Der Schweizer Waldorflehrer Robert Thomas (Thomas 2005) schrieb: „Seit es Schulen gibt... ist eine der Hauptaufgaben des Lehrers, die Arbeit ihrer Schüler zu beobachten, auszuwerten, zu beurteilen und einzuordnen.“ Dies sind die Hauptaspekte pädagogischer Evaluation. Man könnte diese Tätigkeiten durch zwei weitere ergänzen, nämlich durch das Beschreiben dessen, was die SchülerInnen tun und durch das Kontextualisieren, das heißt das Einbeziehen der gesamten Situation, in der Lernen und Entwicklung stattfinden.
Thomas geht noch weiter in dem er deutlich macht, dass zum Assessment ein was, ein wie und ein wer gehören. Das was besteht aus beobachtbaren Tatsachen, das wie weist auf die Beziehung zwischen SchülerIn und LehrerIn hin, und das wer deutet auf die Person, die lernt und sich entwickelt, das heisst auf das Wesen derjenigen, die evaluiert und derjenigen, die evaluiert wird. Was wir von einem Menschen verstehen ist erstens immer unvollkommen und zweitens immer einzigartig. Es kann weder standardisiert oder typisiert, noch gemessen werden.
Was wir in der Waldorfpädagogik am meisten vermeiden wollen, ist eine Kultur der Konkurrenz in der Schule. Es geht nicht um Gewinner und Verlierer. Das Motto des Bundes der Freien Waldorfschulen - jedes Kind ein Könner - ist sehr treffend. Deshalb geht es bei der pädagogischen Evaluation darum, das Können sichtbar zu machen, damit wir es bewundern und damit die Kinder daraus lernen können. Wir verstehen das Lernen nicht als ein Sammeln von Kreditpunkten oder Qualifikationen, die wir dann als soziales Kapital auf ein Konto legen können. Wir sehen das Ziel des Lernen darin, dass wir zu Menschen werden, die etwas für die Welt tun können.
In der Waldorfpädagogik begleiten, beobachten und evaluieren wir nicht, um Menschen zu kontrollieren, zu überwachen oder sie so unter Druck zu setzen, dass sie biegsamer werden und wir sie nach einem vorgegebenen Schema formieren können. Das sind Ziele eines neoliberalistischen Staates. Die Wirkung einer solchen Bildungspolitik hat der belgische Psychologen Paul Verhaeghe (Verhaeghe 2013) geschildert. Eine Bildung, die die Werte des Individualismus aufwertet (aber keine wahre Autonomie zulässt), die Selbstsorge als Eigennutz predigt, die Leistung mit unvermeidbarem machohaftem Konkurrenzgehabe verwechselt, die unter Glück den Besitz materieller Güter, größtmöglichen Komfort, ein immer stärkeres Vernetztsein und 'die schöne Welt dennoch nur für sich haben wollen' versteht, soll sich nicht wundern, wenn das als Folge für sehr viele Menschen zu Depressionen, Sucht oder sozialen Phobien führt. Wer in einer solche Lebenswelt sozialisiert wird, läuft Gefahr durch ein Cluster dieser Neigungen geprägt zu werden.
Verhaeghe schreibt, „es bedarf keiner ausführlichen soziologischen Forschung um feststellen zu können, dass unsere heutige sozialökonomische Organisation ausschließlich das Deutungsmuster von Individualismus und Abgrenzung fördert. Der kompetenzorientierte Unterricht unserer Kinder und Jugendlichen führt geradewegs in die Wettbewerbs-und Karrierecluster hinein, mit allen dazugehörigen Werten. Die Befürworter eines solchen Unterrichts lassen jedoch außer Acht, dass dies automatisch auf Kosten der zweiten Gruppe von Normen (Sozialität, Solidarität, Gemeinschaftssinn, Spiritualität, ganzheitliche Gesundheit) geht. Kompetative Solidarität existiert nicht.“ (Verhaeghe 2013), 224).
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Martyn Rawson ist seit 1979 Waldorflehrer in Schulen in England und in Deutschland gewesen. Er ist Autor mehrerer Bücher über Waldorf und Mitherausgeber des englischsprachigen Waldorflehrplans, der inzwischen in 18 Sprachen übersetzt wurde. Er arbeitete von 1996 bis 2010 im Kollegium der Pädagogischen Sektion in Dornach mit. Heute unterrichtet er an der Freien Waldorfschule Elmshorn sowie am Waldorflehrerseminar Kiel.
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Die englische Version dieses Artikels wurde publiziert im Research Bulletin des Waldorf Research Institutes, Herbst / Winter 2015, Vol 20 (2). Mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Waldorf Research Institutes.