Im ersten Teil dieses Artikels ging es um Begriff und Wesen des Kompromisses, sowie um die Folgen, welche ein solcher Ansatz für die Prinzipien und die Praxis des Unterrichts haben. Ein Kompromiss scheint selten eine gute Wahl, er scheint vielmehr eine negative Reaktion auf eine gegebene Situation zu sein. Im Unterschied zum Kompromiss zieht Bildung Ideale und das Bestmögliche förmlich an. So gesehen, werden Ideale meist in Zusammenhang mit hohen Erwartungen gebracht, während Kompromisse im Vergleich dazu einen schlechten Ruf haben. Der erste Teil kann also wie folgt zusammengefasst werden:
Ideale sind allgemeingültige Prinzipien, welche situationsgerecht angewendet werden und eine tragende Rolle spielen.
Ideale können in die Jahre kommen und zu Konventionen werden, zu leblosen Traditionen, zu leeren Gefässen.
Kompromisse können als Ausdruck erneuerter und lebendiger Ideale gesehen werden.
Im zweiten Teil richte ich mein Augenmerk nun auf die Kindheit und den Lehrplan.
Über das Denken
In den 1940er Jahren arbeitete der Physiker David Bohm am Manhatten Project, welches in der Detonation der Atombombe gipfelte. Seine Interessen umfassten die Quantentheorie, die Philosophie des Denkens und die Neuropsychologie. Aufgrund seiner Erforschung des Denkens vermutet Bohm, dass wir uns in unserem Denken und Handeln oft wiederholen und damit Fortschritt und Erneuerung nicht zulassen.
„Das Denken scheint eine Tendenz zur Trägheit zu haben, eine Tendenz, sich in den immer gleichen Bahnen zu bewegen. Es scheint sich zwangsläufig zu wiederholen [...] Oft merken wir, dass wir die Neigung, an etablierten Denkmustern festzuhalten, nicht leicht aufgeben können. Wir sind dann in etwas gefangen, was man „absolute Notwendigkeit“ nennen könnte. Diese Art von Denken lässt keine andere intellektuelle Möglichkeit zu. Damit nehmen wir emotional und physisch einen bestimmten Standpunkt ein, einen Standpunkt des Widerstandes in unserem Körper, in unseren Gefühlen, ja in unserer ganzen Kultur. Dieser Standpunkt impliziert, dass wir unter keinen Umständen etwas aufgeben oder verändern wollen.“ (1991: 15)
Der Kompromiss
Die Idee der absoluten Notwendigkeit ist für Fragen nach Begriff und Wesen des Kompromisses bedeutungsvoll. Ob man nach den Gefahren oder dem Potential des Kompromisses fragt, es scheint in jedem Fall so, dass der Begriff vor allem negativ belastet ist. Man glaubt, einen Kompromiss einzugehen bedeute, dass etwas verwässert, aufgegeben oder sogar zerstört werde. Damit sind wir weit entfernt vom Geist oder der Realität des Versprechens, das gegenseitig gegeben wurde. (Englisch „promise“ = Versprechen / „com-promise“ = gegenseitig - Versprechen. Anm. d. Ü.). Ein solcher Gedankengang ebnet den Weg für eine Öffnung und Neuentwicklung.
Die Idee und Praxis von Kompromissen kann das Blut in Wallung bringen und Kontroversen zu Prinzipien, Theorien und Traditionen hervorrufen. Was für den Einen ein Kompromiss ist, ist für den Andern ein Ausverkauf der Wahrheit. Andererseits kann jemand, der unfähig ist, einen Kompromiss einzugehen, als reaktionär oder ewiggestrig angesehen werden. Dieses Aufeinanderprallen von Sichtweisen ist natürlich auch, vielleicht ganz besonders, verbunden mit der Diskussion von Waldorfgrundsätzen und der Waldorfpraxis.
