Erstmals legte Rudolf Steiner sein Konzept einer Entwicklung des Menschen in Siebenjahresrhythmen, das sich auf die theosophisch-anthroposophische Darstellung der schrittweisen Inkarnation des Menschen in seine differenzierten Wesensglieder bzw. auf das schon vor der Antike ausgestaltete heptachronologische Konzept (1) bezieht, in seiner 1907 erschienenen Schrift „Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft“ (2) systematisch dar. Dort wird idealtypisch erläutert, wie sich der Mensch mit der Geburt zunächst vom Mutterleib emanzipiert, um dann um das siebte Lebensjahr auf der Grundlage der bis dahin vorwiegend auf den Aufbau des Leibes gerichteten Bildekräfte das vorstellendes Denken aufzubauen. Steiner bezeichnet diese mit der Emanzipation des Lebens- bzw. Ätherkräfte verbundenen Entwicklungsvorgang als Geburt des Ätherleibes. Mit 14 Jahren, nachdem sich der Ätherleib mit der Geschlechtsreife endgültig individualisierte und sich das Seelische in den physischen Organismus inkarnierte, emanzipiert sich nun das Eigenseelische. Diese als Geburt des Seelen- bzw. Astralleibes bezeichnete Transformation ist Voraussetzung dafür, dass sich der seelischen Organismus an das Denken anschließt und somit zur Grundlage für die eigenständige Urteilsbildung sowie Ich-Reifung wird. Wenn sich in der Adoleszenz schließlich bis zum 21. Lebensjahr die Souveränität und Selbstreflexion aufgebaut werden, um sich der eigenen leiblich-seelischen Prozesse und Handlungen bewusst zu werden und ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, spricht Steiner von der Geburt des Ich). Mit dem Bild der vierfachen Geburt impliziert Steiner nicht nur den idealtypischen Entwicklungsprozess der stufenweisen Ausgestaltung der individuellen Leibesgrundlage auf den Ebenen der Physis, des Lebens, der Psyche bis zur Disposition der Ich-Bewusstheit, sondern auch einen fortschreitenden Emanzipationsprozess dieser vier Wesensebenen voneinander, der dann als Grundlage der eigenen Bewusstwerdung und Selbststeuerung zu verstehen ist.
Steiner differenziert den idealtypischen Reifeprozess weiter aus, indem er in seinen pädagogischen Vorträgen jedes Jahrsiebt wiederum in jeweils drei Phasen untergliedert. Dominieren nach der physischen Geburt zunächst die weitgehend im Unbewussten stattfindenden Prozesse der Ausgestaltung des Organismus und in der „Nachahmung“ die Ausdifferenzierung der Koordination von Bewegung und gezielter Wahrnehmung, weshalb das Lernen weitgehend im unreflektierten Willensvollzug stattfindet, werden Ereignisse mit Eintreten der Erinnerungsfähigkeit im 3. Lebensjahr zu Erlebnissen, die dann im 5. Lebensjahr mehr und mehr gedankliche Bearbeitung erfahren.
Auch im 2. Jahrsiebt, in dem das Lernen grundsätzlich im emotionalen Bezug zum Lerngegenstand wie zur lehrenden Person stattfindet, lässt sich in Steiners Pädagogik ein solcher Dreischritt erfassen. Das unbefangene Lernen, welches sich schwerpunktmäßig im (freudigen) Mitmachen bzw. Nachahmen vollzieht, erfährt im 10. Lebensjahr seine Veränderung, weil sich jetzt im Kind die Subjekt – Objekt – Beziehung klarer herausbildet, d.h. das Kind sich der Welt jetzt bewusster gegenüberstellt und innere Erlebnisse von äußerer Wahrnehmung differenziert. Auch Piaget markierte diesen Prozess in der selben Entwicklungsphase als Übergang vom präoperationalen zum konkret-operationalen Denken. Indem das Kind nun die umgebende Welt bewusster erlebt, erwacht seine Entdeckerfreude, aber auch das Bedürfnis die Vielfalt des Wahrgenommenen lernend in Zusammenhänge zu integrieren und die Aneignungsprozesse kreativ zu gestalten. Mit dem 12. Lebensjahr konzediert Steiner eine Abnahme der kindlichen Phantasie und das Bedürfnis, die Welt jetzt denkend in ihren kausalen Zusammenhängen zu erfassen. Damit verlagert sich der Lernprozess, indem Erlebtes und Entdecktes jetzt gedanklich durchdrungen und bearbeitet wird. Piaget markiert diese Veränderung als Übergang von konkret-operationalem zum formal-operationalem Denken.
