Von Geburt an durchdringen sich drei Ströme in der Entwicklung des jungen Menschen:
- Beobachten wir das kleine Kind, so können wir zunächst staunend erleben, wie es sich ganz aus seinem inneren Wesen Schritt für Schritt herausarbeitet in Bewegungen, Gesten, Laute, Blicke und Mimik hinein.
- Diese im lnnern entspringende Regsamkeit ist eng verbunden mit den Wachstumsprozessen des ganzen Organismus: Das Seelische klingt immer wieder neu zusammen mit den leiblichen Vorgängen.
- Den dritten Entwicklungsstrom nimmt das Kind in seiner Fähigkeit, noch als ganzer Mensch Sinnesorgan zu sein, von aussen auf. In seiner Hingabe- und Nachahmungskraft verbindet es sich tief mit allen äusseren Eindrücken.
Am Zusammenklang dieser Ströme bildet sich das Wesen des Kindes, das sich Tag für Tag weiterentwickelt: Das innerlich Geistige dringt heraus ins Seelische und ist dabei unmittelbar mit allem Leiblichen und Umgebenden verbunden.- Blicken wir auf den zeitlichen Verlauf, so sind bei aller Wandlung Phasen derKonsolidierung zu beobachten, in denen neue Erfahrungen und Lernschritte vom bestehenden Wesensgefüge getragen werden. Dadurch wirken diese Erfahrungen wiederum stärkend auf das Kind zurück. - Von diesen Entwicklungsabschnitten der Festigung und Findung unterscheiden sich dynamische Verwandlungsphasen, die von starken Entwicklungseinschlägen geprägt werden: Neue Impulse erschüttern das bisher Erreichte und führen in Übergänge hinein, die eine eigene Dynamik der Verwandlung, des Aufbruchs, aber auch der Empfindsamkeit und der Ungewissheit mit sich bringen. Diese Phasen des Umbruchs und der Neu-Bildung in ihrer Qualität, in ihren Gefahren und Möglichkeiten zu erarbeiten ist das Ziel der kommenden Erzieher- und Lehrer-Tagung vor Ostern 2015.
Mehr Informationen zur Tagung finden Sie <link www.paedagogik-goetheanum.ch/Internationale-Tagung-UEbergaenge.6416.0.html>hier</link>.
Übergänge wahrnehmen aus menschenkundlicher Perspektive
Umschwünge und Wendepunkte in der kindlichen Entwicklung stehen in einem spannungsreichen Wechselverhältnis zur Arbeit mit und an der Menschenkunde. Gehen wir zunächst aus von den drei Stufen der Verwandlung, die Rudolf Steiner am Ende des 3. Vortrages der Meditativ erarbeiteten Menschenkunde beschreibt: - Das bewusste Aufnehmen und Wahrnehmen im Studium, - das meditative, wiederholte Verarbeiten als „Verdauungsprozess“, der zu einem vertieften Verstehen führt, - und als dritter Schritt das im lebendigen pädagogischen Tun auftauchende Erinnern der Menschenkunde das im schöpferischen Willen zu neuen Impulsen führt. ln der Zusammenfassung können wir diese drei Schritte mit folgenden Qualitäten verbinden:
- Menschenkunde studieren - bewusste, denkende Wahrnehmung
- Menschenkunde meditieren - das wiederholte innerliche Bewegen
- Menschenkunde erinnern - das Schöpfen neuer Impulse im Tun
Gerade dort, wo Kinder nun neue Entwicklungseinschläge erleben, wo sie sich innerlich und äusserlich verwandeln, stehen wir zunächst vor der Herausforderung vom ersten zum zweiten Schritt dieses Weges: Wie kommen wir vom vorstellenden, gewöhnlichen Denken und von der äusseren Beobachtung zu einem beweglicheren Denken? Nur, wenn unser Verstehen sozusagen "flüssiger“ wird, können wir das innere Wesen des Kindes, das diese Verwandlungen hervorbringt, wirklich erkennen. Gelingt das nicht, so besteht die Gefahr, dass es bei einer äusseren Beobachtung bleibt. ln diesem Sinne ermutigt Rudolf Steiner die Waldorfpädagogen, sich einen feineren Blick für die Übergänge zu erüben:
"Gewiss, man redet von diesen Übergängen aber man redet nur von dem, was sich in grobem Sinne im physischen Leib abspielt, und was im Seelischen zum Ausdruck kommt durch eine grobe Abhängigkeit der Seele vom physischen Leib. Aber man weiss wenig zu sagen wie das Kind vor dem Zahnwechsel in seiner ganzen leiblich- körperlichen Organisation verschieden ist von dem, wie es sich darlebt in der zweiten Epoche,zwischen dem Zahnwechsel und der Geschlechtsreife. Zu diesen Dingen gehört eben eine feinere Beobachtungsmethode.“ (i)
Die Übungen, die dann zur Ausbildung einer solchen Beobachtungsfähigkeit beschrieben werden, haben einen methodischen Grundzug: Er besteht darin, dass der Abstand, den das gewöhnliche Denken von dem Beobachteten hat, durch innere Anstrengung und Bewegung überwunden wird, damit eine wirkliche Nähe und ein tieferes Verständnis entstehen kann:
„Dadurch, dass die Seele solche Übungen macht, kommt der Mensch ganz ohne Aberglaube,ohne Phantasterei, bei einer exakten Besonnenheit,wie man sie sonst nur in der Mathematik anwendet, dazu,seine Denktätigkeit so auszubilden, dass sie eine viel regere Fähigkeit ist. ... Aber das Geistige fühlt sich so an, wenn man die Gedanken gewissermassen verdichtet hat durch solche Übungen, dass man nicht jenes abstrakte Gefühl hat des Verstehens der Dinge,sondern ein wirkliches Gefühl, das sich herausbildet durch das geübte,verdichtete Denken.“ (ii)
Beobachtungs- und Vorstellungsübungen als Brücke zum bewegten Denken
Betrachten wir als Beispiel einer solchen Übung die sogenannte "Wolkenübung" aus der Schrift Rudolf Steiners „Die Praktische Ausbildung des Denkens": Sie besteht darin, etwas, was gut beobachtbar ist, zu einer Tageszeit sehr genau wahrzunehmen. Die genaue Beobachtung, zum Beispiel der Art, mit welcher Wolkenbildung die Sonne am Abend untergeht, wird vom Übenden innerlich so festgehalten, dass sich bis in alle Einzelheiten das Bild klar bewahrt. Am nächsten Tag wird dann etwa zur gleichen Zeit wieder die Wolkenbildung beobachtet. Im Laufe mehrerer Tage steht auf diese Weise eine Folge prägnanter Wolkenbilder nebeneinander. Während in dieser Übung das Einzelne der Beobachtung mit grösster Aufmerksamkeit wahrgenommen und festgehalten wird, sollen keine voreiligen Gedankenschlüsse oder Spekulationen diese tiefe Verbindung zu den Phänomenen stören. Gelingt es, diese Nähe zur Wirklichkeit der Erscheinungen in den zunächst nebeneinander stehenden Wolkenbildern zu erleben, so gilt es im nächsten Schritt, diese nun von einem Tag zum anderen sozusagen ihrer eigenen Natur nach ineinander übergehen zu lassen. Im beschriebenen Prozess entsteht also eine doppelte Beweglichkeit: zunächst richtet sich die denkende Aufmerksamkeit bei Enthaltung des Spekulierens ganz auf die Erscheinung, die in innerer Aktivität bewahrt wird. Dann wird zwischen zwei Wolkenbildern eine Bewegung angeregt, die der übende Mensch zwar wachsam mit vollzieht, die aber dem Wesen nach nicht aus ihm, sondern aus dem Wesen der Wolkenbildung selber stammt.
