In der Schule, der Lernstätte par excellence, ist es wichtig sich die Frage zu stellen, wie die Beurteilung und Auswertung der Lernprozesse aussehen soll, wenn die Lernvorgänge individuell sind und nicht nur auf einen messbaren kognitiven Bereich reduziert werden müssen. Wir wissen, dass die Schulsysteme, meistens staatlich, auf Produktivität und wirtschaftliche Erfolge angewiesen sind und standardisierte Messsysteme entwickelt haben, um die Beurteilung der Leistungen „objektiv“ festzustellen. Die Vergleichbarkeit mit anderen Messsystemen wird angestrebt; deshalb erscheint im Globalisierungszeitalter zunehmend ein formalisiertes Analysewesen und internationales Evaluationssystem (i). Hier und dort ist allerdings durch die Einführung von Portfolio und Jahresarbeiten einiges in Richtung individualisierter Beurteilung in Bewegung gekommen.
Die Schnittstelle der Waldorfschule
Die Waldorfschule war von der ersten Stunde an mit dieser Problematik der Leistungsbeurteilung konfrontiert, ganz speziell in Bezug auf die Schülerinnen und Schüler, welche die Schule verlassen, um weiterführende Einrichtungen zu besuchen. Vor dem definitiven Schulaustritt ist die kontinuierliche ganzheitliche Evaluation der SchülerInnen effizient genug (Zeugnisse, Zwischenzeugnisse, Elternabende, Quartalsfeste, Einzelgespräche, usw). Es wird selbstverständlich erwartet, dass die Absolventinnen und Absolventen der Schule Leistung/Wissensstand/Kompetenz belegen können, um weiter studieren zu dürfen. Eine wichtige Schnittstelle ist dabei das Ende der Schulzeit nach der 12. Klasse. Anpassungen an die verschiedenen nationalen Bildungssysteme sind unerlässlich, wenn die Waldorfschülerinnen und -schüler nicht diskriminiert und nachhaltig benachteiligt werden sollen. Es ist auch sinnvoll, den Zugang zu weiterführenden Institutionen zugunsten der Lernenden zu regeln, solange fällige Reformen der Universitäten in Europa noch keine neuen Möglichkeiten geschaffen haben (ii) oder aber ein anerkannter Waldorfabschluss die Gleichwertigkeit regelt. Abgesehen hiervon bleibt die Frage der Beurteilung der realen und individuellen Leistungen offen und diese Frage beschäftigt nicht nur die Jugendlichen und ihre Lehrer sondern auch die europäische Gesellschaft am Anfang des 21. Jahrhunderts (iii). Nicht nur dass man lernt ist wichtig, sondern ebenso wie nachhaltig gelernt wird.
Wie geschieht Lernen?
Wie jemand lernt hängt auch oder teilweise von der Unterrichtsqualität ab; eine der goldenen Regeln der Pädagogik ist nach Rudolf Steiner der tägliche Rückblick auf das, was im Unterricht geschehen ist. Der Blick der Lehrkraft wird geschärft durch die Grundübung, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen, so entsteht ein Sinn für Qualität und ihre Optimierung. Die Lehrkraft erfasst hierdurch wirklich, wie ihre Schülerinnen und -schüler den Stoff aufgenommen, verstanden und verarbeitet haben. Sie beginnt selber einen Lernprozess in der Auswertung der Leistungen und bekommt in der Praxis ein konkretes Gefühl für die Zuverlässigkeit des Lernenden und was sie ihm zutrauen kann. Dieses Ergebnis des Rückblickes ist entscheidend für die fortwährende Beurteilung. In der Erziehungswissenschaft wird der Rückblick lediglich als eine Form des 'Bilanzziehens' beschrieben. Um die Unterrichtsqualität objektiv zu reflektieren sind eine Reihe von Kriterien sorgfältig erarbeitet worden: Lernklima, Wirksamkeit des Geschehens, Bedeutsamkeit der pädagogischen Gestaltung. Hierbei lässt sich ablesen was notwendig ist, um dem Lernwillen der Schülerinnen und Schüler zu begegnen. Empirische Untersuchungen zeigen wie grundverschieden Menschen in verschiedenen Altersstufen lernen. Des Weiteren lernen alle auf ganz unterschiedliche Weise, der eine lernt Schritt für Schritt, logisch aufbauend auf schon behandeltes – alle Zwischenschritte sind entscheidend – die andere lernt intuitiv, überblickt das Thema und durchschaut gleichzeitig den Sinn. Diese gegensätzlichen Lernprozesse begegnen den Lehrkräften täglich; es gibt sogar einzelne Schülerinnen oder -schüler, die diese abwechslungsweise vollziehen.