Steiner soll gesagt haben, dass in den kommenden Jahren all seine Arbeit zerstört und vergessen und nur sein wichtigstes Werk, die Philosophie der Freiheit, überleben werde. Falls diese Anekdote wahr sein soll, wäre sie eine interessante Bemerkung über die zukunftsweisende Bedeutung, welche er diesem einen Buch zuschrieb. Könnte es auch bedeuten, dass ein Teil seiner Arbeit in einem angewandten Kontext verstanden werden muss – wichtig zwar, aber gleichzeitig auf Zeit und Lokalität bezogen? Es ist nicht zu bezweifeln, dass sich Steiner innerhalb bestimmter sozialer und kultureller Axiome bewegt hat. Zusätzlich aber nahm er für sich die Fähigkeit in Anspruch, aus einer Sichtweise zu sprechen, welche frei von Grundannahmen sei: er spreche vor dem Hintergrund eines weitreichenden und tief verankerten Bewusstseins, welches sich nicht auf eine bestimmte Zeit oder Kultur beziehe, sondern immer wieder erneuert werden könne. Eine solche Sichtweise lädt uns zu Forschung und Neuausrichtung ein, um die darin verborgene Innovation zum Vorschein zu bringen und um Grundannahmen neu zu betrachten. Andererseits kann diese Sichtweise auch ein Katalysator für Vorahnung und Nervosität sein. Es ist zu befürchten, dass Änderungen um der Änderung willen eingeführt werden, oder dass es zu einer Abwertung der Pionierarbeit und den Forschungsprimärdaten kommt.
Über die Kindheit
Ist das Konzept „Kindheit“ mit einem ähnlichen Dilemma konfrontiert? Gibt es etwas Inhärentes oder Fundamentales in einer gesunden Kindheit: ein konzeptionelles Zentrum, das aus einer Reihe von Prinzipien besteht, welche universell anwendbar und unveränderlich sind? Oder hängt alles von Kontext und Umgebung, von Zeit und Ort, ab? Es sind ja viele „Kindheiten“ möglich in der Welt; heute und in der Vergangenheit. Betrachten wir beispielsweise die Pracht, die Pflege und den Schutz, die dem jungen Prinzen Siddharta-Gotama zuteil wurden. Vergleichen Sie seine Kindheit mit dem Elend eines ausgebeuteten oder verwaisten Kindes und alle Arten von möglichen Kindheiten zwischen diesen beiden Extremen.
Wenn die Kindheit nur als eine Gegebenheit der Umwelt oder als ein soziales Phänomen angesehen wird, dann können wir entweder über Fabeln sprechen, über Stricken und frisch gebackenes Brot oder aber über den sozialen Kontext von endlos langen Tagen, die auf fernen Müllhalden oder beim Nähen von Adidas Fussbällen in schmutzigen, schlecht beleuchteten Hinterhofwerkstätten verbracht werden. Welches Bild von Kindheit wir auch haben mögen, es ist klar, dass Kindheit nicht einfach „gegeben“ oder automatisch „gut“ ist. Kindheitserfahrungen umfassen ein weites Spektrum, sie umspannen Zeiten und Orte, sie reichen von den wundervollen bis hin zu den elenden Erfahrungen.
Als Lehrkräfte und als Eltern sind wir die primären Kräfte, die Kindheit für unsere Kinder gestalten. Welche Art von Kindheit haben sie und was tragen wir dazu bei? Kindheit ist ein Feld, über welches die Kinder wandern. Die Kinder werden auf jeden Fall darüber wandern, aber welche Art von Feld bereiten wir für sie vor? In welcher Verfassung ist der Boden? Wie tief und wie regelmässig sind die Furchen?
Wenn wir darüber nachdenken, was wir tun können, wie wir uns verhalten sollen und wie wir mit Kindern, mit der Kindheit und unserer Welt arbeiten, zeichnet uns Dostojewskij in Die Brüder Karamasow (1998) eine beständige Wahrheit über Kinder und Kindheit:
„… es gibt nichts Höheres und Stärkeres und Gesünderes für die Zukunft als gute Erinnerungen, besonders die Erinnerungen an die Kindheit, an das Zuhause. Man wird euch vieles über eure Erziehung sagen, aber wisst, irgendeine herrliche, heilige Erinnerung, die man aus der Kindheit aufbewahrt, ist vielleicht die allerbeste Erziehung. Denn nur eine einzige gute Erinnerung im Herzen kann den Menschen vielleicht vor dem Bösen retten.[ ... ] Wenn der Mensch viele solcher Erinnerungen ins Leben mitnimmt, so ist er fürs ganze Leben gerettet.“
Das ist etwas, worüber Eltern und Lehrkräfte wirklich mit Hoffnung und Eifer nachdenken können. Es deutet auf etwas hin, das in unserem Versprechen an Kinder enthalten sein könnte.
