeugen. Der besondere Schwerpunkt bei allen Untersuchungen war die späte Embryonalzeit und die frühkindliche Entwicklung bis etwa in das dritte Lebensjahr.
Dabei kam man dem Geheimnis auf die Spur, das dieses komplizierte Organ zu dem genialen Instrument der Anpassung an die Lebensumstände des einzelnen Menschen macht. Zwei einfache, aber äußerst wirkungsvolle Prozesse sind dafür verantwortlich: Überproduktion und Auslöschung. Was ist darunter im Einzelnen zu verstehen? Das Gehirn ist bei der Geburt nur zu einem Teil fertig ausgebildet. Man beobachtet in den ersten 18 Monaten der kindlichen Entwicklung eine deutliche Zunahme grauer Hirnsubstanz. Der überwiegende Teil dieses Wachstums entsteht durch eine explosionsartige Entwicklung von Vernetzungen der einzelnen Gehirnzellen untereinander (bis zu 30.000 pro Nervenzelle). Dieser Überproduktion folgt nach kurzer Zeit ein wieder Auslöschen eines Großteils der Verbindungen, so dass nur bis zu einem Drittel überlebt. Der Vorgang, der dieses Vernichten von Verbindungen steuert, geht im Wesentlichen auf die Impulse aus den Sinnesorganen zurück. Dabei muss man die Gesamtheit der 12 Sinne mit einbeziehen, sonst würde die herausragende Gestaltungsarbeit der unteren Sinne (Tastsinn, Lebenssinn, Eigenbewegungssinn, Gleichgewichtssinn), die sich gerade in den vielfältigen Bewegungen der Arme und Beine in den ersten Jahren niederschlägt, keine Berücksichtigung finden. Das Gehirn reagiert darauf mit einer Befestigung derjenigen Verbindungen, die sehr häufig angeregt werden und mit einem Auslöschen der wenig oder kaum genutzten. Das gestaltende Gesetz ist: benutzte sie oder verliere sie („use it or loose it“).
Diese Erkenntnisse, die dem vergangenen Jahrzehnt entstammen, sind hinlänglich beschrieben worden und stellen den heutigen Wissensstand dar (siehe u.a. Ernst-Michael Kranich 2003, „Der innere Mensch und sein Leib“ oder Manfred Spitzer 2002, „Lernen“).
Seit Anfang dieses Jahrhunderts sind revolutionäre neue Erkenntnisse dazu getreten, durch eine neue bildschaffende Messmethode: die Magnet Resonanz Tomographie (MRI). Bei diesem Verfahren ist keine Strahlenbelastung für das Gehirn bekannt, weshalb es im Gegensatz zu den bisherigen Verfahren auch an gesunden Menschen zu Forschungszwecken eingesetzt wird. So begannen Untersuchungen an Personen aller Altersstufen, um bei unterschiedlichsten Tätigkeiten die entstehenden Aktivitätsmuster des Gehirns zu ermitteln. Auf diese Weise stellte ein Forscherteam um Jay Giedd vom National Institut of Mental Health in Bethesda, USA (Interview vom 28.12.2002) fest, dass ein ähnlicher Prozess wie in der frühkindlichen Entwicklung noch einmal, beginnend in der Vorpubertät stattfindet, d. h. eine zweite Welle der Überproduktionen und Auslöschung während der Pubertät auftritt. Am meisten überraschte, dass eine erneute Produktion von grauer Hirnsubstanz beobachtet wurde, was man vorher für ausgeschlossen gehalten hatte. Ein wesentlicher Unterschied zu dem frühkindlichen Entwicklungsprozess besteht allerdings darin, dass nicht mehr das gesamte Gehirn in diesen Vorgang einbezogen ist, sondern insbesondere der Frontallappen der Gehirnrinde (präfrontaler Cortex) betroffen ist. Der Prozess beginnt bei Mädchen mit zirka 11 Jahren und bei Jungen mit 12 Jahren – anschließend setzt wieder der Auslöschungsprozess ein.
