Erinnern Sie sich an an Erlebnisse aus der Schulzeit? Für viele von uns sind die Unterrichtsinhalte und woran wir uns davon erinnern, zwei Paar Schuhe. Wir sassen endlose Schulstunden ab, liessen Lektionen über gemeinsame Nenner, Zellteilung, Heliotropismus, Vorsilben, Revolten und Industrialisierung über uns ergehen.
Unsere Fähigkeiten entwickelten sich dabei still im Hintergrund, etwa mit der selben Geschwindigkeit wie unser Interesse. Im Vordergrund aber stand, wie ein Wächter vor einer Burg, unser Gefühlsleben. Unsere Gefühle gaben den Ton für das Lernen an. Frühe Erinnerungen, das sind einerseits süsse Andenken an die Kindheit aber auch an die Einschüchterung, die wir auf dem Schulhof erlebten, die Einsamkeit, die wir fühlten, als wir versuchten, herauszufinden, wer wir sind. Wir erinnern uns an die Blamagen mit dem anderen Geschlecht, an die Siege und Niederlagen und an die Feindseligkeit, die wir den so selbstsicher wirkenden Erwachsenen gegenüber empfanden. Als wir reifer wurden, fühlten wir uns vielleicht so, als ob wir in einem Meer der Unsicherheit schwimmen würden, nur getragen von Wellen der Hoffnung. In diesem Aspekt unserer Lebensschule waren wir meistens ziemlich alleine.
In einer Welt, in der der kulturelle Niedergang und die Vorherrschaft der modernen Medien die Seelenstimmung vergiften, in der die Kinder um ihr Überleben kämpfen müssen, dürfen wir ihre emotionale Erziehung nicht dem Zufall überlassen.
Die Tendenz zum Individualismus in der westlichen Welt lässt die Frage nach dem zukünftigen sozialen Zusammenhalt und dessen Nachhaltigkeit entstehen. Die zunehmende Zersplitterung der Familien und der dramatische Anstieg der Scheidungsraten führen zu neuen emotionalen Belastungen für Kinder, die den Gefühlen von Unsicherheit und Risiko machtlos gegenüberstehen.i
In den Vereinigten Staaten leidet eines von zehn Kindern unter schwerwiegenden psychischen Problemen, aber nur sehr wenige erhalten die Hilfe und Unterstützung, die sie brauchen. Eine nationale Studie des „U.S. Centre for Disease Control“ kam zum Schluss, dass acht Prozent der Jugendlichen im 9. bis 12. Schuljahr einen Suizidversuch hinter sich haben und dass 17 Prozent angaben, sie hätten „Suizid ernsthaft in Erwägung gezogen“. Diese besorgniserregenden Statistiken spiegeln die Symptome der tiefen Schwermut, die Kinder aller Gesellschaftsschichten betreffen. ii
Das Heilmittel dazu ist die Stärkung des Selbst, so dass junge Menschen nach der Pubertät zu selbstbestimmten, emotional stabilen, sozialen Wesen werden können. In alten Zeiten übernahm die Gemeinschaft – die Kirche, die Familie oder die Nachbarschaft – diese Aufgabe. Heute ist dies oft nicht der Fall, darum muss die Schule dieses Aufgabe übernehmen.
Wir beobachten eine zunehmende Individualisierung der Gesellschaft und wir sehen Anzeichen der Vorbereitung für die Geburt der Bewusstseinsseele. Es ist dies ein Licht, das aus der Zukunft heraus leuchtet. In der Zukunft werden wir die Empfindungen anderer in uns selbst empfinden. Wir werden unfähig sein, dies nicht zu tun. In der Geisteswissenschaft nennt man dieses post-individuelle Stadium „die Entwicklung des Geist-Selbst.“iii Dieses höhere Entwicklungsstadium der Seele beruht auf emotionaler Stabilität und innerer Balance.
