Phänomenologie als Ansatz für den Epochenunterricht
Seit der Gründung der ersten Waldorfschule 1919 bilden phänomenologische Unterrichtsansätze ein wesentliches Anliegen des Physikunterrichts an Waldorfschulen. Sie weisen zahlreiche Bezüge zu einem exemplarischen Vorgehen auf, wie es beispielsweise Klafki und Wagenschein vertreten haben. (1)
Im Epochenunterricht der Waldorfschulen kommen phänomenologische Unterrichtsansätze nicht nur im Physikunterricht, sondern vielmehr in einer ganzen Reihe von naturwissenschaftlichen und kulturkundlichen Fächern zum Tragen. Sie stellen fächerübergreifend eine spezifische Variante exemplarischen Vorgehens mit einer eigenen dreiteiligen Phasengliederung dar. Näheres kann einem Übersichtartikel zur Rolle der Allgemeinen Didaktik in der Waldorfpädagogik im Handbuch Waldorfpädagogik und Erziehungswissenschaft entnommen werden, der in der Gegenüberstellung des Physik- und Geschichtsunterrichts fächerübergreifende Gemeinsamkeiten aufzeigt. (2) Der Artikel bildet für Leser, die sich insbesondere für die anthropologische Dimension des Epochenunterrichtes interessieren, eine Handreichung.
Der Begriff „phänomenologisch“ unterstreicht, dass im Unterricht solche Erscheinungen und Erscheinungszusammenhänge selbst lehrreich werden sollen, die das Potenzial haben, ein Allgemeines im Besonderen freizulegen. Es handelt sich um einen programmatischen Gebrauch des Wortes, der den spezifischen Ansatz des Epochenunterrichts sprachlich fasst.
Phänomenologie als Ansatz der physikalischen Erkenntnisgewinnung
In der naturwissenschaftlichen Fachdidaktik hat ein phänomenologisches Vorgehen eine lange Tradition. Seine Wurzeln und Ausrichtung sind insbesondere in dem Überblicksartikel Doing phenomenology in science education: a research review von Østergaard, Dahlin und Hugo (3) zusammengefasst. Die Autoren thematisieren u. a. die Kluft, welche Schüler und Schülerinnen zwischen der unmittelbaren, sinnlichen, verkörperten Wahrnehmung einer Naturerscheinung und den Konzepten, mit denen die Erscheinung erklärt bzw. wissenschaftlich gefasst wird, erleben können. Sie diskutieren, inwiefern ein phänomenologisches Vorgehen (doing phenomenology) - in einem geordneten Verfahren der Erkenntnisbildung - diese Kluft überbrücken kann.
Nach Fuchs (4) ist die Kluft dem naturwissenschaftlichen Programm der Neuzeit inhärent, wenn in einem reduktionistischen Vorgehen die „ursprünglich lebensweltlichen Erfahrungen“ in eine „physikalisch-quantitative“ und „subjektiv-qualitative Komponente“ zerlegt werden und sich in der wissenschaftlichen Praxis dann die Konstrukte einer quantitativen Erklärung als die „eigentliche“ Wirklichkeit etablieren, welche die lebensweltliche Erfahrung verursache. Die Wahrnehmung der sonnerhellten Welt wird dann zu „nichts anderem als“ der Emission von Lichtstrahlen, ihrer Reflexion an Gegenständen und ihrem Auftreffen im Auge, Wärme zur Bewegung von Atomen, der feste Aggregatzustand zu einer anderen atomaren Ordnung als der gasförmige.
An die Stelle des Eindrucks, mit der Natur verbunden und in sie eingebettet zu sein, kann so ein Gefühl der Entfremdung treten, kommt doch jegliche lebensweltliche oder qualitative Erfahrung rein subjektiv zur „eigentlichen“, quantitativen Wirklichkeit hinzu.
Weizsäcker (5) bezeichnete eine Position, die davon ausgeht, dass hinter den Erscheinungen eine Welt „an sich“ existiere, deren Objekte die Potenz haben, die Erscheinungen selbst hervorzubringen – beispielsweise Lichtstrahlen, welche die Potenz haben, Hellsein zu generieren – als metaphysischen Realismus. Seiner Meinung nach ist „der metaphysische Realismus keine wissenschaftliche These, sondern eine Weltanschauungsform“. „Der metaphysische Realismus, der behauptet, hinter den Sinnesempfindungen stehe eine wirkliche Welt“, sei „weder beweisbar noch widerlegbar“, da er das einzige Beweismittel, welches er besitze, „die Erfahrung, nicht als Beweismittel gelten“ lasse“. (5)
Auch wenn Modellierungen im Physikunterricht wohl nur selten als Anwendungen der philosophischen Position des metaphysischen Realismus bewusst angelegt sind, so zeigen die zugespitzten Formulierungen Weizsäckers doch, dass eine epistemische Überzeugung, welche bei der Modellierung in Richtung des metaphysischen Realismus tendiert, eine Kluft zwischen Erscheinungen und deren Konzeptualisierung erzeugen muss, insbesondere durch die Rolle, welche sie der Erfahrung zuweist.