Was bedeutet es nun, dass gerade dieser Teil des Gehirns einer erneuten Umgestaltung unterliegt? Die Frage beantwortet sich, wenn man die hauptsächliche Funktionen dieses Gehirnteiles betrachtet: hier finden insbesondere alle höheren kognitiven Fähigkeiten ihre leibliche Grundlage. Die Hirnphysiologie rechnet dazu Selbstkontrolle (z.B. Bedenken der eigenen Handlungen), Urteilsvermögen, Organisation und Koordination aller gedanklichen Prozesse, Erkennen übergeordneter Zusammenhänge sowie, als eine besondere Leistung von hoher Komplexität, ein sozial angemessenes Verhalten. Aus Sicht der anthroposophischen Menschenkunde wird hier die Qualität des Ich beschrieben, wie es gestaltend in die bewussten Seelenprozesse eingreift.
Betrachtet man den Unterschied zur vergleichbaren kindlichen Phase, so wirkt bei letzterer die umgebende Lebenswelt gestaltend, wofür die Erwachsenen – insbesondere die Eltern – große Verantwortung tragen. In der Pubertätszeit ist in erster Linie der Jugendliche selbst verantwortlich für die Neugestaltung der Stirnpartien seines Gehirns, d.h. der physischen Grundlage seiner Ich-Aktivität im Denken. Was aber ist in diesem Alter die anregende Kraft der Neugestaltung? Die Hirnforschung gibt dazu eine eindeutige Antwort: es ist alles dasjenige, was die Jugendliche tut! Treibt sie Sport, macht sie Musik, beschäftigt sie sich mit Mathematik, vertreibt sie sich die Zeit mit Fernsehen und Computerspielen oder liegt sie träge auf der Couch herum – Ihr Gehirn passt sich jeweils optimal an die Tätigkeit an, die sie vorwiegend ausübt. Dabei unterscheidet das Gehirn nicht, ob eine Tätigkeit sinnvoll oder sinnlos ist. So kann z. B. eine häufig geübte Fertigkeit durch entsprechende Gehirngestaltung zum besonders geschickten Bedienen eines Computerspiels oder im anderen Fall zu einer besonderen künstlerischen Leistung führen – das Gehirn wertet nicht, es optimiert! Hier zeigt sich die ganze Brisanz der Pubertätszeit, die nicht in erster Linie eine Zeit für Jugendliche und Erwachsene ist, die überstanden werden muss, sondern die eine wesentliche Gestaltungsphase für die leibliche Verankerung der späteren höheren kognitiven Fähigkeiten darstellt.
Zwei häufig zu beobachtende Lebensgefühle der Jugendlichen in dieser Zeit erscheinen dadurch in einem ganz neuen Licht: die Gefühle von Ohnmacht und Allmacht. Die explosionsartige Neubildung von Nervenverbindungen führt zunächst dazu, dass in vielen Lebenssituationen keine gewohnheitsmäßigen Verhaltensmuster mehr greifen. Das Gehirn behilft sich damit, dass es in dieser Zeit ganz andere Regionen zu Hilfe nimmt, insbesondere solche, die für schnelle gefühlsbetonte Entschlüsse d. h. Entscheidungen aus dem Bauch zuständig sind. Erst später, wenn eine Neugestaltung des frontalen Gehirns erfolgt ist, wird dieses wieder in zunehmendem Maße eingesetzt. Die andere Seite dieser Neuvernetzung des Frontalhirns ist das Gefühl, dass grundsätzlich alles möglich ist, alles erreicht werden kann – wenn man nur will! Diese Gefühle, die alle Erwachsenen kennen, sind es, zwischen denen die Jugendlichen hin und her schwanken und dabei das bekannte Wechselbad der Stimmungen erzeugen.
Es soll ein weiterer Bereich des Gehirns nicht unerwähnt bleiben: das Kleinhirn (cerebellum). Dieses Organ ist wenig genetisch beeinflusst, dafür aber stark umgebungsabhängig. Es verändert sich ebenfalls stark in der Pubertätszeit. Es ist insbesondere zuständig für die Koordination der Muskeln und die Koordination aller kognitiven Prozesse. Es ist nicht essenziell für diese Prozesse, aber es macht sie besser. Je komplexer die Anforderung an das Gehirn ist, desto mehr ist das Kleinhirn gefordert. Auch hier stellt der Hirnphysiologe fest, dass insbesondere Bewegungen – äußere und gedankliche – die Gestaltungselemente dieses Organs sind. Dazu der Neurophysiologe Jay Giedd: „Physische Bewegung fördert am stärksten die Entwicklung des Kleinhirns und ist eventuell wichtiger als alle akademischen Inhalte“ (in der Pubertätszeit). Nach dieser Beschreibung der leiblichen Prozesse wird ein vertieftes Verständnis des Zusammenhangs zwischen seelischen und leiblichen Vorgängen durch eine weitere Betrachtung Rudolf Steiners zum Astralischen möglich.
