Der Mensch wird so durch Technik tendenziell intentionalem Denken und seinem eigenen Leib entfremdet: Er wird als handelnder Mensch auf ein bloß vorstellendes Denken reduziert. Für den erwachsenen Menschen, der entsprechende Gegengewichte zum Ausgleich herbeiführen kann, muss das nicht zum Problem werden. Für ihn eröffnen sich so die positiven Möglichkeiten der technischen Welt.
Für Kinder besteht das prinzipielle Problem, dass sie überhaupt erst ihren Leib auszubilden haben. Sie müssen erst im Laufe einer jahrelangen Entwicklung ihre leiblichen, seelischen und geistigen Anlagen ausbilden als unerlässliche Basis der zu erwerbenden Medienmündigkeit.
Der direkten Medienpädagogik, die heranwachsende Menschen dazu befähigt, Medien sinnvoll zu nutzen, geht daher die indirekte Medienpädagogik voraus, die genau die Fähigkeiten im Menschen schult, die er braucht, um den Anforderungen des Lebens gewachsen zu sein und damit zugleich den Anforderungen, welche die technisch-mediale Welt an ihn stellt.
Deshalb ist alle Pädagogik in der Gegenwart Medienpädagogik: Päd agogik muss heute und in der Zukunft davon ausgehen, dass der junge Mensch in einer technisch-medialen Welt heranwächst. Das heißt aber nicht, dass deshalb in jedem Unterricht irgendwie Medien vorhanden sein müssten. Ganz im Gegenteil: Da die primäre Entwicklungsaufgabe des Kindes die Ausbildung und Beherrschung der eigenen leiblichen und seelischen Kräfte ist, muss Pädagogik zuerst deren gesunde Entwicklung unterstützen. Sie hat daher einerseits dafür zu sorgen, dass das Kind in seiner Umgebung viele Tätigkeitsangebote findet, die es dazu anregen, seine leiblichen und seelischen Fähigkeiten gesund und allseitig zu entwickeln. Andererseits muss dafür Sorge getragen werden, dass alles, was die Entwicklung dieser leiblichen und seelischen Fähigkeiten behindert, ausgeschlossen wird. Eine indirekte Medienerziehung achtet daher darauf, dass in den ersten Lebensjahren bis zur Schulreife im kindlichen Lebensraum technische Medien keine Rolle spielen.
Der frühkindliche Lebensraum sollte idealerweise medienfrei sein. Er soll den Kindern ermöglichen, dass sie ihre leibliche Handlungs- und seelische Erlebnisfähigkeit und damit ihren Willen vielfältig üben und schulen können. Es soll alles ausgeschlossen werden, was dieses Üben behindert. Das Motto dieses Ansatzes könnte man pointiert so formulieren: Die spätere Medienkompetenz wurzelt in einer frühen Medienabstinenz.
Dieser pädagogische Ansatz wird oft verächtlich als „Bewahrpädagogik“ diffamiert. Es geht hier allerdings nicht um das „Bewahren“, sondern um ein „Ermöglichen“. Es geht um eine „Ermöglichungspädagogik“, die den Kindern hilft, die Kräfte zu erwerben, die sie für das Leben in einer von Informationstechnologie durchdrungenen Welt brauchen, die ihnen aber diese Welt nicht geben kann.
Im Laufe des Heranwachsens behält die indirekte Medienpädagogik zwar ihre Bedeutung als ausgleichendes Gegengewicht, tritt aber doch etwas in den Hintergrund und eine direkte Medienpädagogik kommt mehr und mehr in den Vordergrund. Die folgende Grafik veranschaulicht dieses Zusammenspiel von indirekter und direkter Medienpädagogik:
Eine prinzipielle Eigenschaft aller Medien kann mit den Worten „Zersplitterung“ oder „Atomisierung“ bezeichnet werden.
Bereits bei der Schrift ist diese Signatur zu beobachten. Der lebendige Fluss der Sprache wird analysiert und in einzelne Laute zergliedert, die dann in symbolische Repräsentationen übersetzt werden. Die in der Gegenwart lebende Sprache wird in räumlich angeordneten Symbolen verdauert.
Der Film zerlegt die Bewegungen in eine Vielzahl rasch hintereinander aufgenommener Bilder. Die Fernsehtechnik zerlegt diese Bilder wiederum in Abertausende von Einzelpunkten. Auch die Übertragung von Sprache per Mobilfunk arbeitet nach demselben Prinzip. Die akustischen Signale werden im Millisekundentakt abgetastet und die gemessenen Werte in digitale Informationen übersetzt, welche dann übertragen werden.
Diese der Medientechnik innewohnende Signatur der Atomisierung wirkt sich auch auf die Inhalte aus. Es ist ein Grundmerkmal aller Medienformen, dass sie aus der lebendigen Wirklichkeit der Welt Einzelheiten herauslösen und festhalten, die dadurch aber ihren Bezug zum Ganzen des Lebens verlieren.