Wie beurteilen wir die Ergebnisse? Die messbaren Fakten und/oder dazu die „soft facts“ des Schülers: persönliches Engagement, wie er zu den Ergebnissen gekommen ist und wie er die Fakten im Zusammenhang eingeordnet hat, sein Interesse für diese Fakten, die Nachhaltigkeit des Gelernten? Formal, nur die Fakten zu beurteilen ist rationaler; dabei werden exklusiv Kenntnisse geprüft (vergangenheitsorientierte Beurteilung). Steiner hebt den Unterschied zwischen Kenntnissen und Erkenntnissen hervor und weist darauf hin, dass die Heranwachsenden Erkenntnisse brauchen wenn sie vom Leben lernen sollen. „Das Leben selber aber ist die grosse Schule des Lebens, und nur dann kommt man richtig aus der Schule heraus, wenn man sich aus ihr die Fähigkeit mitbringt, sein ganzes Leben vom Leben zu lernen“(iv).
Wie lehrt der Lehrer?
Empirische Untersuchungen analysieren die möglichen Unterrichtsformen und werten ihre Effizienz aus; Lerntechniken sind Instrumente einer Wissenschaftlichkeit, die messbare Resultate hervorbringen und klassifizieren können und wollen (v). Anregend sind diese didaktischen Mittel, solange sie nicht in einer Systematik und Routine münden. Die Schülerin ist immer in einer einmaligen Lernsituation und benötigt die volle didaktische Verfügbarkeit und Offenheit der Lehrkraft; die Einmaligkeit ihres werdenden Lernwillens verlangt es, um wachsen zu können, wahrgenommen zu werden. Diese menschenkundliche Gesetzmässigkeit gehört zu den neuen sozialen Bedürfnissen der Gegenwart. Schwankungen des Lernens sind alters- und charakterbedingt und oft spielen hierbei Imponderabilien eine Rolle. Nicht nur eine individualisierte Didaktik ist notwendig, sondern das Erfassen des „hier und jetzt“ des Lernvorganges kann Wunder bewirken. Um diesen Tatbestand besser zu charakterisieren, möchte ich einen Vergleich mit der modernen Ästhetik machen. Warum ist heute die Beurteilung eines Kunstwerkes so anspruchsvoll und schwierig geworden? In der Kunstphilosophie der 30er Jahre sind die systematischen, grossen ästhetischen Beurteilungssysteme (Plato, Kant, Hegel, Schiller, Lukacs, Heidegger) von Walter Benjamin radikal in Frage gestellt worden. Er stellt fest, dass die zahlreichen Reproduktionen des Kunstwerkes das Original modifizieren, das Verhältnis zum Werk wird durch die Reproduzierbarkeit tangiert (vi). Die Kategorie der Echtheit eines Kunstwerkes des in den Zusammenhang der Tradition eingebetteten Originals wird durch die technische Reproduktion zerstört. Benjamin sucht eine neue Verbindlichkeit zwischen Werk und Betrachter. Er will die Einmaligkeit des Gegenstandes neu erfassen und die Auseinandersetzung wird essentiell. Die Kritik am Kunstwerk dient weniger dessen Beurteilung als vielmehr dessen Vollendung.
