Gender aus der Perspektive der freien Geisteswissenschaft
Rudolf Steiners Konzept vom menschlichen Geschlecht dehnt sich weit in die ferne Vergangenheit und die ferne Zukunft. Steiner glaubt, dass in früheren Zeiten alle Menschen das gleiche Geschlecht hatten. „Aber das, was wir heute Menschenreich nennen, spaltet sich erst in der lemurischen Zeit in die beiden Geschlechter. Vorher haben wir es zu tun mit einer anders geformten Menschengestalt, die in einer gewissen Weise die beiden Geschlechter undifferenziert in sich enthalten hat.“ (1)
Steiner führt aus, dass das Geschlecht und seine Evolution untrennbar mit dem spirituellen Fortschritt der Menschheit verbunden sind. Ursprünglich ein Hermaphrodit, half die Entwicklung der Geschlechter dem Menschen, seine Individualität auszubilden, indem er das Selbst und das Andere wahrnehmen konnte. In unserer heutigen Zeit, in der wir uns vom binären Rahmen der Geschlechter entfernen, betrachten wir das menschliche Geschlecht in einem Kontinuum
und bewegen uns zu größerer individueller Freiheit hin zu einem Verständnis nicht durch das Geschlecht determinierten universellen menschlichen Erfahrung. Physisch, sozial und spirituell wird das Geschlecht in Zukunft nur noch von rein theoretischem Interesse sein. „Wenn der Mensch das Übergeschlechtliche findet, dann ist für ihn diese Zeitfrage gelöst.“ (2)
Gender und die menschliche Entwicklung
So wie sich in Steiners Vorstellung von der menschlichen Evolution der Mensch von einem ungeschlechtlichen zu einem geschlechtlichen Wesen wandelt und wieder zurück zu einem ungeschlechtlichen, so findet Steiner dieses Muster auch im Lebenszyklus jedes einzelnen Menschen heute. Menschen, so behauptet er, verfügen bis zum Alter von sieben Jahren nicht über ein spezifisches Geschlecht. Er sagt: „Es wird der Mensch in seinen ersten sieben Lebens-jahren, wollen wir kurz sagen, so betrachtet, als ob er schon männlich oder weiblich wäre. Das ist vom höheren Gesichtspunkte aus vollständig falsch.“ (3) Bis zu diesem Zeitpunkt behält das Kind einen eher allgemeinen menschlichen Charakter, der noch nicht in Geschlechter unterteilt ist.
Dann im zweiten Jahrsiebt entwickelt der Mensch Geschlechtlichkeit. Wenn ein Mensch aber das Ende seines Lebenszyklus erreicht, wird das Geschlecht wieder zu einem weniger wichtigen Merkmal des physischen Körpers.
Die Arbeit mit Transgender-Schülern an der Waldorfschule
Transgender-Schüler stehen vor der großen Herausforderung, einen ausgeglichenen Zustand zwischen ihrem physischen, ätherischen und astralen Leib zu erreichen. Doch neben dieser inneren Herausforderung stehen viele Transgender-Schüler auch vor sozialen, kulturellen und politischen Hindernissen. Deshalb stellen Transgender-Jugendliche eine überaus gefährdete Gruppe dar. Wie Michael Sadowki in “Safe Is Not Enough: Better Schools for LGBTQ Students”, deutlich macht, sind auch innerhalb der LGBTQ-Gemeinschaft Transgender-Schüler die Untergruppe, die in der Schule den größten Risiken in physischer wie psychischer Hinsicht, aber auch beim Lernerfolg ausgesetzt sind. So sind Transgender-Schüler oft die letzte Gruppe innerhalb der LGBTQ Community, auf deren Bedürfnisse Pädagogen angemessen eingehen. (4) Während die Statistiken über Transgender-Teenager häufig variieren, liefert PFLAG NYC, eine New Yorker Selbsthilfegruppe, einige zuverlässige Daten über LGBTQ Jugendliche. So berichten LGBTQ-Teenager im Vergleich mit ihren Altersgenossen 8,5-mal häufiger von Selbstmordversuchen und 5,9-mal häufiger von Depressionen; etwa zwei Drittel der LGBTQ-Schüler berichten, dass sie innerhalb des letzten Schuljahres schikaniert wurden; LGBTQ-Teenager leben häufiger in Pflegefamilien, im Jugendarrest und sind unter obdachlosen Jugendlichen überrepräsentiert und doppelt so oft wie andere Jugendliche geben sie an, die High School nicht abschließen zu wollen. (5)