Sozio-emotionale Bildung
Die kognitive Forschung iv macht darauf aufmerksam, dass die sozio-emotionale Entwicklung genauso wichtig wie die intellektuelle und physische Entwicklung der Kinder ist. Unser Gefühlsleben kann auch unser „Instinktleben“ genannt werden. Die Gefühle reagieren, bevor sich das Denken einschaltet, und sie können sogar das Denken auslöschen. Die emotionale Gesundheit der Kinder wirkt sich auf ihre schulische Leistung aus. In anderen Worten, Depression, Angst und Niedergeschlagenheit behindern die kognitive schulische Leistung. In ähnlicher Weise trägt die Schule zu Problemen der psychischen Gesundheit bei.
Antonio Damasio, ein Neurobiologe der Universität von Southern California, erforscht die Neurobiologie des Denkens und Verhaltens mit Fokus auf Emotionen, Entscheidungsprozesse, Erinnerung, Kommunikation und Kreativität. Er konnte zeigen, dass Emotion und Denken im Gehirn keine getrennten Aktivitäten sind, sondern dass sie ununterbrochen miteinander verbunden sind. „Die Gefühle scheinen eine Art Gerüst zu sein, ohne welches der Aufbau des Denkens nicht stattfinden kann.“v
Die mit emotionalen Impulsen in Beziehung stehenden präfrontalen Lappen des Gehirns werden auch mit dem Arbeitsspeicher und dem Lernen in Verbindung gebracht.
Linda Lantieri drückt es so aus:
„Eltern und Erzieher werden sich mehr und mehr bewusst, dass chronische Ängste oder Trauer die Gedanken der Kinder einnehmen können, somit ist im Arbeitsspeicher weniger Kapazität für das Verarbeiten des Gelernten vorhanden. Dies impliziert, dass - wenigstens teilweise - der schulische Erfolg davon abhängt, wie gut Schülerinnen und Schüler fähig sind, positive soziale Interaktionen aufrecht zu erhalten.“vi
Sozio-emotionales Können ermöglicht es den Kindern, zu kommunizieren, mit anderen in Verbindung zu treten, Konflikte zu lösen und mit Herausforderungen umzugehen. Es gibt den Kindern das nötige Vertrauen, Ziele zu erreichen und die Möglichkeit, angesichts der Schwierigkeiten des Lebens nicht aufzugeben.
Genauso wie andere wichtige Meilensteine, welche Neugeborene und Kleinkinder in den ersten drei Lebensjahren erreichen, beispielsweise der aufrechte Gang und das Sprechen, so braucht auch die Entwicklung der sozio-emotionalen Fähigkeiten Zeit, Übung und die Geduld von Eltern und Lehrkräften. Die erste Aufgabe einer weisen Lehrerin oder eines Lehrers ist es, die Gefühle der Klasse in Bezug auf das kommende Thema anzusprechen. Dieses Interesse öffnet die neuralen Wege, welche Kognition zulassen.
Die Befürworter der sozio-emotionalen Inklusion berufen sich auf eine intellektuelle Erbschaft, die bis Aristoteles zurück reicht; er beschreibt die Kontrolle und das Verstehen der Gefühle als unerlässliche Tugenden. Aristoteles schreibt: „Die Menschheit ist sich nicht darüber einig, was unterrichtet werden soll, weder im Bezug auf Tugenden noch im Bezug auf das bestmögliche Leben. Es ist auch nicht klar, ob Erziehung und Bildung mehr mit intellektuellen oder mit moralischen Tugenden zu tun haben. Die existierende Praxis macht uns perplex. Niemand weiss, auf Grund welcher Prinzipien wir vorwärtsgehen sollen – soll das Nützliche, oder soll Tugend, oder soll das höhere Wissen das Ziel der Bildung sein? All diese Möglichkeiten wurden in Erwägung gezogen.