Zum Lehrplan
Der Begriff „Lehrplan“ oder „Curriculum“ hat mindestens zwei verschiedene Bedeutungen: Er kann eine Sammlung von bestimmtem Wissen und Methoden sein oder ein offenes Feld zum herumstöbern und entdecken. Um es vereinfacht zu sagen: ein Lehrplan kann uns zum Training dienen oder zum Lernen oder zu beidem. Techniken und Fähigkeiten werden mit Training und Anwendung in Zusammenhang gebracht, während sich die Grundlagen eher auf Werte und Ausgangspunkte, auf Ideen und Ideale, beziehen. Bildung umfasst aber beides: Grundlagen und Anwendung. Dies sind die beiden Flügel des Lernens. Der lateinische Begriff currere beinhaltet Bilder von Bewegung, Strömung und Entdecken; es ist eine Frage der Heuristik. Eine begrenzte Sicht des Lehrplanes wäre die einer Zwangsjacke, eines festgefügten Wissenskanons, welcher vermittelt und aufgenommen wird, der aber nicht unbedingt in Frage gestellt oder kritisch diskutiert und auf keinen Fall erneuert wird.
Der Waldorflehrplan, welcher in groben Zügen in den frühen 1900er Jahren entwickelt wurde (Stockmeyer, 2001), war für einen lokalen und zeitlich begrenzten Kontext gedacht. Parallel dazu und im Kontext seiner zeitgeschichtlichen Relevanz war der Lehrplan auch ein Arbeitspapier für das Lernen, für das Verständnis von Kindheit und für die Verbindung dieser beiden Aspekte gedacht: für das Lernen und das Wachsen, das Tun und das Werden. Von dieser Seite gesehen, ist dieser Lehrplan eine Sammlung von Grundlagen und kein Trainingshandbuch. Darum ist es möglich, ihn als ein Forschungspapier zu sehen; als einen Arbeitsentwurf, der auf Einsicht und Intuition beruht – ein Zusammenkommen von geistigem Forschen und empirischer Verifikation.
Wenn der Lehrplan als ein Fluss verstanden wird, wie steht es dann mit den Ufern, die dem Fluss seine Integrität geben? Wie kann ein Lehrplan dabei helfen, das Gefüge des Lebens zu stützen und die Begeisterung der Kinder zu nähren? Ein Lehrplan, der seinen Namen verdient, bereichert die Reise in Richtung eines kreativen, rücksichtsvollen, liebevollen und verantwortungsbewussten Lebens. Auf verschiedene Arten ist jeder Lehrplan auch Träger von Inhalt. Zusätzlich zum Was muss der Lehrplan auch das Wie, Warum und Wann berücksichtigen. Vielleicht ist ein Groblehrplan am hilfreichsten als Werkzeug, um die Beobachtung von Kindern, der Kindheit und ihre Entwicklung in dieser Gesellschaft - und nicht in einer früheren - zu verfeinern. Darum gibt es ganz bestimmt inzwischen neue Aspekte, neue Gesichtspunkte, unter welchen die Grundlagen auf eine neue Weise angewendet werden sollten. In diesem Zusammenhang möchte ich einige aktuelle Themen ansprechen, welche als die Uferbänke des Lehrplanflusses gesehen werden können. Indem wir uns diesen Aspekten zuwenden, stützen wir meiner Meinung nach die Uferbänke und verhindern die Erosion des Lehrplans und seiner Bedeutung für unsere Zeit.