Seelisch-leibliche Zusammenhänge im Astralleib
Um eine Brücke zwischen physischer und seelischer Entwicklung schlagen zu können, wird eine Betrachtung des Ätherischen und Astralischen in Bezug zu Wachen und Schlafen hinzugefügt. Vielfach schildert Rudolf Steiner, wie im Schlaf der Astralleib und das Ich den Menschenleib verlassen. Dabei geht der Astralleib in die äußere Seelenwelt über, während das Ich sich mit den Wesenheiten der geistigen Welt verbindet. Beide Wesensglieder erfahren während der Nacht eine Verwandlung, die wie eine Antwort aus den höheren Welten beim Aufwachen mitgebracht wird. Was aber von seinem Tageserleben kann der Mensch in die Nacht mitnehmen, das zu einer Wechselwirkung mit den geistigen Welten führt? Alles, was vom Gliedmaßen - Stoffwechselsystem ausgeht, d. h. alle Taten und die sie begleitenden Gefühle.
Daraus wird wiederum deutlich, wie in den Lebenszusammenhängen des Menschen seine konkreten Handlungen im physischen Sein entscheidend sind. An dieser Stelle weist Rudolf Steiner (in GA 208, Vortrag vom 12.11.1921) auf einen tiefen Zusammenhang hin zwischen dem nächtlichen Geschehen und der Gestaltung des menschlichen Gehirns. Als Hilfe für ein besseres Verstehen der Vorgänge im Astralischen kann das Bild der Lemniskate dienen. Diese zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass das Innere der oberen Schleife mit dem Äußeren der unteren Schleife korrespondiert und umgekehrt. Dabei steht der obere Teil für den Kopforganismus, der unteren Teil für das Gliedmaßen- Stoffwechsel-System, die beide über die Kreuzung der Lemniskate, d.h. das rhythmische System vermittelt werden. Vereinfacht man die Vorgänge während des menschlichen Schlafes sehr stark, so kann man sagen, dass sich das Astralische aus dem oberen Bereich der Lemniskate (Kopforganismus) zurückzieht und dafür im unteren Bereich in die äußere Astralwelt ausdehnt. Diesen Teil, der während der Nacht im Umkreis weilt, bezeichnet Rudolf Steiner als ein fotografisches Negativ. Als das dazugehörige Positiv bezeichnet er die Formen des menschlichen Gehirns. Hier wird unmittelbar ein Zusammenhang zwischen Bereichen des Seelischen und Bereichen des Leiblichen im Menschen zum Ausdruck gebracht.
Dieser Zusammenhang wird von Rudolf Steiner vielfach beschrieben bei der Betrachtung zweier aufeinander folgender Inkarnationen des Menschen. Die Taten im vorigen Leben gestalten die Formen des physischen Gehirns im nächsten Leben. Dabei bestimmt der Mensch durch seine Taten in einem Leben seine physische Grundlage der Kopforganisation im nächsten Leben. Durch diese Metamorphose ist in gewissem Rahmen der Mensch in seinen Denk- und Vorstellungsmöglichkeiten festgelegt, d.h. den Grundvoraussetzungen seines Leibes für das intellektuelle Vermögen. Gleichzeitig mit dieser Festlegung ist aber aus der Erfahrung deutlich, dass alles dasjenige, was willentlich im Gedanklichen geschult werden kann, gerade nicht in gleichem Maße festgelegt ist: z.B. Konzentrationsvermögen, gedankliches Verknüpfen von Ideen und Vorstellungen, Ordnen innerer Bilder und Herstellen größerer Zusammenhänge sind Fähigkeiten, die geübt werden können. Auf der Freiheit in diesem Bereich beruht letztlich der gesamte gedankliche, meditative Schulungsweg der Anthroposophie als einer intensiven Ich-Aktivität.