So führt diese Übung nach wiederholter Ausführung:
- zu einer stärker werdenden Aufmerksamkeit
- zur Wachheit gegenüber dem vorschnellen, spekulierenden Denken
- zum Vertrauen in den Gedankenzusammenhang der Erscheinungen
- zu einem beweglicheren Denken näher der Wirklichkeit der Vorgänge
Diese Wirkungen können auftreten, da sich die Vorgänge der Welt durch die innere Aktivität und Intensität auch dem Astral- oder Empfindungsleib und über ihn auch dem Äther- oder Lebensleib einprägen:
„ Wir fügen uns in den Gang der Welt durch Beobachtung der Vorgänge in der Welt und die Bilder möglichst ungetrübt in unsere Gedanken aufnehmen und in uns wirken lassen, in dem selben Masse werden wir in den Gliedern, die unserem Bewusstsein entzogen sind, immer gescheiter. Wenn wir es dann einmal können, bei solchen Vorgängen, die in einem inneren Zusammenhang stehen, das neue Bild in das andere übergehen zu lassen, so wie sich dieser Übergang in der Natur vollzogen hat, dann werden wir nach einiger Zeit sehen, dass unser Denken so etwas bekommen hat, wie eine gewisse Geschmeidigkeit.“ (iii)
Der hier beschriebene Weg einer Beobachtungs- und Denkpraxis, die wir auch in der Anschauung Goethes wiederfinden, bewegt sich nicht mehr ausserhalb der Dinge und Erscheinungen, sondern in den Lebensprozessen drinnen.
Das Kind im Umbruch des 3. Lebensjahres
Blicken wir nun in dieser Art der Wahrnehmung auf eine kindliche Phase des Umbruchs am Beispiel der Übergangszeit am Ende des dritten Lebensjahres: Wie stark die beeindruckende Sinnesoffenheit der Kleinkindzeit noch anwesend ist, zeigen Augenblicke, in denen sich dieses Kind mit ganzer Hingabe in der Wahrnehmung verliert. Hierzu die erste Beschreibung einer konkreten Lebenssituation:
Das Kind beobachtet im Spätherbst freudig staunend einen Erwachsenen, der viele Blätter mit einer Schubkarre abtransportiert. Am nächsten Tag fährt dieses Mädchen neben dem Erwachsenen auch Blätter mit einer Kinderkarre. ln der Sinnhaftigkeit von Tätigkeit und Nachahmung ist das Kind vollkommen aufgehoben. Überflüssiger Weise meint der Erwachsene nun, eine kommentierende Bemerkung machen zu müssen: "Das ist schön, dass wir beide heute Blätter fahren.“ - Diese Ansprache von aussen unterbricht den Willensstrom der Hingabe des Kindes. Es bleibt stehen und sagt entschieden: „Wir beide- und ich!" Dann geht die Arbeit weiter.
Neben dieses Bild stellt sich einige Tage später ein zweites:
- Auf einem Weg durch die Stadt erkennt das Kind im Gehen Ort und Strasse wieder, gleich ist der Marktplatz erreicht. Unmittelbar wird das Mädchen vom Willen erfasst, dort wieder hin zu gehen. Als die Mutter mit anderem Ziel einen anderen Weg einschlägt, kommt es zu einem zornigen Protest: "Nein!- Nein! -Ich will nicht dahin!"- Bis zum Stampfen und Zittern wird der junge Mensch von seiner eigenen Willenskraft ergriffen und erschüttert. (Bis zu dieser Vehemenz deutlich "Nein" zu sagen ist später den meisten Erwachsenen leider nicht mehr möglich.)