Einige der sozialen, kulturellen und politischen Herausforderungen, denen sich Jugendliche gegenübersehen, sind leicht auszumachen. So müssen sie beispielsweise die für das bei der Geburt zugeschriebene Geschlecht vorgesehene Toilette benützen und nicht die der Geschlechtsidentität entsprechende; ein direktes Beispiel für die Einschränkung der Rechte von Transgender-Schülern. Viele Beispiele sind jedoch subtiler. Zum Beispiel werden Kinder in der Schule oft mit "Guten Morgen liebe Jungen und Mädchen" begrüßt oder werden gebeten, sich aufrecht an ihren Schreibtisch zu setzen, "wie Prinzen und Prinzessinnen". Schon sehr früh können Spielzeuge, Farben, Kleidung und unzählige andere Gegenstände, mit denen Kindern zu tun haben, einem Geschlecht zugeordnet werden. Diese Dinge sind weder repressiv noch unfreundlich gemeint. Doch gerade diese automatische Annahme einer binären Welt der Geschlechter macht die Erfahrung einer Geschlechtsidentitätsstörung oder Geschlechtsdysphorie so verstörend. Als letzten Punkt müssen wir uns klarmachen, dass wir eigentlich jeden einzelnen Schüler einbeziehen müssen, wenn wir über die Arbeit mit Transgender-Schülern sprechen; es wäre nämlich unrealistisch anzunehmen, dass ein Lehrer intuitiv erkennen kann, welcher Schüler ein Problem mit seiner Geschlechtsidentität haben könnte.
In Anbetracht dieser Herausforderungen und Statistiken stellt sich die Frage, wie wir als Erzieher Kinder durch die Schulzeit führen können, um sie auf ein Leben als gesunde Menschen vorzubereiten. Denn gleichzeitig befürworten wir als Waldorfpädagogen auch eine geschützten Kindheit, auch wenn wir dieser komplizierten Problematik offen gegenüberstehen und es sehr wichtig ist, den Schülern mit Achtung und Anteilnahme zu begegnen.
Es stellt sich die Frage, wie wir es vermeiden können, diese Thematik mit Schülern in einem zu frühen Alter anzusprechen und zu intellektualisieren. Der Lehrer kann beispielsweise darauf achten, dass er sensibler wird für Geschlechterdiversität und keine geschlechtsspezifischen Kommentare abgibt.
Wird die Problematik allzu direkt angegangen, könnte es sehr verwirrend oder beängstigend sein, das Bewusstsein eines Kindes für Geschlechterunterschiede sensibilisieren, oder das Kind auffordern, seine Geschlechtsidentität zu hinterfragen, zu diskutieren oder zu analysieren. Während eine offene Diskussion in einer Situation angebracht sein könnte, in der das Kind seine eigene Geschlechtsidentität zur Sprache bringt oder diskutiert, muss unser Ansatz in den meisten Fällen ein sorgfältiges Gleichgewicht zwischen Akzeptanz und Schutz, zwischen dem Expliziten und dem Impliziten sein.
Hinweise von Steiner
Um so radikaler war Rudolf Steiner, als er bei der Gründung der ersten Waldorfschule aus den Trümmern des Ersten Weltkriegs vorschlug, dass Mädchen und Jungen während ihrer 12 oder 13 Jahre in der Schule gemeinsam unterrichtet werden sollten. Noch radikaler war sein Beharren darauf, dass beide Geschlechter die gleichen Fertigkeiten erlernen sollten: Jungen sollten lernen zu stricken und zu weben, Mädchen sollten Maschinen bauen und Land vermessen. (6)
Steiners klare Haltung zur Sexualaufklärung ist, dass Sexualität, insbesondere alles, was mit „Lust auf Macht oder Erotik“ (6) zu tun hat, in der Schule nicht diskutiert werden sollte. Er glaubte, dass diese Dinge „ihren Lauf unter der Oberfläche des bewussten Lebens nehmen“ und keine Themen für das Klassenzimmer sind. Er sagt weiter, der schlechteste Weg, mit sexuellen Impulsen umzugehen, sei jedoch, viel über diese Dinge zu reden, besonders mit den Kindern selbst, und ihnen alle möglichen theoretischen Ideen in den Kopf zu setzen.