Für das Jugendalter (3. Jahrsiebt) fokussiert Steiner die Fähigkeit zur eigenständigen Urteilsbildung als Hauptaspekt der Entwicklung. Auch auf dieser lassen sich mit Knotenpunkten im 16 und 18 Lebensjahr wieder Phasen feststellen, in denen die Selbstverortung im Leben stattfindet und die individuelle Urteilsbildung zunehmend reflexiven Charakter bekommt, so dass sie sich nicht mehr aus subjektiver und idealistischer Naivität, sondern aus wacher Weltbegegnung, aus ideellen Gesichtspunkten und aus individueller Verantwortungsbereitschaft speist.
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Wenn sich Lernprozesse im Jugendalter (und analog auch in den ersten beiden Jahrsiebten) idealtypisch von der Leibbindung zur bewussten Erkenntnis verlagern, findet einerseits eine Emanzipationsbewegung gegenüber der affektiven Leibbindung statt, andererseits inkarniert damit gleichzeitig das Selbst als Persönlichkeit, so dass auf der Basis des die Volljährigkeit markierenden eigenständigen Denkens auch das im eigentlichen Sinne selbständige Handeln einsetzt. Insofern könnte man der dreimaligen Tendenz vom Wollen über das Fühlen zum Denken (cgl. Graphik) im Sinne der Inkarnation des Ich immer auch eine gegenläufige Bewegung hin zur zunehmenden Handlungsfähigkeit beifügen. Darin würde sich die Verleiblichung unseres Eigenwesens ausdrücken, aus der Schulreife, Eintritt in das Jugendalter und Volljährigkeit abgeleitet werden.
Oft wird auch innerhalb der Waldorfschulbewegung übersehen, dass Steiner diesem „platonischen“, d.h. idealtypischen Evolutionskonzept, mit welchem er nie die in Erscheinung tretende Wirklichkeit zu beschreiben suchte, ein zweites Konzept beigesellte, dem er zuschrieb, jede Entwicklung zu einer individuellen werden zu lassen. So stellt Steiner in einem Vortrag in Berlin 1913 dar (3), wie diese idealtypischen (kosmischen) hebdomadischen Zyklen der leibgetragenen Entwicklung durch das Auftreten des Eigenbewusstseins, welches den Menschen eben nicht erst mit 21 Jahren, sondern ab dem 2./3. Lebensjahr sich selbst als „Ich“ bezeichnen lässt, durchkreuzt und individualisiert werden. In seiner Evolutionsdarstellung markiert Steiner die mit dem erwachenden Selbstbewusstsein verbundenen Vorgänge als „luziferisch“ bedingten Vorgriff, durch welchen sich die menschliche Reifung eben nicht einfach biologisch, sondern unter erheblichen mentalen und kulturellen Einflüssen vollzieht. Das individuelle Bewusstsein bildet sich biographisch nicht chronologisch regelmäßig, sondern prinzipiell gemäß der ihm innewohnenden Intentionalität aus.