Einige Zeit nach dem dritten Geburtstag folgt eine weitere neue Phase der beschriebenen Übergangszeit:
- Nach einem Moment des Sinnens fragt das Mädchen ganz unvermittelt ernst: "Mama, wie macht der liebe Gott, dass Haare wachsen?- Streut er Körner auf den Kopf?"-
Stellen wir in allen Einzelheiten - hier zusammengefasst - diese drei Entwicklungsbilder nebeneinander:
- Der nachahmende Wille, der- von aussen unterbrochen- zu einem Moment des Ich-Bewusstseins führt
- Das Erglühen im Zorn des Nicht-Wollens und des Sich-Selbst-Behauptens
- Das fragende Verbinden von Bildern aus der kindlichen Phantasie heraus
Versuchen wir nun, das eine Bild in das andere ganz aus der Perspektive des Kindes übergehen zu lassen, stehen wir vor einem dynamischen, brisanten Übergang: Die vollkommene Hingabe an die Umgebung ist noch anwesend, sie wird aber in verschiedener Dauer und Intensität von einem aufkeimenden Ich-Bewusstsein durchwoben und durchkreuzt. Dieses kann sich in sinnenden, stillen Augenblicken nun auch ganz nach innen wenden und zu neuen Fragen führen, die dem Kind in einem neuen Verhältnis zur Welt ernst und wichtig sind und die sich oft in Bilder kindlicher Phantasie kleiden. Im konkreten Blick auf dieses Mädchen entstand den Eltern der Eindruck, dass die frühere selbstverständliche Geborgenheit in der Hingabe und Nachahmung sich in der Qualität verwandelte: Ganz aus dem inneren Willen heraus erwachte Schritt für Schritt ein Erleben und ein Erfühlen des eigenen Wesens. Die Äusserungen dieses ersten bewusst werdenden Ich-Gefühls konnten in dieser Zeit des Übergangs sehr unvermittelt wechseln zwischen einem versonnenen, stillen Betrachten der Welt und starker, entschiedener Bewegungstätigkeit, bis hin zu impulsiven Zorn-Ausbrüchen. Indem aus den beschriebenen Lebensbildern ein vertieftes Verständnis des dreijährigen Kindes entsteht, ergibt sich als innere Konsequenz der Ansatz der Erziehung: Die starke eigene Entwicklungskraft des Kindes wirkt dort am stärksten, wo Eltern und Erzieher nicht direkt in diesen Willen eingreifen, sondern wo sie im täglichen Leben eine nachahmungswürdige und phantasieanregende Umgebung bilden:
- in der bewegten, tätigen Arbeit
- in der klaren Sprache
- in der menschlich-aufrichtigen Art der Begegnungen
- wenn möglich in der künstlerisch-musikalischen Betätigung
- und im liebevollen, verständnisvollen Blick auf das Wesen des Kindes, dass sich Schritt für Schritt aus dem Inneren herausarbeitet
Die folgenden Worte Rudolf Steiners fassen die Bedeutung und Verantwortung der Erzieherhaltung für dieses Alter zusammen: „Dessen müssen wir uns bewusst sein: Nicht durch Ermahnungen, durch Gebote wirken wir auf die Kinder, sondernlediglich durch das, was wir in ihrer Umgebung tun.“ (iv)
Erziehung und Lehrplan aus der Kindesnatur ablesen
Gerade dort, wo sich das Kind in einer Übergangszeit verwandelt, wo sich neue Kräfte in die schon erworbenen hineindrängen und der junge Mensch zwischen verschiedenen Ebenen einen neuen Halt sucht, wird die Entwicklungskraft eines Kindes erfahrbar. Je näher die Erziehenden auf dem beschriebenen Weg der Beobachtung dem Wesen des Kindes kommen, je beweglicher sie im wahrnehmenden Denken werden, desto feiner und klarer kann am Kind selbst der antwortende Ansatz der Erziehung gefunden werden: „Wer diese Möglichkeit in sich entwickelt, so seinen Geist in sich zu konfigurieren, der macht sich in einer anderen Weise lebendig gegenüber dem werdenden Kinde und auch gegenüber einer ganzen Summe, einer ganzen Anzahl von werdenden Kindern, und gerade dadurch gelangt man dazu, den Lehrplan aus der Natur des sich entwickelnden Kindes abzulesen.“ v
In diesem Zusammenhang meint das Wort Lehrplan hier nicht ein fertiges, ausgeschriebenes Regelwerk, sondern die Wahrnehmung von dem, wonach die Kindesnatur verlangt, um sich weiter entwickeln zu können. Folgt der Erzieher im Erleben des Kindes der wahrgenommenen Notwendigkeit, was in dieser Phase zu tun ist, entsteht eine Resonanz zwischen Entwicklung und Tätigkeit, die aufbauende, fördernde Wirkung hat. Um dieses „Ablesen“ der Erziehungsantwort näher zu beschreiben, blicken wir jetzt in der oben beschriebenen Methode des Beobachtens auf verschiedene Phasen beim Übergang des Zahnwechsels im 6./7. Jahr. Wir beginnen dabei mit der Perspektive der Kindergärtnerin:
Es ist Frühsommer und gerade ziehen sich alle Kinder der Gruppe ihre Stiefel und Jacken an, um draussen zu spielen. Während die Kindergärtnerin noch einigen Jüngeren behilflich ist, stehen zwei befreundete Jungen noch ungewohnt zögerlich an der Tür. Da sagt der ältere von beiden, der schon prächtige Zahnlücken hat: „Komm, wir gehen ins Regenhaus und reden über Blitze und so!“ Dann läuft er los und der jüngere folgt ihm. Am Ende des Vormittags sitzen beide still beim Puppenspiel. Während der jüngere unmittelbar in die bewegten Bilder des Märchens hineinfindet, wechselt der ältere zwischen einem ernsten, wachsamen, wie fragenden Blick und einem Eintauchen in die Geschichte hin und her.