Diese Auffassung der Kunst ist eine wahre Hilfe um die „Beurteilung“ einer Leistung der Schülerin, des Schülers wahrzunehmen und auszuwerten: durch diese klaren Bewusstseinsakte trägt die Lehrperson dazu bei, die Lernenden zu fördern und ihren Lernwillen zu stärken (die Vollendung des Kunstwerkes nach W. Benjamin). Die Lehrkraft lehrt wirklich, insofern sie den Lernwillen der Schülerinnen und Schüler wahrnimmt und durch die Evaluation stützt. Die Leistung des Beurteilers ist nun eine objektiv/subjektiv Spiegelung einer Beziehung und eine Herausforderung für den Schüler.
Eine neue mögliche Auswertung- und Beurteilungsform.
Wenn man das Angedeutete auf sich wirken lässt, wird möglicherweise etwas klar: in der Schule wie im Leben gibt es das „Was“, das „Wie“ und das „Wer“. Das „Was“ besteht aus messbaren Fakten, das „Wie“ beinhaltet eine Beziehung zwischen Lernendem und Lehrendem und das „Wer“ deutet auf etwas Einmaliges hin, nicht unmittelbar Fassbares aber Zukunftsorientiertes, eine Art Botschaft aus der Zukunft.
Um diese Dimensionen der Beurteilung und Prüfung in der Praxis fruchtbar zu machen, habe ich versucht, eine neue Perspektive des Ermessens einer Leistung im Klassenzimmer einzuführen. An Hand eines konkreten Beispiels möchte ich zeigen wie die Auswertung der Arbeit einer Architekturepoche in einer 12. Klasse aussieht und wie die individuelle Beurteilung der Leistungen und die Fachkompetenz der Schülerinnen und Schüler betrachtet wird. Das Thema der Epoche ist eigentlich sekundär; die Methodik dieser Auswertung ist sicherlich auf alle anderen Fächer übertragbar. Dieser folgenden Berichterstattung liegen mehrere Epochen zugrunde.
Wenn 18-jährige - die gerade im Begriffe sind sich durch Jahresarbeiten selber darzustellen - einem Fachgebiet begegnen, ist es unerlässlich von vornherein Vereinbarungen zu treffen. Was ist das Ziel der Epoche? Wie erreichen wir das Ziel? Warum ist es wichtig? Wie stellen wir fest, dass die Vereinbarung zwischen Unterrichtenden und Lernenden hält und verbindlich bleibt? Denn in der 12. Klasse sind die Schülerinnen und Schüler längst mitverantwortlich für die Gestaltung und den Schwerpunkt einer Epoche im Rahmen ihrer begrenzten Fachkompetenz.
Nun, um am Ende der Epoche eine wirkliche Auskunft über die individuelle Leistung zu dokumentieren, wurde die Vorgehensweise mit der Klasse abgestimmt.
Die Lernenden gestalten selbständig die schriftliche und dokumentarische Erarbeitung des Stoffes; festgelegt wird jedoch der Abgabetermin. Jede/r muss vor der Klasse ein Referat von 15-minütiger Länge mit 10-minütiger Nachbesprechung zu zwei Bauwerken der modernen Architektur halten und Bilder der Werke fachlich (Baustatik, Stil) mit beliebigen Hilfsmitteln wie Dias oder Beamer kommentieren, auch eine biografische Skizze des/r Architekten/Architektin gehört dazu. Die Zuhörenden und die Lehrkraft dürfen anschliessend Fragen stellen. Nach der Diskussion wird evaluiert.