Nicht alle Menschen haben die selbe Meinung darüber, was die Jugend lernen soll, um einen guten Charakter zu entwickeln oder um das bestmögliche Leben zu führen. Es gibt auch keine Einigung darüber, ob sich Schulbildung auf das Aneignen von Wissen oder auf Charakterbildung konzentrieren soll; ob es richtig sei, die Lebenstüchtigkeit, den reinen Charakter oder das Wissen zu fördern.“vii
Laut des „Collaborative for Academic, Social and Emotional Learning“ (CASEL) werden heute nur ungefähr zehn Prozent der amerikanischen Primar- und Oberstufenschüler auf Grund eines sozialen und emotionalen Lehrplans unterrichtet.viii
Die Befürworter weisen auf eine wachsende Anzahl von Studien hin, welche die positiven Auswirkungen von Programmen für das emotionale Lernen auf Bereiche wie Testresultate, Angstzustände und Drogenmissbrauch aufzeigen. Aber das ultimative Ziel ist etwas Grösseres: Eine Neudefinition dessen, was die Schule unterrichten soll und welche Art von Wissen wir wertschätzen. Menschen, die sich für emotionale Bildung einsetzen, propagieren, dass die Probleme des amerikanischen Bildungssystems nicht gelöst werden können indem man den Kindern das Lesen früher beibringt oder ihnen lehrt, wie man das Okefenokee Sumpfgebiet auf einer Landkarte findet. Die Schülerinnen und Schüler müssen lernen, ihre zentralen und einzigartigen menschlichen Qualitäten besser zu ergreifen und zu verstehen.
Daniel Goleman trägt wesentlich zur Bildungsdiskussion bei, wenn er das Bedürfnis nach einem Nähren des sozialen und emotionalen Lebens der Kinder thematisiert. In seinem Buch Emotionale Intelligenz fasst er Studien aus den Gebieten der Neurowissenschaften und der kognitiven Psychologie zusammen, in welchen der EQ (Emotionale Intelligenz) als wichtiger für die kindliche Entwicklung und den Lebenserfolg erachtet wird als der IQ oder standardisierte Tests. Er erkennt fünf Elemente, die auf zentrale sozio-emotionale Fähigkeiten hinweisen:
1. Emotionen handhaben: Gefühle angemessen handhaben; die eigenen Emotionen kontrollieren;
2. Selbstbewusstsein: Die eigenen Gefühle wahrnehmen und verstehen;
3. Motivation: Eigene Gefühle regulieren, um unsere Ziele zu erreichen;
4. Empathie: Erkennen und decodieren der Gefühle anderer; und
5. Soziale Fähigkeiten: Mit anderen in Beziehung treten und sie beeinflussen.ix
Zusätzlich werden in der sozio-emotionalen Bildung fünf altersgemässe und essentielle Teilgebiete der sozialen und emotionalen Entwicklung angesprochen:
1. Selbstwahrnehmung: Die eigenen Kapazitäten, Stärken, Emotionen und Werte erkennen;
2. Umgang mit Gefühlen: Mit Gefühlen und Verhaltensweisen umgehen, Hindernisse standhaft überwinden
3. Soziale Achtsamkeit: Die Gefühle anderer verstehen und Empathie entwickeln;
4. Beziehungsfähigkeit: Positive Beziehungen leben, Teamwork, Konfliktfähigkeit; sowie
5. Verantwortungsbewusstes Entscheiden: Ethische und konstruktive Verhaltensweisen im persönlichen und sozialen Bereich wählen.
Nach Goleman ist „der emotionale Verstand schneller als der rationale Verstand; er wird aktiv ohne auch nur einen Moment zu zögern“.x Schülerinnen und Schüler müssen lernen, dass sie die Fähigkeit besitzen, ihre Reaktion auf individuelle Emotionen zu wählen. Um ein bereicherndes Leben zu führen, müssen sie lernen zu verstehen, was diese Emotionen sind. Goleman fügt bei, was Schülerinnen und Schüler lernen sollten; dazu gehören:
„Selbstwahrnehmung in dem Sinne, dass man seine Gefühle erkennt und ein Vokabular für sie entwickelt und dass man die Zusammenhänge zwischen Gedanken, Gefühlen und Reaktionen wahrnimmt; die Erkenntnis, ob eine Entscheidung von Gedanken oder Gefühlen bestimmt ist, die Einsicht in die Folgen alternativer Entscheidungen und die Anwendung dieser Einsichten auf Probleme wie Drogen, Rauchen und Sex. Selbstwahrnehmung bedeutet auch, dass man seine Stärken und Schwächen erkennt und sich selbst in einem positiven, aber realistischen Lichte sieht.
