Parzival und Haiyan
Noch nie war ich vor einer Epoche so besorgt und mutlos gewesen, wie als ich im November 2013 zum ersten Mal mit der elften Klasse eine Parzival Epoche unterrichten sollte. Ich fühlte mich unqualifiziert, unvorbereitet und überfordert. Trotzdem begann ich die Epoche mit einem ziemlich guten Plan, den ich so gut wie möglich aus verschiedenen Elementen zusammengestellt hatte. Mit schriftlichen und künstlerischen Übungen, sowie mit passenden Zitaten von Gandhi und Kahlil Gibran bewaffnet, fing ich an. Dann, nach vier Epochentagen, wurde unser Land von Taifun Haiyan getroffen, der uns alle mit seiner unvorstellbaren Zerstörungskraft und Verwüstung schockierte. Da wusste ich, dass ich mindestens die Hälfte meiner Lektionsplanung aus dem Fenster werfen musste.
Schon vor Beginn der Epoche ging ziemlich vieles schief. Es gab Terminprobleme, Bücher verschwanden, Veranstaltungen in der Stadt hielten einen Teil der Klasse davon ab, zur Schule zu kommen und noch viele weitere Probleme tauchten auf. Für den ersten Epochentag hatte ich einen Brief vorbereitet, welcher die Klasse auf geheimnisvolle Weise über Felder und durch ein Wäldchen führen würde. Die Schülerinnen und Schüler würden Pfeilmarkierungen folgen und schliesslich einen neu gebauten Pavillon am Fluss erreichen, wo die Parzival Geschichte beginnen würde. Es war alles perfekt vorbereitet – so meinte ich. An diesem Tag aber regnete es in Strömen, meine Kartonpfeile wurden unleserlich und die halbe Klasse kam dadurch zu spät; müde und schlammbespritzt erreichten sie endlich den Pavillon. Nebenbei gab es in den ersten Tagen noch weitere, unvorhersehbare Probleme. Ein Schüler musste wegen einer Herzerkrankung dem Unterricht fernbleiben und die Grossmutter einer Schülerin verstarb unerwartet.
Als ich dachte, es könne nicht noch schlimmer werden, hörte ich, dass ein Supertaifun auf unser Land zusteuerte und es wurde mir bewusst, dass dies nicht die übliche Art von Taifun war, dass wir uns auf das Schlimmste gefasst machen müssen und so beschloss ich, meine Pläne aufzugeben. An diesem Punkt merkte ich, dass die Ereignisse meiner Kontrolle entglitten, dass ich akzeptieren musste was geschieht und dass ich Schritt für Schritt sehen würde, wie es weitergeht. Am vierten Epochentag, an einem Donnerstagnachmittag, wurde die Schule geschlossen und wir wussten nicht, wann wir zurückkehren würden. Die Lehrerinnen und Lehrer versuchten, das Gebäude, so gut es ging, zu räumen. Mein Ehemann und ich machten unser Haus bereit für die unvermeidliche Flut. Unser Haus war schon zweimal überschwemmt worden jedoch als Folge von viel schwächeren Taifunen. Wir kauften genügend Nahrungsmittel, Wasser und Kerzen. Wir banden unsere Fahrräder, Gartenstühle und die Schubkarre am Geländer fest, dichteten die Fenster mit Plastik ab und luden die Akkus aller elektronischen Geräte auf.