Zunächst wertet die Schülerin die eigene Leistung (fachlich-inhaltlich, kommunikativ) aus; dann spiegelt die Klasse das Referat wider und stellt die Stärken und Schwächen fest. In einem dritten Schritt schildert der Lehrer seine Beurteilung. Selbstevaluation und Fremdevaluation sind Aspekte der Wirklichkeit: durch die Schülerin selbst, die Klasse und den Lehrer. Es fallen immer wieder eindrückliche Aussagen wie z.B.: „Es ist mir gelungen, etwas zu vermitteln, aber wenn ich den Bau X gründlicher angeschaut hätte, hätte ich diese Frage klarer beantworten können“, oder:“ Ich merke, dass ich langsamer sprechen muss, um etwas klarer darstellen zu können“ oder: „Ein nächstes Mal werde ich anders vorgehen“. Eine Fülle von zukunftsträchtigen Ansätzen der Selbsterkenntnis treten in Erscheinung. Was geschieht, wenn die Klasse mit der Lehrerin die Arbeit kommentiert? Es entsteht durch die gemeinsame, gesteigerte Aufmerksamkeit ein klares Gefühl für die Leistung des Betroffenen. Die Äusserungen sind meistens rücksichtsvoll aber schonungslos. Die Klasse lernt so zu sprechen und kritisieren, dass die Aussage annehmbar und fruchtbar wird. Zum Schluss beurteilt die Lehrerin aus ihren Erfahrungen und ihrem Bild des Schülers die Arbeit und versucht, die Sachkompetenz deutlich zu erfassen. Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit werden in der Auswertung erfasst.
Was resultiert hieraus? Drei Aussagen, die gleichwertig und verbindlich sind. Nicht die Lehrkraft(von gestern) beurteilt allein, die Leistung des Einzelnen wird in seinem sozialen Kontext von allen Beteiligten bewusst erfasst. Seit Jahren zeigt sich, dass diese Art zu prüfen mehr Wert, Differenzierung und Wahrheitsgehalt enthält als die traditionelle, reduzierende Standardbeurteilung. Das Prüfen und Auswerten wird im Sozialen implementiert; es lässt sich aus dieser Beurteilungsform ein Kulturklima entwickeln vom dem der Bericht der UNESCO 1996 sprach: Lernfähigkeit: unser verborgener Reichtum (vii). Ich, Welt und Mitmenschen begegnen sich real ohne Umwege und Standard und sind deshalb näher zusammen gekommen: dies schafft Wirklichkeit.
Robert Thomas, geboren 1949 in Le Havre (Frankreich); humanistisches Gymnasium; Studium der Sozialwissenschaft in Paris. Französischlehrer in Alexandria (Ägypten); Pädagogische Ausbildung am Goetheanum in Dornach bei G. Hartmann und J. Smit; ab 1976 Fremdsprachlehrer, Klassenbetreuer, Religions- und Kunstgeschichtslehrer an der Rudolf Steiner Schule Plattenstrasse, dann ab 2003 an der Atelierschule Zürich. Verheiratet und Vater zwei erwachsener Kinder. Mitbegründer (1984) und Dozent der Formation pédagogique anthroposophique de Suisse Romande; Mitglied der Internationalen Konferenz der waldorfpädagogischen Bewegung seit 1992; seit 1996 Leiter der Koordinationsstelle der Rudolf Steiner Schulen in der Schweiz. Redaktor der gesamtschweizerischen Zeitschrift der Rudolf Steiner Schulen SCHULKREIS.
i Pisa 2000. Basiskompetenz von SchülerInnen im internationalen Vergleich, OECD Pisa, 2001
ii Daniel Goeudevert: Der Horizont hat Flügel, die Zukunft der Bildung. Econ.2001
iii Edgar Morin: Relier les connaissances, le défi du 21ème siècle,Seuil 1999
iv Rudolf Steiner, Vortrag vom 19.6.1919. GA 330, Neugestaltung des sozialen Organismus, Dornach
v Jürgen Wiechmann(HRG): Zwölf Unterrichtsmethoden. Beltz. 2002
vi Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935-39)
vii Ausstellungskatalog anlässlich der 44. Sitzung der Internationalen Konferenz für Erziehung der UNESCO in Genf, 1994, Freunde der Erziehungskunst, Wein- meisterstr. 16, 10178 Berlin