Ein anderer Schwerpunkt ist der Umgang mit Emotionen: Die Kinder machen sich klar, was hinter einem Gefühl steckt (z.B. die Verletzung, die die Wut anfacht), und lernen, wie man mit Ängsten, Wut und Traurigkeit umgeht. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Übernahme der Verantwortung für Entscheidungen und Handlungen und die Einhaltung von Verpflichtungen.
Eine wichtige soziale Fähigkeit ist die Empathie, das Verstehen der Gefühle anderer und die Einfühlung in ihre Lage, sowie die Respektierung abweichender Ansichten anderer. Ein zentrales Thema sind die Beziehungen; hier lernen die Kinder, gute Zuhörer und Fragesteller zu sein, zwischen dem, was einer sagt oder tut, und den eigenen Reaktionen und Urteilen zu unterscheiden und selbstbewusst statt wütend oder passiv zu sein; sie erlernen die Kunst der Kooperation, der Konfliktlösung und der Aushandlung eines Kompromisses.“xi
Antoine de Saint-Exupéry fasst dies zusammen in den Worten des kleinen Prinzen: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“
Waldorfpädagogik und das sozio-emotionale Lernen
„Waldorf Pädagogik fördert die ausgeglichene Entwicklung hin zu einer Reifung des Körpers, des Verhaltens, der Emotionen sowie der kognitiven, sozialen und spirituellen Aspekte des Menschen.“xii Die Forschung an Waldorfschulabsolventen zeigt, dass der Waldorf Lehrplan bereits viele Attribute eines starken sozio-emotionalen Curriculums enthält.xiii Trotzdem können wir noch mehr tun. Schulen müssen erstens die Bedeutung des Begriffs „Pädagogik“ erweitern, um ihn in seiner ganzen Bedeutung zu erschliessen, und sozio-emotionale Bildung muss bewusst unterrichtet werden. Die Ressourcen stehen zur Verfügung, aber der zentrale Punkt ist, zuerst die Entwicklung des Kindes zu verstehen. Dieser Punkt kommt in Golemans Buch zu kurz. Zweitens müssen wir den Lehrplan studieren um festzustellen, wo Schwerpunkte zur Stärkung der sozio-emotionalen Fähigkeiten gesetzt werden können. Und drittens können wir uns mit der Demographie der sozio-emotionalen Entwicklung beschäftigen, die jedoch von Ort zu Ort verschieden sein wird.
Waldorf Curricula enthalten vieles, welches hilft, den moralischen Willen der Schülerinnen und Schüler zu stärken. „Im Lernprozess hat die kreativ expressive, ästhetische Dimension einen etablierten Platz neben der Dynamik der daten- und wissensbasierten globalen Gesellschaft, denn die Kunst stellt eine Brücke dar, welche die innere und äussere Gesundheit und das Wohlergehen des Einzelnen verbindet.“xiv Reichhaltige Geschichten und Biographien von Frauen und Männern sind inhaltlich starke Bilder, nach denen unsere Schülerinnen und Schüler streben mögen. Respektvolle Lehrpersonen geben den Schülerinnen und Schülern, die Möglichkeit zur moralischen Nachahmung. Ohne moralisierend zu wirken, können wir beispielsweise während chemischen Verbrennungsexperimenten in der 7.Klasse über die Gefahren des Zigarettenrauchens sprechen. Oder wir sprechen über Depression und körperliche Auswirkungen des Alkohols im Chemieunterricht der 8. oder 9. Klasse. Tiefgehende Beziehungen und Verantwortungsbewusstsein gelten als Vorbedingungen für sexuelle Intimität. Wenn diese vorhanden sind, wird auch die Fortpflanzung mit Staunen betrachtet.
Unsere Schülerinnen und Schüler brauchen eine direktere Förderung ihrer sozio-emotionalen Fähigkeiten, besonders wenn sie in die Oberstufe übertreten. Auch wenn die Eltern sorgfältig vorgegangen sind und auch wenn die Klassenlehrkräfte starke moralische Grundlagen gelegt haben, so wirken doch die Einflüsse des modernen Lebens, beispielsweise durch Musik, Kino oder arrogante Athleten, so zerstörerisch auf diese Grundlagen, wie eine starke Säure die Metall zerfrisst.