Ein Beispiel: Blicken wir in den Spiegel, so zeigt sich uns eine räumlich geordnete Spiegelwelt, deren Objekt wir senkrecht gegenüber zu den Objekten vor dem Spiegel sehen. (6) Ergibt sich diese Lagebeziehung für die Objekte der Spiegelwelt „nur, weil“ die Lichtstrahlen am Spiegel mit Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel reflektiert werden, so schwingt in der Ausdrucksweise u. U. eine epistemische Überzeugung mit: Die Lichtstrahlen sind „das Eigentliche“, welches emotional vielleicht sogar als „ein Reales“ bewertet wird. Die denknotwendige Folge der Reflexion stimmt mit der naturnotwendigen Folge, welche sich als wohlgeordnete Ansicht einer Spiegelwelt ergibt, überein. „Also muss“ Licht aus Lichtstrahlen bestehen, die wie bezeichnet reflektiert werden.
Man kann diese Konzeptbildung auch vor der Hintergrund konstruktivistischer Positionen als lediglich viables Vorgehen ansehen, welchem keinerlei ontologische Dimension zukomme. In der Schulpraxis zeigt sich aber des Öfteren, dass Schülerinnen und Schüler die Modellierung nicht nur sprachlich ontologisch unterlegen, sondern beispielsweise Atome „auf derselben Realitätsebene wie Autos und Bücher“ ansiedeln und es ihnen schwerfällt, den hypothetischen Charakter der Modellierung zu erkennen. (7)
Ein phänomenologisches Vorgehen setzt die physikalische Erkenntnisgewinnung anders an. Seine Methode wird in hohem Maße durch die Phänomene selbst im Kontext ihres Erscheinens bestimmt. In einem ersten Schritt gilt es, die Erscheinungen möglichst exakt und vielfältig innerhalb des Umfeldes zu konstatieren, in dem sie auftreten. In der Terminologie Wagenscheins (8) gesprochen dürfen zu Beginn die Dinge ausreden, sich in ihrem Sosein aussprechen. Das Maß der Dinge sind die Erscheinungen selbst. Im Beziehungsgefüge der auftretenden Erscheinungen sucht man den Zusammenhang auf.
In einem zweiten Schritt werden bedingende Faktoren genau erforscht, die entscheidenden Variablen durch Versuchsreihen gesondert und die Erscheinungen nach Maßgabe des erforschten Bedingungsgefüges geordnet. Das den Erscheinungen bzw. Erscheinungsreihen immanente Bedingungsgefüge tritt hervor, es kann als Bedingungsurteil formuliert oder durch Ordnungselemente beschrieben werden, welche sich im Kreis der Phänomene zeigen, die insofern also auch den Phänomenen selbst eingeschrieben sind. Der zweite Schritt ist ein kognitiver Vorgang, in welchem die Verknüpfungen im Rekurs auf die Erfahrung bzw. die auftretenden Erscheinungen vonstattengehen.
Eine durch Ordnung von Erscheinungsreihen angesetzte physikalische Erkenntnisbildung vermeidet eine Hypothesenbildung, die den Rekurs auf beobachtete Erscheinungen verlässt und beispielsweise von physikalischen Objekten hinter den Erscheinungen ausgeht. Sie tritt an die Erscheinungen fragend heran und stellt nur insofern Hypothesen auf, als es gilt, Bedingungen für Erscheinungen in der Durchmusterung des Konkreten aufzufinden. Ihr Kausalitätsbegriff ist als Bedingungsurteil gefasst, wohingegen sie kausale Strukturen, wie sie in der Formulierung anschaulicher Modelle üblich sind, vermeidet. Damit entlässt sie das Experiment aus seiner Beweisrolle im Rahmen der Modellkonzeption und sucht im Angetroffenen ein Bedingungsnetz auf.