Am frühen Freitagmorgen ging der Strom aus, kurz danach erreichte uns der Taifun. Die Winde waren gewaltig, unser Gartentor wurde weggerissen, das Dach wurde beschädigt und einige Bäume wurden entwurzelt. Ich hatte noch nie zuvor das Geräusch gehört, das entsteht, wenn ein Baum entwurzelt wird. Mit ehrfürchtigem Entsetzen sah ich, wie einer unserer riesigen Bäume direkt vor meinem Fenster zu Boden krachte. Es tönte wie explodierende Feuerwerkskörper, als die Wurzeln aus dem Boden gerissen wurden. Alle paar Minuten hörte ich Bäume zu Boden donnern und hoffte, dass niemand verletzt wurde. Über Nacht begann das Wasser zu steigen und am Samstagmorgen stand es bereits etwa sechzig Zentimeter hoch. Es stieg im Laufe des Tages weiter an, bis es gegen Abend über einen Meter fünfzig erreichte. Weil unser Haus auf Pfählen gebaut ist, blieb es trocken, aber wir sassen fest. Vor unseren Fenstern entstand ein schlammig brauner See, nur die Baumwipfel ragten aus dem Wasser und in der Ferne hörten wir das unglückliche Muhen der Kühe. Zum Glück waren wir unverletzt und wir hatten genügend Nahrungsmittel, Wasser, Kerzen und stapelweise Schülerarbeiten zum Korrigieren.
Am Sonntag stand das Wasser immer noch ziemlich hoch aber es fing an, zurückzugehen. Während diesen Tagen machte ich mir Gedanken darüber, wie ich mit meiner Epoche weiterfahren würde. Zur selben Zeit erhielt ich per sms Informationen über die schreckliche Zerstörung im Norden, wo der Taifun direkt aufgetroffen war und ich überlegte mir, wie ich dort wohl helfen könnte. Ich wusste, dass es noch einige Zeit dauern würde, bis unser Schule geputzt, repariert und für den Unterricht bereit sein würde. Viele Lehrkräfte und Familien waren bestimmt auch betroffen und würden Zeit brauchen, um wieder auf die Beine zu kommen.
Am Montagmorgen war das Wasser komplett verschwunden und stattdessen lagen tonnenweise klebriger, dunkler Schlamm und Müll, der meilenweit vom Wasser mitgetragen wurde, in den Strassen und Gärten. Wir gingen zu Fuss zur Schule und waren froh zu sehen, dass sich unsere Vorbereitungen gelohnt hatten. Viel Schulmaterial war dadurch gerettet worden. Das Wasser war im Kindergarten aber auf zwei Meter fünfzig gestiegen und alle Räume im Erdgeschoss waren voller Schlamm. Es gab sehr viel zu tun. Lehrkräfte, Eltern, Freunde und grössere Schülerinnen und Schüler kamen mit Besen und Schaufeln zu Hilfe. Die Räumungsarbeiten waren anstrengend, unsere Rücken schmerzten aber das gemeinsame Mittagessen war voller Freude und Spässen. Alle Oberstufenklassen packten mit an, putzten die Räume und sammelten Hilfsgüter. Für mich war es eine grosse Freude, zu sehen, wie sie bei solch sinnvoller Arbeit mithalfen, beinahe ohne zu murren. Sie bestanden auch darauf, selbst in die Dörfer gehen zu dürfen um die Hilfsgüter zu verteilen. Das war genau der Tag, für den wir eine St.Martins Feier geplant hatten. Obwohl wir sie natürlich nicht durchführen konnten, erlebten wir trotzdem die Bedeutung dieses Festes. Ich beobachtete, wie meine Elftklässlerinnen und Elftklässler die jüngeren Kinder bei den Arbeiten anleiteten und es wurde mir klar, wie ich die Parzival Epoche weiterführen wollte. Ich war mir sehr sicher, dass ich meine ursprünglichen Pläne stark verändern musste.
Die Schule begann erst am folgenden Donnerstag wieder, eine Woche nach dem Taifun. Der Strom funktionierte wieder und die Schule war einigermassen sauber, nur vereinzelte Reparaturen wurden noch ausgeführt. Nun wurde auch das Ausmass der Schäden im Land sichtbar. Wir hörten fast unerträgliche Berichte über Tod, vermisste Menschen, Hunger, Kriminalität, zerstörte Schulen und Wohnhäuser.