Empathie
Grundsätzlich geht es bei der Bildung von sozio-emotionalen Fähigkeiten um das Erkennen seiner selbst. Die Worte „Erkenne dich selbst“ standen über dem Eingang zum Apollo - Tempel in Delphi. Meta-Kognition (das bewusste Wahrnehmen der eigenen Denkprozesse), Meta-Befindlichkeit (das bewusste Wahrnehmen der eigenen Emotionen) und Selbstwahrnehmung (das bewusste andauernde Wahrnehmen der eigenen inneren Verfassung) wurden in Pythagoras' Mysterienschule gelehrt. In dieser Schule in Crotona, einer Stadt nahe des Golfes von Tarentum in Süditalien, ging es vor allem darum, die Moralität der Gesellschaft zu stärken. Die Mitglieder lebten nach ethischen Grundsätzen, teilten die selben politischen Ansichten, lebten pazifistisch und widmeten sich den mathematischen Phänomenen in der Natur. Diese zeitlosen Konzepte kommen regelmässig zur Menschheit zurück und bilden die Grundlage der modernen Bewusstseinsentwicklung und sozio-emotionaler Bildung.
Auf der zweiten Stufe beschäftigt sich die sozio-emotionale Bildung mit der Pflege der Empathie – aus meiner Sicht ist dies die wichtigste und nötigste Fähigkeit unserer Zeit. Empathie ist „das Potential, die unablässigen Schwingungen zwischen Sympathie und Antipathie anzuhalten“xv„... und diese Tat des Stillhaltens, des Platzschaffens, öffnet ein Tor zur anderen Person und zu den Erlebnissen dieser Person.“xvi So geben wir uns selbst auf und beginnen, die Erlebnisse einer anderen Person an uns selbst zu erleben. Empathie ist eine Voraussetzung um absolutes Mitgefühl zu erleben. Thomas Weihs beschreibt Empathie mit diesen Worten:
Während Liebe oft ungeduldig ist,
ist Empathie geduldig.
Während Liebe oft aggressiv ist,
ist Empathie freundlich.
Während Liebe oft grosszügig ist,
beneidet Empathie niemanden.
Liebe ist oft stolz,
aber Empathie prahlt nie und ist niemals eitel.
Während Liebe oft egoistisch und schnell beleidigt ist,
ist Empathie niemals selbstbezogen oder gekränkt.
Empathie zählt die Fehler der anderen nicht und sie freut sich auch nicht über die Fehler anderer,
sondern erfreut sich an der Wahrheit.
Es gibt nichts, was die Empathie nicht aushalten kann,
ihr Glaube, ihre Hoffnung und ihr langer Atem hören niemals auf.xvii
Schluss
Vor fünfundzwanzig Jahren konnte ein Oberstufenlehrer der Waldorfschule ein Klassenzimmer betreten und einen „gedeckten Tisch“ vorfinden. Meistens waren die Schülerinnen und Schüler relativ aufmerksam, sie hatten recht gute Manieren und sie brachten eine gewisse Lernfreude mit. Wenn die Lehrerin heute eine Klasse betritt, kann es gut sein, dass sie zuerst einmal den Tisch decken und die dringenden emotionalen Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler befriedigen muss, bevor sie die Mahlzeit servieren kann – das heisst, bevor sie unterrichten kann. Oberstufenlehrpersonen müssen die Lernenden heute oft auf eine neue Art vorbereiten, bevor das Lernen stattfinden kann. Damit ist aber nicht gesagt, dass diese nicht lernen wollen. Leo Tolstoy beschreibt beispielsweise die Qualen des leistungsschwachen Schülers Sergei:
„Der Vater und der Lehrer waren beide mit Sergei unzufrieden, und er lernte in der Tat sehr schlecht. Aber man konnte durchaus nicht sagen, dass er ein unfähigerKnabe gewesen wäre. Im Gegenteil, er war weit fähiger als jene Knaben, die der Lehrer ihm als Muster hinstellte. Nach der Ansicht des Vaters wollte er nicht lernen, was man ihn lehrte. In Wirklichkeit aber konnte er es nicht lernen. Er konnte es nicht lernen, weil in seiner Seele Forderungen vorhanden waren, die für ihn mehr Verbindlichkeit hatten als jene, die der Vater und der Erzieher an ihn stellten. Diese beiderseitigen Forderungen standen zueinander in Widerspruch, und so lag er mit seinen Erziehern geradezu im Kampfe.