Als die Kindergärtnerin die Worte des Älteren hört und seine Haltung bemerkt, erinnert sie sich an andere Begebenheiten mit ihm in den letzten Monaten: Der Rückzug aus der Unmittelbarkeit des kindlichen Spiels, die Streckung der Gestalt, der oft abwartende, fragende Blick und das Hervorbrechen der bleibenden Zähne werden zu einem Gesamtbild einer tiefgehenden Verwandlung. Es wird ihr noch bewusster, wie stark neue Impulse aus dem Inneren dieses Jungen sein Erleben der Welt verändern. Rudolf Steiner beschreibt diese Wandlung mit folgenden Worten: „Dieser merkwürdige Schlusspunkt des Kindesalters, … dass das Verhärtungsprinzip seinen letzten Anlauf nimmt und die bleibenden Zähne herauskristallisiert aus der menschlichen Organisation. Aber auch … die parallel gehende geistig-seelische Entwicklung, die durchaus noch von der Nachahmung ausgeht. … Nun beginnt um das 7. Jahr ein deutlicher Umschwung, von dem wir sagen können: Es bricht herein in das kindliche Alter die Fähigkeit, ganz anders zu reagieren als vorher. Vorher war das Auge bedacht nachzuahmen, das Ohr bedacht nachzuahmen. Nun fängt an das Hinhören des Kindes auf dasjenige, was von den Erwachsenen als Meinung, als Anschauung ausgeht.“ vi
Bei der Beschreibung der Verwandlungsphasen des Jungen im Konferenzgespräch mit den Kolleginnen entsteht das Bild eines Kindes, das sich in einer Brandungszone zwischen der noch tragenden Nachahmung und neuen Bewusstseinseinschlägen befindet. Aus den Begegnungen und der inneren Beschäftigung mit dem Jungen beginnt die Erzieherin eine andere Haltung ihm gegenüber zu entwickeln: Ihre Worte an ihn sind klarer, gerichteter geworden und eingebunden in den Lebens-Rhythmus des Kindergartens hat sie ihm andere Aufgaben und Verantwortungen übertragen. Das Urteil der Erzieher und Lehrer in der Aufnahme-Gruppe über seine baldige Schulreife bestätigt sich deutlich. Beim jüngeren Freund fällt die Entscheidung für die Einschulung erst im Mai, als sich auch bei ihm mit dem einsetzenden Zahnwechsel neue Fähigkeiten zeigen. Nach drei Sommermonaten, die bei den Jungen ganz im Zeichen weiterer Veränderungen stehen, erleben beide die Einschulungsfeier.