Mit dem ersten, oben erläuterten Entwicklungskonzept charakterisiert Steiner die Entwicklung der leiblichen Grundlage vor dem Hintergrund der Evolution, also allgemeinmenschlich. Das zweite Konzept zielt auf die Darstellung der Inkarnation des Individuellen des Menschen ab, das von Steiner als pränatal existent sowie mehrere Verkörperungen durchlaufend betrachtet wird, und dem er seelisch-geistigen Charakter zuschreibt. Dieses Selbst sieht er dem erzieherischen Zugriff entzogen. Es tritt früh mit dem dritten Lebensjahr als sprachlich gefasstes Ich-Bewusstsein auf und individualisiert in seinem Inkarnationsprozess die oben skizzierte leiblich-seelische Entwicklung (die außerdem durch die Zivilisations- und Umgebungseinflüsse in ihrer abstrakt zu erschließenden Systematik spezifiziert wird). Steiner sieht es als Ziel der Erziehung, die Bedingungen für die leibliche Entwicklung so zu gestalten, dass sie dem Individuellen die Möglichkeit verschafft, sich innerhalb und durch diese leibliche Grundlage zu realisieren bzw. zu verkörpern. Erziehung als Unterstützung der Individuation findet also nach Steiner statt, indem Lernen und Individuation dialogisch zwischen der allgemeinmenschlichen Evolutionsgrundlage und der individuellen Entität des Selbst entfaltet wird. (4)
Entgegen der naiven Rezeption, welche in diesem hebdomadischen Entwicklungskonzept entweder die zeitliche und qualitative Vorgabe für „richtige“ Entwicklung oder gar die Deskription der tatsächlichen Entwicklungs- und Reifevorgänge des Menschen sieht, intendierte Steiner meines Erachtens mit seiner idealtypischen, also schematischen Darstellung einerseits ein heuristisches Instrumentarium zur Beschreibung bzw. Diagnose individueller Entwicklung (was eben nicht meint, dass eine diesem Konzept entsprechend richtige Entwicklung stattzufinden habe) und andererseits die Grundprinzipien einer Pädagogik, die alle lerngestützten Prozesse im Dialog zwischen den physischen, psychischen und mentalen Möglichkeiten und dem sich bemerkbar machenden Selbst des Heranwachsenden realisiert. Wenn Steiner den Reifephasen jeweils charakteristische zuordnet, auf die die Pädagogik einzugehen habe, dann korreliert sein Konzept mit dem Begriff der Entwicklungsaufgabe, wie er in der heutigen Entwicklungspsychologie verwendet wird. D.h. solche Aufgaben oder latenten Fragen sind sowohl aus den anthropologischen und psychosozialen Voraussetzungen motiviert (Reife) als auch Erziehungsziele, die darin bestehen, solche Voraussetzungen eintreten zu lassen. Mit anderen Worten: Eine an Reifestufen orientierte Erziehung hat fördernden, aber auch fordernden Charakter, der je nach Reifesituation und erzieherischem Vorlauf mit Voraussetzungen operieren kann oder diese erst schaffen muss. Sie ist nach Steiner wirksam, weil sie auf Prinzipien zielt, die den durchaus völlig unterschiedlichen Entwicklungsvorgängen in jeder Biographie trotzdem zugrundeliegen.
Erzieht man entsprechend diesem Konzept, dann kultiviert man die biographische Entwicklung eher in seinem Sinne als dass man sich an tatsächlichen biologischen Phasen orientiert. Diese traten übrigens schon zu Steiners Zeit je nach der individuellen Situation einerseits phasenverschoben, andererseits auch innerhalb der Ebenen (physische, seelische, mentale Entwicklung) divergierend auf, d.h. die Entwicklung fand schon damals auf diesen Ebenen nicht synchron statt. Richtet man also Thematik und Methodik des Unterrichts in den verschiedenen Jahrgangsstufen Steiners Entwicklungskonzept entsprechend ein, dann implementiert man diese Entwicklung. Will man dabei, wie in der Waldorfpädagogik gefordert, den Erziehungsprozess in den Dienst der Individuation stellen, darf das pädagogische Vorgehen nicht schematisch an diesen Phasen orientiert, sondern muss die konkrete Situation einer Schulklasse bzw. des einzelnen Heranwachsenden vor dem Hintergrund dieser Begrifflichkeit analysiert und gedeutet werden. Erst wenn man diese Begrifflichkeit in diesem Sinne heuristisch einsetzt und jede besondere Situation und jedes Individuum ihre differenzierte Würdigung erhalten, lässt sich ein didaktisch und methodisch angemessenes Vorgehen aus dem Konzept ableiten. Und erst dann bezieht sich Pädagogik konkret auf die Heranwachsenden.