Er war neun Jahre alt, er war ein Kind; aber sein Herz kannte er, es war ihm teuer, und er hütete es, so wie das Lid das Auge hütet, und ohne den Schlüssel der Liebe ließ er niemand in sein Herz hinein. Seine Erzieher klagten über ihn, dass er nicht lernen wolle, und doch war seine Seele von Wissensdurst erfüllt.”xviii
Die Liebe der Lehrkräfte, eine ästhetische Umgebung und ein tiefer Respekt gegenüber dem in jeder Schülerin und jedem Schüler erwachenden Individuum, sind der Mörtel, welcher der Bildung und Erziehung des modernen Menschen Halt gibt. Liebe ist eine Kraft, die jeder jungen Seele die Stärke verleiht, den Anstrengungen auf dem Weg zur Selbsterkenntnis zu begegnen. Die Übersicht im Anhang zeigt Möglichkeiten auf, wie ein sozio-emotionales Curriculum auf der Waldorf Oberstufe verwirklicht werden könnte. (Den Anhang finden Sie am Ende der Literaturliste.)
David Mitchell hat während mehr als dreissig Jahren an Waldorfschulen in England, Norwegen und den USA unterrichtet. Er war Mitbegründer der Pine Hill Waldorf School in Wilton, New Hampshire und der Shining Mountain Waldorf High School in Boulder, Colorado. Er war ausserdem Gründungsmitglied des Waldorf Seminars an der Antioch New England Graduate School of Education.
1998 wurde David Mitchell mit dem Preis der AMGEN Corporation „Lehrperson des Jahres“ ausgezeichnet. Später arbeitete er als Chefredaktor für die Vereinigung der Waldorf Schulen von Nordamerika (AWSNA) und war Mitglied des AWSNA Vorstandes. Er verstarb im Juni 2012.
Mit freundlicher Genehmigung des Waldorf Research Institute
<link http: www.waldorfresearchinstitute.org>www.waldorfresearchinstitute.org
Aus dem Englischen übersetzt von Karin Smith
Anmerkungen:
iChristopher Clouder, Social and Emotional Education. An International Analysis, Fundacion Marcelino Botin Report, 2008, page 25
Testimony before the US Congress on National Children’s Mental Health Awareness Day by Goldie Hawn, Washington, DC, May 7, 2009. www.casel.org/hawn_testimony_2009.
iii See Rudolf Steiner, Theosophy, London: Rudolf Steiner Press, 1969, pp. 41–44.
iv Beispielsweise Marti Berstrom, Antonio Damasio, Reuven Bar-On, und Linda und Nick Elsknin, um nur ein paar zu nennen. Die Hirnforschung deutet darauf hin, dass Emotion und Kognition tief miteinander verbunden sind. Im besonderen “legen neuste Erkenntnisse aus der kognitiven Hirnforschung nahe, dass die neuralen Mechanismen, welche die Basis der Emotionen bilden, die selben Mechanismen sind, auf der kognitive Prozesse stattfinden” (Bell und Wolfe, 2004, S.366). Emotion und Kognition arbeiten zusammen, sie wirken gemeinsam auf die kindliche Wahrnehmung und beeinflussen das Verhalten. Die meisten Lernvorgänge in den ersten Jahren finden im Kontext der emotionalen Geborgenheit statt.