a) Zeit wird im Lehrplan explizit im Zusammenhang angewandter Mathematik und implizit im Zusammenhang des Geschichtsunterrichts erwähnt. In einem übergeordneten oder pädagogischen Sinn ist Zeit aber viel mehr. Zeit ist ein Mysterium, ein Rätsel und ein Konstrukt aus verschiedenen Aspekten und Dimensionen. Zeit hat Dauer und Tiefe; sie ist linear und zyklisch; ihre Gesichter sind sowohl qualitativ als auch numerisch. Es gibt den Rhythmus und den Takt der Zeit; Zeit umfasst nicht nur Minuten und Stunden. Im Kindergarten ist die Erfahrung der Zeit wohl am ausgeprägtesten und am radikalsten, besonders im Bereich der verschwindenden oder der sich beschleunigenden Zeit.
Es ist bedeutsam, wie wir die verschiedenen Aspekte der Zeit werten und respektieren. Wohl ist unser Zeitgefühl fragmentiert und in Auflösung begriffen. Dauernd hörne wir „jetzt!“, „schnell!“ Die Zeit braucht unsere Hilfe oder vielleicht sind wir es, die Hilfe brauchen in unserem Umgang mit der Zeit. Sind wir an einem Punkt, wo sich die Bildung auf die Grundfertigkeiten des Lebens besinnen muss, zum Beispiel auf den Umgang mit Zeit, bevor all diese Dinge zu Massenware und Wegwerfprodukten werden?
b) Einen Sinn und ein Gefühl für einen Ort, eine Heimat, zu haben, ist Teil unserer Lebensgrundlage. Heute ist es mehr denn je wichtig, ein sicheres Gefühl der Orientierung zu entwickeln, um die Fähigkeit der multiplen Orientierung in späteren Jahren ausbilden zu können. Zu lernen, wie man sich zur richtigen Zeit und an verschiedenen Orten ein Zuhause auf der Erde schafft, ist eine wertvolle und wesentliche Fähigkeit. Wie wir mit Orten und Pausen umgehen, die Momente und Orte dazwischen, das muss mehr als Lebenskompetenz denn als Zeitvertreib angeschaut werden. Einigen, vielleicht Vielen, ist der Sinn für einen Ort abhanden gekommen; die Verbindung zwischen mir und dem Ort, wo ich bin, ist geschwächt. In jeder Form von Bildung muss der Ort wieder seinen Platz bekommen, er muss bestärkt und untermauert werden.
c) Auf vielerlei Weise sind heute die Themen Technologie und Kommunikation genau so wichtig wie Gesundheit und Ernährung. In der BBC-Sendung „Farming Today“ vom 23. März 2013 wurde berichtet, dass in einer Umfrage, die vom britischen Erziehungsministerium in Auftrag gegeben wurde, 2000 junge Menschen zwischen 15 und 24 Jahren befragt wurden. Auf die Frage, „Was ist ein „Blackberry“? (Englisch: „Brombeere“. Anm. d. Ü.), antworteten 82%: „Ein Mobiltelefon“!