Dagegen sollten Pädagogen in den Kindern schon früh ein Gefühl für Schönheit wecken, meint Steiner. Er sagt: „Wenn Sie die Kinder dazu anleiten, die Schönheit und den Glanz von Sonnenaufgang und Sonnenuntergang zu empfinden, die Schönheit der Blumen zu empfinden, wenn Sie sie anleiten dazu, die Erhabenheit eines Gewitters zu fühlen, kurz, wenn Sie den ästhetischen Sinn ausbilden, dann tun Sie viel mehr, als mit den manchmal fast bis zum Blödsinn getriebenen sexuellen Unterweisungen, die man heute dem Kinde nicht früh genug beibringen kann. Schönheitsempfindung, ästhetisches Gegenüberstehen gegenüber der Welt, das ist dasjenige, was die Erotik auf das gehörige Maß zurückschraubt.“ (7)
Wenn wir diese Ideen auf das Thema Geschlechteridentität anwenden, stellen wir fest, dass es viele Aspekte der Natur gibt, die uns helfen können, die Kinder zu leiten. So ist es beispielsweise in den Zoologieepochen der vierten Klasse möglich, die komplexen Funktionsweisen der Geschlechter im Tierreich zu untersuchen. Viele Würmer zum Beispiel sind hermaphroditisch, während es eine Froschart gibt, bei der das Geschlecht nicht durch Gene, sondern durch den Temperaturbereich, in dem sich die Eizelle entwickelt, bestimmt wird. Auch in den Botanikepochen der fünften Klasse ist es möglich, die vielfältigen Möglichkeiten der Fortpflanzung von Pflanzen zu erforschen: Einige Pflanzen haben männliche und weibliche Arten, andere sind ungeschlechtlich. Sowohl im Pflanzen- als auch im Tierreich finden wir Beispiele für Arten, die im Laufe ihres Lebens von einem Geschlecht zum anderen übergehen. Diesen Aspekt der natürlichen Welt mit Ehrfurcht zu untersuchen, ist sicherlich ein pädagogisch sinnvoller Weg, um sich der Geschlechteridentität zu nähern.
Körper, Selbstwertgefühl und Ganzheitlichkeit
In der Einleitung zu „Trailing Clouds of Glory: Essays zur menschlichen Sexualität und Jugendbildung in Waldorfschulen“ (8), stellt Douglas Gerwin klar, dass „die Sexualerziehung im Hinblick auf den physischen Körper wichtig ist, um Schwangerschaften und Krankheiten vorzubeugen“. Wenn wir die Erziehungsaspekte betrachten, die wichtig sind, um die körperliche Gesundheit von Transgender-Schülern zu fördern, müssen wir uns auf ihre Gewohnheiten der Selbstsorge und Hygiene konzentrieren, um Dysphorie-bedingter Vernachlässigung entgegenzuwirken. Weil Teenager, die eine Geschlechtsidentitätsstörung erleben, sich von ihrem eigenen physischen Körper getrennt oder sogar abgestoßen fühlen können, benötigen sie unter Umständen direktere Anleitung im Hinblick auf physische Pflege und Hygiene. Darüber hinaus sind Transgender-Jugendliche hinsichtlich Selbstverletzung und Drogenmissbrauch eine Risikogruppe. Auch die Aufklärung der Schüler über die Gefahren solchen Verhaltens erfordert daher unsere Aufmerksamkeit.
Gerwin erklärt darüber hinaus, warum ein waldorfpädagogischer Ansatz zur menschlichen Sexualität die Seele oder das Selbstwertgefühl berücksichtigen muss. Er argumentiert gründlich und überzeugend, dass die Kunst - von der Malerei über das Theater bis hin zum Reiten - genau das richtige Werkzeug ist, um die Unerschütterlichkeit der Seele zu erreichen.
Schließlich müssen wir als Waldorflehrer auch immer das Ziel verfolgen, ganzheitlich zu erziehen. Gerwin formuliert es so: "Der Zweck eines Sexualkundelehrplans ist es, ein Gefühl der Ganzheit zu entwickeln." (8) Transgender-Menschen haben oft Schwierigkeiten, sich ganzheitlich zu fühlen: das Gefühl, unvollständig oder deformiert zu sein, ist das zentrale Thema der Geschlechterdysphorie. Ein Bild der Menschheit als ein großes Ganzes zu vermitteln, in dem wir alle einen kleinen Teil der gesamten menschlichen Erfahrung darstellen, kann für den Transgender-Schüler von großer Bedeutung sein.
