„Die Waldorfschul-Pädagogik ist überhaupt kein pädagogisches System,“ heißt es bei Steiner 1922 nach drei Jahren Schulpraxis im pädagogischen Jugendkurs, „sondern eine Kunst, um dasjenige, was da ist im Menschen, aufzuwecken.“ (1) Haben wir in der Schulbewegung nach 100 Jahren der Entwicklung die Fähigkeit der Selbstkritik so ausgebildet, dass wir die Grenze zwischen jenem Aufwecken des individuell Menschlichen im Unterricht und dem Anwenden von mehr allgemeinen Lernprogrammen beschreiben können?
Pädagogische Weichenstellungen in der Mittelstufe
Besonders an den „Nahtstellen“ unserer ganzheitlichen Schulgestalt zeigt sich das Spannungsfeld zwischen Einflüssen äußerer Normierungen und inneren, an den jungen Menschen selbst entwickelten Maßstäben. In der Initiativgruppe der Internationalen Konferenz zur Pädagogik der Mittelstufe beschreiben Kolleginnen und Kollegen unterschiedlicher Länder die Herausforderungen dieser Umbruchzeit mit folgenden Worten:
- Es ist eine Entwicklungsphase „zwischen den Kräften“: verletzlich, empfindlich, immer „auf der Suche“.
- Ist der pädagogische Hintergrund dieser Entwicklungszeit unklar, fühlen sich Kolleginnen und Kollegen angesichts der starken Verwandlungen „verunsichert“.
- Unsicherheit, Erwartungen und Forderungen können sich zum Druckerleben umkehren: Druck von Schülern, Eltern, Kollegen.
- Die Reaktionen sind verschieden: Manche Lehrer „hämmern“ jetzt nächste Inhalte, um die Form zu wahren. Andere greifen zurück auf früher Bewährtes.
- Wird die Urteilskraft zu stark eingefordert, können die Schüler zu früh „zu alt“ werden. Wird das Kindlich-Spielerische zu lange fortgesetzt, bleiben die Schüler zu lange „zu jung“.
Schon diese wenigen Beschreibungen zeigen die Dramatik dieser Altersstufe. Die starke Verwandlung der Schülerentwicklung fordert zu grundlegenden Verwandlungen des Unterrichts heraus. Gewohntes trägt immer weniger und jeder neue methodische Schritt bedeutet eine Weichenstellung: Entscheidende Kraft zwischen dem zu früh/zu spät, zu fest/zu leicht und dem zu normiert/zu spielerisch kann nur der innere Freiheitsraum der unterrichtenden Lehrerpersönlichkeit selbst sein. So wird gerade in dieser Zeit des Umbruchs der Zusammenhang zwischen der Qualität des Menschenbildes, das der Lehrer in sich trägt, und den angewandten Unterrichtsschritten existentiell erlebbar: Zugänge durch die anthroposophische Menschenkunde zum Verstehen der Schüler in diesem Alter werden zu Orientierungs- und Entscheidungsgrundlagen für die Unterrichtsmethodik.
In diesem Sinne wird im Folgenden aus zwei unterschiedlichen Perspektiven auf die Geburt des Astralleibes in der Mittelstufenzeit geblickt, um daraus Fragen an die Methodik zu entwickeln.
Was tut der Astralleib, bevor er geboren wird?
In einer 7./8. Klasse können wir miterleben, wie unterschiedlich und individuell das bedeutende Ereignis stattfindet, das wir „Geburt des Astralleibes“ nennen. Es ist zum Beispiel möglich, dass ein Mädchen, das zu den älteren Kindern ihrer Klasse gehört und eine bestimmte Reife erreicht hat, sich innerhalb einer Unterrichtssituation wie in einem mächtigen Ruck verwandelt: Ihr Arbeitsrhythmus, der - auch zum Wohl der ganzen Klasse - das Lernen über Jahre trug, zerbricht eines morgens scheinbar plötzlich. Unter Tränen versucht sie der Freundin zu erklären, dass sie es so wie früher nicht mehr malen kann und nicht mehr malen will. Kein Wort der Mitschüler, der Lehrerin oder später der Eltern kann diesen inneren Auf-Bruch mildern. Von diesem Augenblick an steht sie der Welt und auch sich selbst anders gegenüber: Was sie vorher stets freudig und staunend aufnahm, wird von nun an ernster und tiefer befragt. - Andere Kinder, auch viele Jungen, machen diesen beginnenden Auf-Bruch in längerer, oft stillerer Weise durch. Im Unterricht ist das an den fragender werdenden Blicken, an dem Verlust des Kindlich-Leichten in der Bewegung und nach und nach auch an der Art des Fragens und Schreibens zu bemerken.