Der Übergang des 7. Jahres als Kampfzone divergierender Kräfte
Blicken wir nun aus der Perspektive des Unterrichts auf die beschriebene Übergangszeit:
Wenige Tage nach der Einschulung betreten die Erstklässler erwartungsvoll ihre Klasse. Bei der Begrüssung sind alle Blicke auf die Lehrerin gerichtet. Mit freudiger Leichtigkeit nehmen die Kinder ihre Worte auf, die zum gemeinsamen Sprechen des Morgenspruches und zu einem Lied überleiten. Anschliessend führen wenige gewählte Worte von „Mutter Sonne und ihren goldenen Strahlen“ die Schüler zu einem ganz innerlichen seelischen Erleben. Es scheint, als öffnete die Sprache der Lehrerin ein Tor zu einer inneren Bilderwelt der Vorstellung und Phantasie. Als sie dann das erste Mal zu Versen klar geführte Bewegungen hinzufügt, greifen die staunenden Kinder diese ganz unmittelbar auf. Sprache, Rhythmus, Bilderleben und Bewegung werden zu einer Klang-Einheit und zu einer Konkordanz mit dem ganzen Kindeswesen: „Goldne Sonne, Deine Strahlen reiften Korn und Frucht im Land. Holet nun die Erntewagen, ladet sie mit fleissiger Hand. … “ Während das beschriebene jüngere Kind dabei noch ganz im Bild ruht und mehr aus kindlich-unbewusster Nachahmung den Bewegungen im Willen folgt, greift der ältere Junge deutlich wachsamer die feineren Nuancen der Bewegungen auf. Auch sein Mitsprechen ist bis in die Betonungen der einzelnen Laute schon wachsamer und zielbewusster. Als die Lehrerin später nach dem Märchen vom gestrigen Tag fragt, kann der Ältere sich mit innerer Leichtigkeit an die Bilder und Handlungen erinnern.
Als wesentliche Tendenz in der geschilderten täglichen Begegnung erlebt die Lehrerin während der ersten Schulwochen das zunehmende Verlangen der Kinder, ihre äusseren Kräfte und Fähigkeiten in neue, innere zu verwandeln:
das tiefe Hineinhören in die Worte des Erwachsenen
den Zusammenklang von geformter Sprache und schön geführter Nachahmungs-Bewegung
das staunende Betätigen der Phantasie in den inneren Bildern
das hingebungsvolle Erleben der Erzählungen
das Erinnern des gestern Gehörten oder früher Erlebten
das eigenständige Formen und Ausführen der gestaltenden Arbeiten
Mit der Summe dieser erwachenden, inneren seelischen Fähigkeiten ist das Freiwerden oder die Neu-Geburt der ätherischen Bildekräfte beschrieben, die sich aus der Einbindung in das organische Wachstum des Kindes herauslösen. Indem die Lehrerin in der unmittelbaren Unterrichts-Begegnung mit der 1.Klasse und im täglichen, rückblickenden Betrachten erkennt, was diese Kinder nun Tag für Tag im Lernen suchen und brauchen, erfasst und realisiert sie einerseits den innerenLehrplan dieser Altersstufe. Zugleich bildet sich in den ersten Wochen ein immer feineres Gespür für die individuellen Verschiedenheiten. Gerade im individuellen Blick zeigt sich diese Übergangszeit als eine Kampfzone der schon mitgebrachten und der neuen Kräfte: So drängt es den älteren Jungen so sehr zu den neuen, innerlichen Seelenkräften der phantasievollen Vorstellung und der Erinnerung, dass er immer wieder eine Ermunterung und Anregung braucht, um auch beim Spiel draussen auf dem Hof genügend stark die gesundende, äussere Bewegung zu ergreifen. - Der jüngere hingegen, der noch so selbstverständlich im Laufen, Springen und Spielen lebt, braucht sehr starke, bewegt erzählte Bilder, um ganz in das innere Miterleben und damit in die spätere Erinnerungsfähigkeit zu finden. – Diesen inneren Kampf zwischen schon erworbenen und neu entstehenden Kräften beschreibt Rudolf Steiner mit folgenden Worten: „Da fangen mit dem 7. Jahre diejenigen Kräfte, die nun als Seelenkräfte im Leibe selbst neu entstehen, an wirksam zu werden - … Und dann wird zurückgestossen das, was vom Leibe aus ausstrahlt, und aufgehalten werden andererseits die Kräfte, die vom Kopf nach abwärts schiessen. So dass in dieser Zeit, wenn die Zähne wechseln, der stärkste Kampf sich abspielt zwischen den Kräften, … jener Kräfte, die später beim Kind zum Vorschein kommen als die Verstandes- und intellektuellen Kräfte, und jener Kräfte, die besonders verwendet werden müssen im Zeichnen, Malen und Schreiben.“ (vii)
Fassen wir abschliessend die Qualitäten dieser Zeit des Umbruchs im 6./7. Jahr aus den verschiedenen Perspektiven zusammen: Im Gegensatz zum Übergang des dreijährigen Kindes zeigt sich hier ein deutlich komplexeres Geschehen, da sich früher gebildete Fähigkeiten des Wachstums und der kindlichen Nachahmung einerseits verwandeln und zugleich neben neuen Kräften bestehen bleiben: Fortführung, Loslösung, Umwandlung und Neugeburt durchdringen den ganzen jungen Menschen vom innerlich Geistigen bis in die Leibesgestaltung.