Die uns umgebende Medienwelt liefert uns eine zersplitterte Welt einzelner Informationen, die durch sich Medienmündigkeit und 12 Waldorfpädagogik Die prinzipielle Eigenschaft moderner Medien ist die Auflösung, die „Atomisierung“ und „Zersplitterung“. Hier die Auflösung des Druckbildes in Rasterpunkte bei 5-facher Vergrößerung. selbst keinen Zusammenhang mehr haben. Man schaue sich unter diesem Gesichtspunkt einmal eine Nachrichtensendung an. Eine erstaunliche Fülle von Einzelheiten wird präsentiert, denen jedoch vollständig der innere Zusammenhang fehlt. Da steht ein Kriegsereignis im Nahen Osten neben der Naturkatastrophe in den USA; ein schwerer Unfall in China wird geschildert und anschließend die Eröffnung eines Museums, darauf folgt das Ergebnis eines Fußballspiels in Europa und zuletzt kommt die Wettervorhersage. Die einzelnen Beiträge haben nichts miteinander zu tun. Ihre Zusammenhanglosigkeit vermittelt keinen Sinn.
Dem steht der einzelne Mensch gegenüber, der sich in dieser ihm so präsentierten Welt zurechtfinden muss. Er braucht die Fähigkeit, sich in diesem Kosmos der zersplitterten Informationsfetzen zu orientieren und sie wieder in einen Zusammenhang einbetten zu können. Das kann er nur, wenn er sich einen Wissenshintergrund erarbeitet hat. Darin muss die Pädagogik die Heranwachsenden unterstützen. Sie hat die jungen Menschen zu befähigen, sich selbst inmitten einer Welt von zusammenhang - losen Informationsteilen wieder einen Zusammenhang erarbeiten zu können. Dazu brauchen sie einerseits eine breit gefächerte Allgemeinbildung, die möglichst viele Lebens- und Wissensgebiete umfasst, und andererseits ein inneres Zentrum, auf das sie alles, was sie wissen, beziehen können.
In dieser Hinsicht findet man bei Rudolf Steiner einen wichtigen pädagogischen Hinweis. Er sagte zu den damals aktiven Lehrern: „Aber von ganz besonderer Wichtigkeit ist die Beziehung, die wir überall herstellen sollen, wo es nur die Möglichkeit ist: die Beziehung zum Menschen als solchem. Überall sollten wir die Gelegenheit nehmen, die Beziehung zum Menschen als solchem herzustellen. Ich will sagen, wir besprechen ein Tier, wir besprechen eine Pflanze, wir besprechen eine Wärmeerscheinung, überall ist die Möglichkeit, ohne dass wir den Unterricht zerstreuen, ohne dass wir gewissermaßen das Kind ablenken, die Sache überzuführen auf irgendetwas, was den Menschen betrifft.“ (i)
Wird der Mensch in den Mittelpunkt gestellt und werden darüber hinaus seine Bezüge zur Umwelt aufgesucht, so können die Kinder eine innere Konsolidierung, eine innere Sicherheit im Verhältnis zur Welt ausbilden. Sie besitzen ein Zentrum, auf das sie die Informationsteile, die tagtäglich auf sie einstürmen, sinnvoll beziehen können.
Dr. habil. Edwin Hübner ist Lehrer für Mathematik, Physik und Religion an der Freien Waldorfschule Frankfurt/Main. Seit 2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Pädagogik, Sinnes- und Medienökologie (IPSUM) in Stuttgart. Dozent in der Lehrerausbildung, Autor mehrerer Sachbücher zum Thema Medienerziehung.
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Dieser Artikel erscheint in dem Reader "Struwwelpeter 2.0" in Kooperation des Bundes der Freien Waldorfschulen und der Aktion mündige Schule. Die AmS setzt sich für Freiheit im Bildungswesen ein und initiierte 1995 die erste Volksinitiative „Schule in Freiheit“ (www.freie-schule.de), später unterstützte sie die gleichnamigen Initiativen in Berlin und Brandenburg. Freiheit hat eine äußere und eine innere Seite. Erstere schafft die Bedingungen, Letztere die Substanz. Gemeinsam ist beiden, dass es sie nicht einfach gibt, sondern dass sie immer wieder neu erobert werden wollen. Medienmündigkeit ist eine der Freiheitsfragen unserer Zeit.
Die Broschüre (siehe "Struwwelpeter 2.0") wendet sich insbesondere an Erziehende und Lehrkräfte, kann aber auch von interessierten Eltern und Schülern verstanden werden, weil sie weitgehend auf Fachterminologie verzichtet. Es versteht sich von selbst, dass diese Skizze ein „work-in-progress“ ist, der sich kontinuierlich weiterentwickeln muss und wird. Vor allem möchte sie den Erziehenden und Lehrkräften Mut machen, sich aktiv mit einer der großen pädagogischen Herausforderung unserer Zeit auseinanderzusetzen.
Das Autorenteam – Franz Glaw, Dr. Edwin Hübner, Celia Schönstedt und der Unterzeichner – gehört der Arbeitsgruppe „Medienmündigkeit und Waldorfpädagogik“ an, die seit 2012 arbeitet. Außer den bereits Genannten gehören dem Arbeitskreis auch Christian Boettger, Klaus-Peter Freitag, Andreas Neider, Florian Osswald-Muller, Dr. Martin Schlüter und themenbezogen Dr. Paula Bleckmann an.
i Steiner, R. Menschenerkenntnis und Unterrichtsgestaltung. Rudolf Steiner Verlag. Basel. Im ersten Vortrag einer Serie von acht Vorträgen, Stuttgart, 12.-19. Juni 1921. GA 302
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