Diese Andeutungen zeigen, wie stark sich die Schülerpersönlichkeiten mit dem Geborenwerden des Astralleibes verwandeln. Was macht der Astralleib vorseiner „Geburt“?
Während die ätherischen Bildekräfte sich im Zahnwechsel zu Lern- und Gedächtniskräften umwandeln, ist der astralische Leib in den Schuljahren bis zur Geschlechtsreife auf andere Weise höchst aktiv: In allem rhythmischen Erleben, in allem Hören, Musizieren, Singen und Sprechen ist das Kind durch und durch von der differenzierenden Regsamkeit und Beweglichkeit des Astralleibes getragen. Der Astralleib ist der Musiker in den Kindern. Beginnt dieser nun in der geschilderten Weise frei zu werden, so wird mit ihm das Innerlich-Seelische sozusagen in die Außenwelt „hinausgeworfen“. So schreibt Steiner: „Der Mensch wird mit der Geschlechtsreife aus dem geistig-seelischen Leben der Welt herausgeworfen und hineingeworfen in die äußerliche Welt …“ (3)
Was in den ersten Schuljahren mit kindlicher Freude und Hingabe an Musikalischem und Rhythmischem aufgenommen wurde, muss jetzt ganz aus eigener Kraft und Überwindung neu errungen werden. Kein Wunder, dass die Schülerinnen und Schüler dieses Alters in einer stetigen Spannung leben zwischen dem Hinausgeworfensein in die Welt und dem Orientierung suchenden inneren Gefühlsleben.
Von großer Bedeutung wird nun die wachsende Denk- und Urteilskraft, die in diesem Spannungsfeld Orientierung und Halt geben kann. In der Unterrichtsmethode führt das zur Herausforderung, einerseits bei dem Welt- und Selbsterleben der Schüler anzuknüpfen und andererseits von diesem eigenen Erleben her gedankliche Zusammenhänge zu erschließen. Im Sinne des Aufbaus von „Schluss-Urteil-Begriff“ aus dem 9. Vortrag der „Allgemeinen Menschenkunde“ (1) führen z.B. die Versuche der Physik und Chemie vom beobachtenden Miterleben der Phänomene – der freigewordene Astralleib ist ein wacher, regsamer Beobachter – über das Beschreiben des Erlebten zum Erkennen von Gesetzmäßigkeiten.
Ätherherz und Astralleib als Mittelpunktsorgan
Eine ganz andere Perspektive für diese Zeit der Mittelstufe ergibt sich im Blick auf die Verbindung von ätherischen und astralischen Kräften im menschlichen Herzen. Im Band „Menschliches Seelenleben und Geistesstreben“ (4) beschreibt Steiner die ätherische und astralische Entwicklung des Schulkindes vor allem als eine Verwandlung der ureigenen Herzenskräfte. Zunächst wird dort die stufenweise Individualisierung der ätherischen Kräfte beschrieben:
- Auf dem Weg zur Geburt zieht der ungeborene Mensch Kräfte des Kosmisch-Ätherischen an sich. Diese Kräfte helfen, den Leib nach der Konzeption zu bilden.
- Im ersten Jahrsiebt umgeben diese ätherischen „Sternenkräfte“ das in der Nachahmung aufwachsende Kind.
- Vom Zahnwechsel an wandern diese Sternenkräfte des Umkreises mit allem individuellen Lernen, Erleben und Tätigsein strahlenförmig ins Innere des Kindes hinein.
- Mit der Geschlechtsreife ballen sich diese ätherischen Kräfte im Herzen zusammen.
- Gelingt die Ausbildung dieses nun eigenen „Ätherherzens“, so löst sich das erste, das vererbte oder „stellvertretende“ Herz der Kindheit auf.