Denn der naheliegende Einwand, das entwicklungspsychologische Erziehungskonzept in der Waldorfpädagogik würde die individuelle Reifung in ein allgemeines Konzept pressen, ist berechtigt, sobald es nicht im obigen Sinne in einen dialogischen Prozess mit der Wirklichkeit des Individuationsprozesses gesetzt wird. Umgekehrt kommt aber nach Steiner das Individuelle im Menschen gegenüber der Leibesgrundlage besser zum Tragen, wenn dessen allgemeinen Entwicklungsprozesse erzieherisch berücksichtigt werden, denn dann kann Individuation im Sinne von der Verankerung des Ich in seiner Leibesgrundlage nachhaltig werden. In diesem Zusammenhang markiert Steiner zwei Hindernisse für die Entfaltung individueller Wirksamkeit: Entweder bleibt das Selbst wirkungslos, d.h. Vorsätze und Entschlüsse werden nicht willensrelevant, weil keine Verbindung zwischen der Intention des Selbst mit seinen Leibesbedingungen gestiftet bzw. unterstützt wird, oder der Leib dominiert, weil sich das Selbst der Naturgrundlage des Menschen nicht bewusst gegenüberstellen kann. Erst wenn man diese doppelte Bedrohung individueller Freiheit in Betracht zieht, wird Steiners erzieherische Intention deutlich. Indem das Individuelle des Menschen zum universell, also denkerisch erfassten Prinzip der Evolution in Beziehung gesetzt wird, sollen für Individuation nachhaltige Grundlagen geschaffen werden.
Ein Begriff wie „Rubikon-Situation“, so die waldorfinterne Bezeichnung für die idealtypisch im 10. Lebensjahr zu verortenden Ausgestaltung der im Individuum bewusster erlebten Subjekt-Objekt-Beziehung gewinnt seine Bedeutung demnach nicht als Legitimationsargument für ein festes Lehrplankonzept, sondern als ein differenziertes Analyseinstrument, mit dem sich ein Aspekt von Reife beschreiben lässt, um dann daraus abzuleiten, ob nun Lernen eher auf ein Vermögen aufbauen kann und/oder darauf abzielt, einen Reifeschritt vorzubereiten bzw. abzuverlangen. Setzt eine Lehrkraft also Lernformen ein, die z.B. in der Tier- oder Pflanzenkunde eine Differenzierung der Welterscheinungen ermöglichen, dann wirkt der Unterricht sowohl entwicklungsgerecht, wenn die leiblich-seelischen Voraussetzung dafür schon durch Entwicklung und Erziehung geschaffen worden sind, als auch, wenn ein Kind durch den Unterricht im Sinne einer Anforderung zu einem veränderten Welterleben und Lernen veranlasst wird. Die Abwägung des in einer Klasse sowohl kollektivierten als ggf. auch binnendifferenzierten Vorgehens kann im Lehrer erst stattfinden, wenn er das idealtypische Konzept jeweils am konkreten Leben reflektiert. Hierin – und nicht in der Postulierung einer Entwicklung in Jahrsiebten, die sich in der Realität so nicht finden lässt - sind Lehrautonomie, Lehrkompetenz und Lehrverantwortung begründet.
Michael Zech, Dr., Professor für Kulturwissenschaften und ihre Didaktik an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Bonn/ Alfter. Seit 1992 national und international Dozent für Waldorfpädagogik, Geschichte und Literatur. Ab 2006 leitend am Lehrerseminar für Waldorfpädagogik in Kassel. Forschungen und Veröffentlichungen unter anderem in den Bereichen Waldorfpädagogik und Fachdidaktik, insbesondere Geschichtsdidaktik.
Literatur
(1) Die antike Hebdomadenlehre war sowohl in der jüdischen als auch griechischen Kultur verbreitet. Vgl.: Wilhelm Heinrich Roscher: Die Hebdomadenlehren der griechischen Philosophen und Ärzte. Südwestdeutscher Verlag für Hochschulschriften. ISBN 978-3-86932-168-4, Paperback, 252 Seiten.
(2) Rudolf Steiner: Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft. Einzelausgabe. Dornach (Schweiz) 1992. Entnommen Rudolf Steiner GA 34.
(3) Rudolf Steiner: Das Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt im Verhältnis zu den kosmischen Tatsachen. GA 141 (Vortrag Berlin, 14.Januar 1913), S.116-118.
(4) Vgl. dazu: Rudolf Steiner: Erfahrungen des Übersinnlichen. Die drei Wege der Seele zu Christus. GA 143 (Vortrag Stockholm, 16. April 1912), S.119