(National Research Council and Institute of Medicine 2000) “Die reichhaltigen Interpretationen der Emotionen und der Kognition bilden das wichtigste psychische Grundkonzept im Leben jedes Kindes” (Panskepp 2001). Emotion und Kognition tragen gemeinsam zu Aufmerksamkeitsprozessen, Entscheidungsfindung und Lernen bei (Cacioppo and Berntson 1999). Im Weiteren werden kognitive Prozesse, wie beispielsweise einen Entschluss fassen, von Emotionen beeinflusst (Barrett et al., 2007) Emotionen und soziales Verhalten wirken sich auf die Fähigkeit des Kindes aus, eine Aktivität zielgerichtet zu verfolgen, wenn nötig Hilfe zu suchen, sowie Beziehungen einzugehen und davon zu profitieren (California Department of Education, www.cde.ca.gov/sp/cd/re/itf09socemodev.asp).
v António Damàsio, Descartes’ Error.
vi Linda Lantieri, Social and Emotional Education: An International Analysis, Fundaciòn Marcelino Botin Report, 2008, p. 199.
vii Aristotle, On Politics, Book VIII, “Education and the Ideal State.”
viii The Collaborative for Academic, Social, and Emotional Learning (CASEL) works to establish social and emotional learning as an essential part of education from preschool through to high school.
ix Daniel Goleman, Emotional Intelligence, NY: Bantam Books, 1997. Erschienen in deutscher Sprache unter dem Titel Emotionale Intelligenz, dtv, 1997
x Ibid., p. 291.
xi Ibid., p. 268. Deutsche Überetzung von Friedrich Griese, S.336
xii Rawson and Richter. The Educational Tasks and Content of the Steiner/Waldorf Curriculum, 2000
xiii See Survey of Waldorf Graduates, Phase II, David Mitchell and Douglas Gerwin, Wilton, NH: Research Institute, 2007, and Absolventen von Waldorfschulen, Dirk Randoll and Heiner Barz, ed., Wiesbaden, Germany: Verlag für Sozialwissenschaften, 2007.
xiv Trevor Mepham, (conference reporter, European Council for Steiner/Waldorf Education News, no. 15, June 2009.
xv Rudolf Steiner, A Psychology of Body, Soul and Spirit, NY: Steiner Books, 1999. Steiner describes “sympathy and antipathy as the two primary forces in our soul. The force of sympathy lives in our Will; the force of antipathy is released from our nervous system—through our intellectual processes.”
xvi Anke Weihs, “Youth Guidance and Empathy,” Waldorf Journal Project, no. 6, Ghent, NY: AWSNA Publications, pp. 35–36.
xvii Thomas Weihs, “Empathy,” Waldorf Journal Project, no. 6, Ghent, NY: AWSNA Publications, p. 34.
xviii Leo Tolstoy, Anna Karenina, NY: Penguin Books, 2002, p. 526. Übersetzung: www.weblitera.com
Literatur:
Aristotle. The Politics, Book VIII
, “Education and the Ideal State,” translator, Trevor J. Saunders, NY: Penguin, Classic Series, 1981.
Collaborative for Academic, Social, and Emotional Learning (CASEL), Chicago. www.casel.org.
Damàsio, António.
Descartes’ Error, NY: Grosset/Putnam, 1994.European Council for Steiner/Waldorf Education (ECSWE) News, no. 15, Brussels, June 2009.
Goleman, Daniel. Emotional Intelligence, NY: Bantam Books, 1997.
Mitchell, David and Douglas Gerwin. Survey of Waldorf Graduates, Phase II, Wilton, NH: Research Institute for Waldorf Education, 2007.
Randoll, Dirk and Heiner Barz, eds., Absolventen von Waldorfschulen, Wiesbaden, Germany: Verlag für Sozialwissenschaften, 2007.
Social and Emotional Education: An International Analysis, Pedrueca, Spain: Fundación Marcelino Botin Report, 2008.
Steiner, Rudolf. Theosophy, London: Rudolf Steiner Press, 1969
Steiner, Rudolf. A Psychology of Body, Soul and Spirit. Hudson, NY: Steiner Books, 1999
Tolstoy, Leo. Anna Karenina, NY: Penguin Books, 2000
Weihs, Thomas. “Empathy”. Waldorf Journal Project, no. 6. Ghent, NY: AWSNA Publications, 2006.
Weihs, Anke. “Youth Guidance and Empathy”. Waldorf Journal Project, no. 6, Ghent, NY: AWSNA Publications. 2006.