Die pädagogische Bedeutung der individuellen Ausbildung dieses Herzorgans kann so beschrieben werden, dass es eine Art neues Organ des jungen Menschen wird für die Zugehörigkeit des eigenen Wesens zum umgebenden Weltganzen. Wie dieser Bezug zur Welt im 2. Morgenspruch aufklingt, „Ich schaue in die Welt, in der die Sonne leuchtet, ...“, so wird das über Jahre aufgebaute individuelle Ätherherz ein Wahrnehmungsorgan für diese Verbundenheit.
Im direkten Zusammenhang mit diesem ätherischen Bildungsprozess steht die Entwicklung des Astralleibes: Dieser urständet nicht im Weltenäther, sondern trägt alles in sich, was der werdende Mensch an Fähigkeiten, Qualitäten und Zielen ins Leben hinein mit sich bringt. In dieser Weise ist dieser astralische Leib am Lebensbeginn noch ganz erfüllt und reich von individuell Mitgebrachtem. Im Laufe der Kindheits-, Wachstums- und Schuljahre zieht dieser Reichtum von Veranlagungen dann im das täglichen Leben, Lernen und Arbeiten hinunter in das Wachstum des Leibes, in Gelerntes und Gekonntes. Mit dem pädagogischen Blick stehen wir dann manchmal vor einer Schülerpersönlichkeit und staunen, was diese ins Leben mitbringt. Oder wir fragen, welche weiteren Anlagen noch ausgebildet werden wollen?
Auf diesem Weg der Verleiblichung der „alten“, mitgebrachten Veranlagungen geschieht zugleich etwas ganz Neues: Jede ausgeführte Bewegung, jedes Handeln des jungen Menschen wird von Kindheit an in diesen Astralleib eingeschrieben. So wird der Astralleib ein Sammelorgan für die vollbrachten Willenstaten, das sich immer stärker im Inneren konzentriert. In der Zeit der Mittelstufe und der Geschlechtsreife verdichtet sich dieses Organ gerade im Bereich des Herzens und fällt schließlich mit jenem Ätherherzen zusammen. Dieses Zusammenfallen beschreibt Steiner mit folgenden Worten: „So dass wir – und wiederum in der Zeit der Geschlechtsreife, da ist das sehr deutlich ausgebildet – an derselben Stelle, wo sich dieses Ätherherz, das nun unser eigenes ist, gebildet hat, auch ein astralisches Gebilde haben, das unser gesamtes Tun zentralisiert. Und das Wichtige ist, dass in der Zeit, wo die Geschlechtsreife eintritt, … dieses Ätherherz soweit vorgebildet ist, dass es die Kräfte aufnehmen kann, die sich hier aus der Tätigkeit in der äußeren Welt entwickeln.“ (5)
Diese besondere Konstellation von der Weltverbundenheit des Herzens, der Handlungsorientierung in diesem astralischen Zentralorgan des Willens und der beginnenden Urteilsbildung im Denken öffnet ein besonderes Schicksalstor in der Biographie. An den Schülern einer 8. Klasse ist das eindrucksvoll zu erleben in ihren tiefen Fragestellungen, in der Verwandlung der Interessensgebiete und in der Art Ideale zu bewegen.
Perspektiven für die Methodik der Mittelstufe
Verbinden wir die beschriebene Konstellation jenes Mittelpunktorgans mit der eingangs geschilderten Geburt des Astralleibes, zeigt sich die Art der Weltoffenheit und Weltverbundenheit der Schüler in dieser Entwicklungsphase:
- Mit dem freiwerdenden Astralleib findet sich der junge Mensch in seinem Erleben existentiell in den Wogen des äußeren Weltgeschehens wieder. Einen neuen ersten Halt gibt ihm sein wachsendes Denk- und Urteilsvermögen.
- In der ganz individuellen, aus der eigenen Biographie heraus entwickelten Lebenskraft seines Herzens kann er der Welt in tiefer Innerlichkeit begegnen.
- Durch jenes astralische Mittelpunktsorgan steht er über jede eigene Handlung und eigene Tat in tiefer Verbindung zur Welt und zugleich zu seinem innersten Erleben.