Ich begann den Neustart der Epoche mit Fragen an die Klasse zu ihren Gedanken über den Taifun, den Überschwemmungen und ihren Erlebnissen. Es ergab sich, dass wir bei Parzival an dem Punkt angelangt waren, wo er auf der Burg ankommt und die entscheidende Frage nicht stellt. Die Schülerinnen und Schüler verglichen das Befinden von Anfortas mit den Zuständen bei uns. Sie stellten sich vor, wie Parzival in dieser Lebensphase auf die Zerstörung in den Philippinen reagiert hätte. Ein Schüler meinte: „Wenn Parzival in der selben Weise [wie auf Anfortas Burg] reagieren würde, würde er vielleicht „Selfies“ auf Facebook posten“.
Zwei Tage später half die Klasse bei der Bereitstellung von Hilfsgütern für die Überlebenden. Drei Stunden lang sortierten und verpackten wir Altkleider in der Residenz des Erzbischofs. Es war eine ernüchternde Erfahrung, wir sortierten alte, muffige Kleider und viel Unbrauchbares wie etwa altmodische Unterwäsche, Ballkleider oder Winterbekleidung. Es war keine angenehme Arbeit und doch waren die Schülerinnen und Schüler danach zufrieden. Sie sprachen darüber, wie schwierig die Arbeit war und wie frustrierend es sei, dass manche Menschen das Sammeln von Hilfsgütern dazu verwendeten, ihre schadhaften Kleidungsstücke loszuwerden. Eine Schülerin jedoch meinte: „Es musste getan werden, es ist wichtig, dass die brauchbaren Spenden zu den Überlebenden gelangen.“ Ein anderer Schüler schrieb: „Es war ein guter Tag. Wir haben viel gearbeitet. Wir haben unsere Zeit gut genutzt.“
Mir schien es wichtig, dass die Klasse Gelegenheit erhielt, auf die Ereignisse zu reagieren. Deshalb lernten wir ein Lied und einige Gedichte, um sie an der Totenwache der verstorbenen Grossmutter zu singen und zu rezitieren. Wir sprachen über die Bedeutung der Totenwache, über den Tod, Mitgefühl, Freundschaft und Zusammengehörigkeit in Verbindung mit Sigune, Cunneware, Gawain, Trevrizent und all die anderen. Die betroffene Schülerin erzählte uns eine lustige Erinnerung an ihre Grossmutter, danach gingen wir zusammen zur Totenwache. Wir sangen „Amazing Grace“ und die Klasse fragte, ob wir das Lied „Holy Grail“, das wir in der Epoche gelernt hatten, singen könnten. Zuerst zögerte ich, da ich dachte, es sei für diesen Anlass unangebracht. Meine Klasse aber sagte: „Nein, Ms Anna, es ist nicht unangemessen, es ist in Ordnung.“ Also sangen wir es und alle lächelten. Ich sollte wirklich öfters auf meine Schülerinnen und Schüler hören.