Die Formulierung Feynmans „Aber der wirkliche Triumph der Wissenschaft besteht darin, dass wir einen solchen Gedankenweg finden können, dass das Gesetz einleuchtend erscheint“ (9) wird dahingehend interpretiert, dass die physikalische Erkenntnisbildung durch Ordnung von Erscheinungsreihen darin bestehe, eine solche Ordnung im Kreis der Phänomene selbst zu finden, dass das einzelne Phänomen einleuchtend erscheine.
Dem Vorgehen ist eine anders angesetzte Naturnähe inhärent. Es gilt, den wachen Gebrauch der Sinne zu üben, die Freude an der Vielfalt der Erscheinungen zu entdecken, die Phänomene zu beschreiben und erst aus der Fülle des Wahrgenommenen zur urteilenden Bearbeitung des Erscheinungskomplexes fortzuschreiten. Es wird versucht, die Physik als eine Wissenschaft von der Natur und nicht nur vom Labor zu aufzufassen (10), den Stellenwert des Beschreibens in den Vordergrund zu stellen (11) und die wissenschaftliche Sichtweise aus dem täglichen Erleben heraus zu entwickeln (12).
Das hier vorgestellte phänomenologische Vorgehen bezeichnen Østergaard, Dahlin und Hugo (3) in ihrem Übersichtsartikel als „phenomenology in science education“ und grenzen es gegen „phenomenology of science education“ und „phenomenology and science education integrated“ ab.
Prof. Dr. Wilfried Sommer, geb. 1967, hat ein Physikstudium in Stuttgart und eine Promotion in Didaktik der Physik mit dem Thema „Zur phänomenologischen Beschreibung der Beugung im Konzept optischer Wege“ an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main absolviert. Seine beruflichen Tätigkeiten kreuzen sich an der Schnittstelle von Schule und Hochschule: er ist Oberstufenlehrer für Mathematik und Physik an der Freien Waldorfschule Kassel, leitender Dozent am Lehrerseminar für Waldorfpädagogik Kassel und Professor für Schulpädagogik mit dem Schwerpunkt phänomenologische Unterrichtsmethoden an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter. Er ist außerdem langjähriges Vorstandsmitglied an der Pädagogischen Forschungsstelle.
Literatur
(1) Jank, Werner/Meyer, Hilbert: Didaktische Modelle. Berlin, Cornelsen, 2009.
(2) Sommer, Wilfried: Zur Rolle der Allgemeinen Didaktik in der Waldorfpädagogik. In: Schieren, Jost (Hrsg.): Handbuch Waldorfpädagogik und Erziehungswissenschaft. Standortbestimmung und Entwicklungsperspektiven. Weinheim, Beltz, 2016.
(3) Østergaard, Edvin/Dahlin, Bo/Hugo, Aksel: Doing phenomenology in science education: a research review. In: Studies in Science Education, 44/2, S. 93-121, 2008.
(4) Fuchs, Thomas: Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption. Stuttgart, Kohlhammer, 2008.
(5) Weizsäcker, Carl Friedrich von: Zum Weltbild der Physik. 14. Auflage. Stuttgart, Hirzel, 2002.
(6) Mackensen, Manfred von: Klang, Helligkeit und Wärme. Phänomenologischer Physikunterricht in den Klassen 6 bis 8 an Waldorfschulen. Kassel, Pädagogische Forschungsstelle, 2005.
Maier, Georg: Optik der Bilder. 3. Auflage. Dürnau, Verlag der Kooperative Dürnau, 1993.
Schön, Lutz: Ein Blick in den Spiegel – Von der Wahrnehmung zur Physik. In: Physik in der Schule 32, H. 1, S. 2-5, 1994.
(7) Mikelskis-Seifert, Silke: Die Entwicklung von Metakonzepten zur Teilchenvorstellung bei Schülern. Untersuchung eines Unterrichts über Modelle mithilfe eines Systems multipler Repräsentationsebenen. Berlin, Logos, 2002.
(8) Wagenschein, Martin: Die pädagogische Dimension der Physik. Braunschweig, Westermann, 1962.
(9) Feynman, Richard/Leighton, Robert/Sands, Matthew: Vorlesungen über Physik. Band I, Teil 2. München, Oldenbourg, 1973.
(10) Siemsen, Fritz: Piaget und die Wellen. In: Pädagogisches Handeln, H. 3, S. 247-250, 2002.
(11) Erb, Roger: Optik mit Lichtwegen. Bochum und Magdeburg, Westarp-Wissenschaften, 1994.
(12) Schön, Lutz: Ein Blick in den Spiegel – Von der Wahrnehmung zur Physik. In: Physik in der Schule 32, H. 1, S. 2-5, 1994.
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