Suchen wir in der Waldorfpädagogik die Leitlinien von Unterricht und Erziehung im Erleben der jeweiligen Kindesentwicklung, so führen die beschriebenen Merkmale zu Fragen an die Methodik: Wie können wir im Unterricht der Mittelstufe dem tiefen Bedürfnis nach Welt-Erfahrung, Welt-Begegnung und Weltverständnis stärker entgegenkommen? Wie können wir die Kraft des Interesses und der Willenstat für die Welt noch stärker in den Schritten des Lernens anregen? Ein wesentlicher Schlüssel zu diesen Zielen wird in der Art und Weise liegen, welche innere Haltung und Suchbewegung sich im Lehrer aus dem Blick auf die beschriebene Entwicklung bildet. Das Schulleben zeigt ja oft, dass in eine solche innere Fragehaltung hinein aus dem Unterrichtsgeschehen selbst Hinweise kommen, die zu nächsten Schritten ermutigen. So folgen jetzt kurze Beispiele, die solche methodischen Aufbruchsmomente berühren:
In der Geographie einer 7. Klasse werden Arbeitsgruppen zur Herstellung einer Weltkarte gebildet. In einer Gruppe schildert ein Schüler die Situation heute aussterbender Tierarten in solcher Betroffenheit und Kenntnis, dass die Gruppe darum bittet, dieses Thema weiter zu verfolgen und später in die Erstellung der Gesamtkarte einzubringen.
Während der „Geometrie des Raumes“ in einer 8. Klasse ist ein Schüler beeindruckt von der „Vollkommenheit“ des Pentagondodekaeder. Daraus fasst er das Ziel, diesen Körper in einer Werkstatt aus Aluminiumstäben für das Klassenzimmer zu bauen. Das Wechselspiel zwischen den Berechnungen, den Zeichnungen und den statischen Problemen bei der Herstellung und (später sicheren) Aufhängung des Objektes führt zu neuen, unerwarteten Lernerfahrungen.
Jener Schüler begann seitdem, wo immer möglich, eigene Ansätze und eigene Fragestellungen in den Epochen zu entwickeln. Als in Absprache mit den Eltern der Klasse in einer späteren Epoche zur Chemie der Lebensmittel mehr und mehr eigene Versuche in Küchen und Kellern gemacht wurden, richtete jener Schüler sein Interesse auf eine nahegelegene Zuckerrübenfabrik. Er begann eine forschungsartige Geschäftigkeit, die nach einigen Besuchen in der Fabrik mit einer Darstellung des ganzen Herstellungsprozesses vor der Klasse endete. Sowohl inhaltlich als in der Art der interessierten Arbeitshaltung machte seine Arbeit tiefen, nachhaltigen Eindruck auf die ganze Gemeinschaft.
Es versteht sich von selbst, dass die hier genannten Unterrichtssituationen sich nicht rezeptartig anwenden lassen. Sie können zunächst nur auf Richtungen einer stärkeren Welt- und Tat-Orientierung in der Methodik der Mittelstufe deuten: Wo sich die Willenskräfte im Einklang mit dem inneren Erleben ganz auf die Welt richteten, konnten sich neue Tiefen des inneren und äußeren Lernens bilden.
Claus-Peter Röh, geboren am 15.12.1955. Nach dem Studium der Pädagogik war er von 1983 an als Klassen-, Musik- und Religionslehrer an der Freien Waldorfschule in Flensburg tätig. Neben der Unterrichtstätigkeit arbeitete er als Gastdozent an der Pädagogischen Hochschule in Flensburg und gab Kurse an verschiedenen Lehrerseminaren in Deutschland. Seit 1998 ist er Mitglied im Initativkreis der Pädagogischen Sektion in Deutschland. Im September 2010 wechselte er zur Pädagogischen Sektion am Goetheanum in Dornach/CH über. Ab Januar 2011 in Kooperation mit Florian Osswald Übernahme der Sektionsleitung. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Literatur
(1) R. Steiner, Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik, GA 293.
(2) R. Steiner, Pädagogischer Jugendkurs, GA 217, 4. Oktober 1922, S. 30.
(3) R. Steiner, Die gesunde Entwicklung des Menschenwesens, GA 303, S. 238.
(4) R. Steiner, Menschliches Seelenleben und Geistesstreben, GA 212.
(5) Ebd., S. 122