Materialien für die Arbeit mit Transgender-Jugendlichen
Während Steiners Hinweise sowie gut durchdachte Kommentare zeitgenössischer Anthroposophen einen Rahmen bieten, um die Komplexität der Geschlechter pädagogisch fundiert anzugehen, gibt es auch außerhalb der Waldorfpädagogik nicht zu übersehende Ressourcen. Eine relevante Quelle für Lehrer und Schulverwalter ist das aktuelle Buch Safe is Not Enough: Better Schools for LGBTQ Students (4). Der Erziehungswissenschaftler und Autor Michael Sadowski bietet in diesem Buch viele praktische Hinweise für die Arbeit mit Transgender-Schülern in der Schule.
Übersetzung: Gerd Stemann
Jack Palmer ist Klassenlehrer an der Portland Waldorf School. Zuvor arbeitete er an der Kona Pacific Waldorf Charter School auf Big Island Hawaii. Zusätzlich zum Klassenunterricht war Jack in vielen anderen Funktionen bei Kona Pacific tätig, darunter als Fachbereichsleiter, Vorstandsmitglied und Mitglied des Leadership Council. Jack stammt aus Oregon und hat einen BA Abschluss in Englischer Literatur am Lewis & Clark College erworben. Anschließend machte er zwei Lehramtsabschlüsse in Louisiana und Hawaii sowie sein Waldorflehrerdiplom an der Antioch University in New Hampshire. Nebenbei: Jack absolvierte eine 4.000 Meilen Solo-Radtour von Portland, Oregon nach Portland, Maine!
Literatur
(1) Steiner Rudolf: Geisteswissenschaftliche Menschenkunde, Berlin, GA 107, Rudolf Steiner Verlag, 1988.
(2) Steiner, Rudolf: Die Erkenntnis der Seele und des Geistes, Berlin/ München, GA 56, Rudolf Steiner Verlag, 1985.
(3) Steiner, Rudolf: Das Rätsel des Menschen, Dornach, GA 170, Rudolf Steiner Verlag, 1992.
(4) Sadowski, Michael: Safe is not enough: Better schools for LGBTQ students. Cambridge, MA: Harvard Education Press, 2016.
(5) PFLAG NYC. Statistics you should know about gay and transgender students. Retrieved from <link https: www.pflagnyc.org safeschools statistics>
www.pflagnyc.org/safeschools/statistics
, 2016.(6) Steiner, Rudolf: Sexuality, love and partnership: From the perspective of spiritual science. Margaret Jonas (Ed.). London: Rudolf Steiner Press, 2011.
(7) Steiner, Rudolf: Menschenerkenntnis und Unterrichtsgestaltung. GA 302, Stuttgart, Rudolf Steiner Verlag, 1986.
(8) Gerwin, Douglas J. W. (Ed.). Trailing clouds of glory: Essays on human sexuality and the education of youth in Waldorf schools. Chatham, NY: Waldorf Publications at the
Research Institute for Waldorf Education, 2014.
Weiterführende Literatur
Boedecker, Anne L. The transgender guidebook. San Bernardino, CA: CreateSpace Independent Publishing Platform. (2011).
Glöckler, Michaela. Sexual union and spiritual communion. In Gerwin, Douglas J. W.
(Ed.). Trailing clouds of glory: Essays on human sexuality and the education of youth
in Waldorf schools. Chatham, NY: Waldorf Publications at the Research Institute for
Waldorf Education. (2014a).
Glöckler, Michaela. Sex and destiny: Guideposts on the paths of homosexuality and heterosexuality. In Gerwin, Douglas J. W. (Ed.). Trailing clouds of glory: Essays on human sexuality and the education of youth in Waldorf schools. Chatham, NY: Waldorf Publications at the Research Institute for Waldorf Education. (2014b).
Raupach, Sibylle. Implicit, not explicit: Laying the foundations for education of
human sexuality in grades 1-4. In Gerwin, Douglas J. W. (Ed.). Trailing clouds of glory: Essays on human sexuality and the education of youth in Waldorf schools. Chatham, NY: Waldorf Publications at the Research Institute for Waldorf Education. (2014).
Russell, Cat. Rudolf Steiner on teaching students about human sexuality. In Gerwin, Douglas J. W. (Ed.). Trailing clouds of glory: Essays on human sexuality and the education of youth in Waldorf schools. Chatham, NY: Waldorf Publications at the Research Institute for Waldorf Education. (2014).
Selg, Peter. Unbornness: Human pre-existence and the journey toward birth. Great
Barrington, MA: Steiner Books. (2010).
Steiner, Rudolf. Essentials of education. Great Barrington, MA: Anthroposophic Press. (1997).
Steiner, Rudolf. Transforming the soul, Vols. I and II. London: Cromwell Press Limited. (2005).