Es zeigt sich hier ein überraschendes Zusammenstimmen mit der Gehirnentwicklung. Einerseits erleben wir, wie durch erbliche Vorgaben sowie durch die individuellen Veranlagungen aus dem Vorgeburtlichen die kognitiven Fähigkeiten des Menschen als weitgehend vorgegeben auftreten. Dieses manifestiert sich leiblich während der Embryonalzeit und der frühkindlichen Entwicklung. In der Pubertät hingegen, durch die neuerlichen Gestaltungsmöglichkeiten in Teilen des Gehirns, entsteht ein Freiraum für den Erwerb höherer kognitiver Fähigkeiten. Dabei liegt zwar der Schwerpunkt in der Pubertät, aber – auch das ist ein Ergebnis neuerer Hirnphysiologie – das Gehirn bleibt bis ins fortgeschrittene Alter weit plastischer in gewissem Bereichen, als man bisher angenommen hatte. Hier deutet sich an, dass bei einem aktiven Gedankenleben eine seelische Entwicklung bis hinein in die Formgestalt des menschlichen Gehirns möglich ist. Gleichzeitig wird in eindrücklicher Weise deutlich, dass es hierzu aber der menschlichen Aktivität bedarf.
Pädagogische Konsequenzen
Für die Pädagoginnen und Pädagogen ergeben sich daraus weit reichende Konsequenzen. Wenn Rudolf Steiner die Zeit der Schulreife als Geburt des Intellekts kennzeichnet, so wird damit für das Kind derjenige Bereich verfügbar, der sich aus seiner letzten Inkarnation gebildet hat und sich in der frühkindlichen Entwicklung in das Leben eingepasst hat. Diesen weitgehend festgelegten Bereich der allgemeinen kognitiven Fähigkeiten gilt es zu erwecken und dem Kinde verfügbar zumachen. Dabei ist von dem Lehrer stets zu beachten, dass dem Kind durch seine leiblichen Voraussetzungen Grenzen gesetzt sind. Diese gilt es zu beachten und dem Kinde zu vermitteln, dass es sich wie bei allen anderen leiblichen Unterschieden, um eine natürliche Lebensgrundlage handelt. Beginnend mit der Vorpubertät wäre aber in besonderem Maße den Jugendlichen zu vermitteln, dass sie jetzt für alles, was ihre höheren gedanklichen Fähigkeiten werden können, selbst die Gestalter sind (natürlich nicht in diesen Worten): dass hier eine Möglichkeit beginnt, durch eigene Arbeit Grenzen zu überschreiten und immer weiter ausdehnen zu können. Dieses Gefühl der Freiheit in den Möglichkeiten, aber auch die eigene Verantwortung für das Erschaffen dieser Möglichkeiten zu vermitteln, könnte eine zentrale Aufgabe der Mittelstufenpädagogik sein, um dann bewusster gedanklich in die Oberstufe hinein prägend zu wirken.
Vor diesem Hintergrund soll ein abschließender Blick auf die aktuell diskutierten Themen wie zentrale Prüfungen, Bildungsstandards, Lernstandserhebungen usw. geworfen werden. Was hierbei abgefragt wird, sind vorwiegend rein logische, kognitive Grundfähigkeiten. Es ist also Vergangenheit, die abgefragt wird! Was streben wir innerhalb der Waldorfschulen dagegen mit neuen Prüfungsformen an? Das sind diejenigen Kompetenzen, die sich auf die höheren kognitiven Fähigkeiten d.h. auf Ich-Aktivität stützen und damit auf dasjenige, was Zukunft werden will. Was bedeutet es für Schülerinnen und Schüler, wenn sie nur an ihren „alten Fähigkeiten“ gemessen werden, anstatt an dem, was im Werden, was in die Zukunft weisend ist? In diesen Gedanken könnte ein Leitmotiv für eine neue Gestaltung unserer Oberstufen liegen.
Dr. Richard Landl, Studium Physikalische Ingenieurswissenschaft, TU Berlin; Eurythmiestudium; langjährige Tätigkeiten als Waldorflehrer, als Dozent in der Lehrerbildung und im Vorstand des Bundes der Freien Waldorfschulen; Schwerpunkte: Weiterentwicklung der Waldorfpädagogik und Qualität von Unterricht; Präsident des European Council for Steiner Waldorf Education; Mitglied der Arbeitsgruppe Schulen der Europäischen Kommission.