Vor Kurzem unterhielt ich mich mit einer erfahrenen Primarschullehrerin. Sie arbeitet mit ihrer Klasse von Neunjährigen gerade an einem Projekt über den Ersten Weltkrieg. In einem Aufsatz schrieb ein Junge über das Leben in den Schützengräben: „Ich erwachte übermüdet, und mir war kalt, alles war feucht. Würde ich den Tag überleben? Ich fühlte mich sehr schlecht und entschloss mich, meiner Freundin eine sms zu schicken.“
Für über 35jährige Erwachsene ist es äusserst schwierig sich vorzustellen, wie es ist, wenn man in eine online-Welt hineingeboren wurde, in der alles vernetzt ist und heruntergeladen werden kann. Genauso können die heutigen Kinder nicht verstehen, dass es vor 1991 einfach kein www gab, dass Telefone mit Kabeln verbunden waren, die in einer Wand verschwanden und dass Musik früher aus einem Kasten namens Plattenspieler oder einer Stereoanlage kam. Das Thema Technologie braucht unsere Aufmerksamkeit, nicht das Thema Geräte. Wir müssen es in Verbindung bringen zur Entwicklung der Kommunikation über Zeit und Raum hinweg – es braucht ein thematisches Lernen, welches Geschichte und Geographie, Kultur und Innovation und insbesonders Gesundheit und Wohlbefinden einbezieht. (i)
d) Der Lehrplan muss die Funktion und den Einfluss des Geldes und des Handels in der Vergangenheit und Gegenwart sowie die Veränderungen in der Natur und der Nahrungsmittelproduktion durch die Zeitalter und über die Kontinente hinweg einbeziehen. In unserer online, digitalen und virtuellen Gesellschaft bewegt sich die Wirtschaft zwischen Bedürfnissen und Gier. Sowohl Mangelernährung als auch Übergewicht haben enorme Auswirkungen auf die Gesundheit. (ii) Wir haben die Revolution der Bedürfnisse und der Mängel erlebt und wir erleben sie weiterhin. Wir erleben soziale Veränderungen und die damit einhergehende Ungerechtigkeit. Wenn wir ein Verständnis für die Entwicklung von Geld und Nahrungsmitteln über Jahrhunderte, Orte und das menschliche Bewusstsein hinweg vermitteln, beginnt der Lehrplan lebendig zu werden und in das 21. Jahrhundert hinein zu atmen.
e) Die Pflege von sozialen Beziehungen wird weitläufig als fundamentales Bedürfnis, als Fähigkeit und als ein Geschenk gesehen. Steiner-Schulen verfechten und praktizieren ein Beziehungsbewusstsein (Woods P., Ashley M. und Woods G., 2005), sowohl im Unterricht als auch in der erweiterten Schulgemeinschaft. Zugegeben, echte, lebendige Beziehungen sind weit entfernt von der „sozialen“ Realität der Informations- und Kommunikationstechnik. (ICT sic). Am Arbeitsplatz und in online-Foren werden direkte Begegnungen durch Beziehungen via Email, sozialen Netzwerken und Videokonferenzen ersetzt. Sie sind wie ein Puzzle, dessen Einzelteile zusammengesetzt und platziert werden, oder aber sie werden unbeachtet liegengelassen und gehören nirgends hin. Während also die Transparenz zunimmt, nimmt gleichzeitig auch die Undurchsichtigkeit zu. In Schulen und an anderen Orten muss die Fähigkeit, Verbundenheit und Beziehung zu empfinden – trotz möglicher Fehler und Ungewissheiten - wiedererweckt und zurückgefordert werden. Die Alternativen dazu sind Fragmentation und virtuelle Assoziation, was bedeutet, dass sie unecht sind.
f) In der Bildung ist Kohärenz sowohl ein Schlüssel als auch ein Resultat. Ein mögliches Bild von Kohärenz ist ein ununterbrochener Fluss von Forschung und Erfahrung, welcher Sinn stiftet. Wo Kohärenz fehlt, werden Kontinuität, Fortschritt, Entwicklung und Kultur von einer beliebigen Mischung aus Ereignissen, Menschen, Themen, Phänomenen, Theorien und Fakten verdrängt. Der damalige englische Bildungsminister Michael Gove berührte das Thema des unreflektierten, oberflächlichen Lernansatzes im Februar 2013, als er sagte: „Ohne Wissen – historisches, kulturelles, wissenschaftliches, mathematisches Wissen – ist alles, was Sie auf Google finden, nur Geplapper … Die Akkumulation von kulturellem Kapital – das Zusammentragen von Wissen – ist der Schlüssel zur sozialen Mobilität.“ (iii)
Im Kontext der Pädagogik und des Lehrplans nähert sich Steiner der Kohärenz und der Progression über die Wege des angewandten, experimentierenden Lernens, des imaginativ-ästhetischen Urteilens und des konzeptuell-kognitiven Forschens. Begriffe wie die entwicklungsbedingte Lernbereitschaft, das Analysieren der Teile eines Ganzen und die positive Rolle von Vergessen und Schlafen im Lernprozess, sie alle dienen der Verankerung und des Blühens der Kohärenz im Lernenden.