Im weiteren Verlauf der Epoche fanden wir mehr und mehr Parallelen zwischen Parzivals Reise und den Ereignissen an unserer Schule, in unserem Land und natürlich in unseren Leben. Eine Schülerin schrieb über Feirefiz und darüber, wie er so vieles mit den Menschen auf der Burg geteilt hatte. Sie sagte, die heutigen Menschen sollten von Feirefiz lernen und mehr mit den Überlebenden des Taifuns teilen. Wir erzählten einander wunderbare Berichte von Menschen, die für andere da sind und sprachen über die internationale Hilfe, welche die Philippinen nach der Katastrophe erhalten. Eine andere Schülerin bestand darauf, ihr ganzes Epochenheft in der Stimme Parzivals zu schreiben und auf der letzten Seite schrieb sie: „Jede Herausforderung, der Parzival begegnet, verbindet mich mit meiner eigenen Vergangenheit. Manchmal kann ich mich selbst in Parzival sehen.“
Am letzten Epochentag kamen wir schliesslich mit Parzival am Ende seiner Reise an. Die Klasse sass im Kreis und sprach aufrichtig, emotional und tiefsinnig über ihre persönlichen Krisen, Erkenntnisse und ihre neuen Fragen. Während eineinhalb Stunden öffneten wir unsere Herzen füreinander, wir lachten und weinten zusammen. Mehr als eine Woche später fragten mich die Schülerinnen und Schüler, ob ich mit ihnen in den Norden gehen würde, um den Überlebenden des Taifuns in den Küstendörfern Laternen zu bringen. Die Schülerschaft der Mittel- und Oberstufe hatte über dreissig wunderschöne Laternen für die Überlebenden hergestellt. Ursprünglich hatte ich geplant, die Laternen alleine in den Norden zu bringen und an diesem Tag, mit den dortigen Kindern und anderen interessierten Lehrpersonen, Aktivitäten durchzuführen. Nun war aber meine Klasse sehr motiviert, auch mitzukommen. Ich warnte sie vor den schwierigen Umständen und sagte, dass die Reise nicht lustig, sondern ermüdend und unbequem sein würde. Sie antworteten: „Das wissen wir, Ms Anna, aber wir wollen auch etwas beitragen.“
Also unternahmen wir am 22.Dezember 2013 die zweistündige Reise in den Norden, wo wir am Morgen mit den Kindern spielten und bastelten. Es kamen mehr Kinder als erwartet und ich hatte eigentlich geplant, dass meine Schülerinnen und Schüler einfach teilnehmen und ein wenig mithelfen würden. Als wir aber sahen, wie viele Kinder gekommen waren, fragte ich sie, ob sie bereit wären, eine eigene Kindergruppe zu leiten und sie waren sofort einverstanden. Nach zwei Stunden ununterbrochenem Spielen, Lachen und Basteln gab es für alle ein warmes Mittagessen. Am Nachmittag blieben noch etwa 40 Kinder da, obwohl das nicht geplant war, und so bastelten wir mit ihnen noch mehr Laternen. Die Jugendlichen waren am Abend erschöpft und schliefen fast den ganzen Heimweg.
Die Parzival Epoche, die mit so vielen Problemen, Herausforderungen und unerwarteten Ereignissen begonnen hatte, wurde für mich und die Klasse zu einem wahren Abenteuer. Das Unterrichten dieser Epoche half mir, das Ungeplante anzunehmen, geduldig zu sein, fixe Pläne loszulassen, Sinn und Bedeutsamkeit zu finden und ein besserer Mensch zu werden. Das tönt nach viel aber ich frage mich bis heute, ob ich mich so aktiv an den Hilfsaktionen beteiligt hätte, wenn ich die Geschichte von Parzival nicht gekannt hätte; eine Geschichte über Mitgefühl und Zusammengehörigkeit. Seit der Ankunft des Taifuns sehe ich Anfortas vor mir, wie er leidet und wartet. Ich träumte von Parzival, wie er gradlinig seine Aufgabe verfolgt und seine Fehler wiedergutmacht. Nachts lag ich wach und dachte an die jungen Menschen in meiner Klasse, die versuchen, ihren Sinn und Platz in der Welt zu finden. Die Geschichte von Parzival enthält für uns alle, alte und junge, ein Element der Heilung. Die Geschichte lebt; sie ist das Sinnbild der Herausforderungen des modernen Menschen.
Für meine nächste Parzival Epoche muss ich noch so vieles lesen, lernen und verbessern, aber ich werde nie vergessen, wie die Jugendlichen Parzival inmitten der Zerstörung durch Taifun Haiyan lebendig werden liessen.
Aus dem Englischen von Karin Smith
Über die Autorin:
Anna Slater ist Klassenlehrerin der „Pionierklasse“ der Gamot Cogon Schule, Iloilo, auf den Philippinen. Sie unterrichtet Englisch, Literatur und Schauspiel.