Dirigent dieses komplexen Geschehens ist die Individualität des Kindes, die mit dieser Übergangszeit einerseits tiefer den Leib ergreift und zugleich einen völlig neuen Erfahrungs- und Lernhorizont im Seelischen eröffnet. Der Individualität des Kindes steht auf bewussterer Ebene die Individualität des Erziehers und Lehrers gegenüber: Wird ein bewegtes, wahrnehmendes Denken zur freien Fähigkeit ausgebildet, kann das Wesen des Kindes im Zusammenschauen und Zusammendenken verschiedener Perspektiven und Erlebnisse erkannt werden. Gerade an der Vielschichtigkeit des Übergangs in der Zeit des Zahnwechsels beschreibt Rudolf Steiner im Band der Meditativ erarbeiteten Menschenkunde diese Methode der geistigen Erkenntnis:
„In der Geisteswissenschaft lässt sich nicht anders charakterisieren, als dass man von verschiedenen Seiten her sich einer Sache nähert und die ergebenden verschiedenen Anschauungen dann zusammenschaut. Geradesowenig, wie in einem einzigen Ton eine Melodie gegeben werden kann, so wenig können Sie das, was geisteswissenschaftlicher Inhalt ist, mit einer einzigen Charakteristik umfassen; sie müssen die Charakteristik von verschiedenen Seiten nehmen.“viii
Gelingt es in diesem Sinne, die Entwicklungs-Melodie eines Kindes oder einer Kinder-Gruppe aus einer Reihe von Wahrnehmungen zu beschreiben und zu erkennen, kann die Signatur des inneren Lehrplans daran abgelesen werden und sich in klaren Erziehungs- und Unterrichtsschritten verwirklichen.
Im Teil II. der Ausführung werden die Umschwünge des 9./10. und des 12. Jahres und das Rätsel des Zeitorganismus in der menschlichen Biographie im Mittelpunkt stehen.
Claus-Peter Röh. geboren am 15.12.1955. Nach dem Studium der Pädagogik war er von 1983 an als Klassen-, Musik- und Religionslehrer an der Freien Waldorfschule in Flensburg tätig. Neben der Unterrichtstätigkeit arbeitete er als Gastdozent an der Pädagogischen Hochschule in Flensburg und gab Kurse an verschiedenen Lehrerseminaren in Deutschland. Seit 1998 ist er Mitglied im Initiativkreis der Pädagogischen Sektion in Deutschland. Im September 2010 wechselte er zur
Pädagogischen Sektion am Goetheanum in Dornach/CH. Ab Januar 2011 in Kooperation mit Florian Osswald Übernahme der Sektionsleitung. Verheiratet, 2 Kinder.
i Steiner, R. GA 309, Anthroposophische Pädagogik und ihre Voraussetzungen, 2. V., Bern, 14. 4. 1924
ii Ibid. S. 30, 31
iii Steiner, R. Die praktische Ausbildung des Denkens, 1. Teil, Karlsruhe 18. 1. 1909, S. 25
iv Steiner, R. GA 297, Erziehung zum Leben, Amsterdam, 28. 2. 1921, S. 54
v Steiner, R. GA 301, Die Erneuerung der pädagogisch-didaktischen Kunst durch Geisteswissenschaft, Basel, 26. 4. 1920, S. 76
vi Steiner, R. GA 297, Idee und Praxis der Waldorfschule, 27. 11. 1919
vii Steiner, R. GA 302a, Erziehung und Unterricht aus Menschenerkenntnis, 16.9. 1920, S. 26/27
viii Ibid. S.55