In seiner Ansprache zur Eröffnung der Waldorfschule am 7. September 1919 formulierte Steiner die Essenz seiner pädagogischen Vision. Alles Drumherum ist weggelassen und was bleibt, ist dies:
Lebendig werdende Wissenschaft!
Lebendig werdende Kunst!
Lebendig werdende Religion!
Das ist schließlich Erziehung,
das ist Unterricht!
Als eine „kompromisslose“ Aussage, welche für Erneuerung und Reformation offen ist, frei von Dogmen und Traditionen, kann sie kaum übertroffen werden.
Trevor Mepham ist Schulleiter der aus öffentlicher Hand finanzierten Steiner Academy Frome, in Somerset, England. Ehemals war er Schulleiter der Steiner Academy Hereford und Co-Direktor des Steiner BA Programms der Universität Plymouth. Während mehreren Jahren war er als Klassenlehrer an der South Devon Steiner School tätig. Im Weiteren war er Berater für Lehrpersonen und Mitglied des Exekutivrates der Steiner Waldorf Schools Fellowship (SWSF) und des European Council for Steiner Waldorf Education (ECSWE). Trevor ist Mitglied des Stiftungsrates von „Children of Peace“. Diese Organisation arbeitet mit palästinensischen und israelischen Kindern für ein friedliches und positives Zusammenleben der nächsten Generation.
Aus dem Englischen von Karin Smith
Literatur
Bohm, D., Edwards, M. (1992) Changing Consciousness. Harper. San Francisco
Dostojewskij, F. (1998) Die Brüder Karamasow. dtv. Münschen
Steiner, R. (1962) Die Philosophie der Freiheit. Rudolf Steiner Nachlassverwaltung. Dornach
Steiner, R. (1980) Rudolf Steiner in der Waldorfschule. Rudolf Steiner Verlag. Dornach
Steiner, R. (1989) Der pädagogische Wert der Menschenerkenntnis und der Kulturwert der Pädagogik. Rudolf Steiner Verlag. Dornach
Stockmeyer, E.A.K. (2001) Angaben Rudolf Steiners für den Waldorfunterricht. Pädagogische Forschungsstelle. Stuttgart
Woods P, Ashley M & Woods G (2005), Steiner Schools in England, Research Report 645, Department for Education and Skills / University of West of England
i Im Jahr 2014 wurde Facebook 10 Jahre alt. Es wird befürchtet, dass soziale Netzwerke und online-Existenzen bedeutsame Folgen für die Entwicklung des Gehirns haben werden. Susan Greenfield sah 2009 drei problematische Aspekte: die Fähigkeit, sich mit Menschen in direkten Begegnungen zu unterhalten, die Folgen für die Konzentrationsfähigkeit, ausgelöst durch den schnellen Wechsel von Aktion und Reaktion und den sofort zugänglichen Bildern auf den Bildschirmen, sowie die Empathiefähigkeit. Eine der Folgen könnte ein Massen- Autismus sein. „Bis zur Mitte dieses Jahrhunderts könnte unsere Verstand in einen kindlichen Zustand zurückfallen – gekennzeichnet durch kürzere Aufmerksamkeitspannen, die Unfähigkeit zur Empathie und eine zerrüttete Identität.“ (The Guardian, 24. Februar 2009)
ii In der BBC Medical Review vom Februar 2009 wird berichtet, dass etwa 27% der britischen Kinder übergewichtig sind. Das Hauptproblem sei die zunehmende Bewegungsarmut. Viele übergewichtige Kinder haben übergewichtige Eltern; oft ist es eine Frage des Lebensstils innerhalb der Familie. Übergewicht erhöht die Resistenz auf Insulin und Typ 2 Diabetes, welche normalerweise eine Krankheit der Erwachsenen ist. Zunehmend erkranken aber auch Kinder und Jugendliche an Typ 2 Diabetes als Folge von Übergewicht. Mangelndes Selbstbewusstsein ist ebenfalls eine Folge von Übergewicht.