Kinder mit Überempfindlichkeit und Störungen des Nerven-Sinnes-Systems
Diese Gruppe können wir erkennen und verstehen, wenn wir auf den Kopfpol des Kindes unsere Aufmerksamkeit richten, der sich bereits in der Embryonalzeit und frühen Kindheit weitgehend ausformt: Das Nerven-Sinnes-System einschließlich der leibesbezogenen Sinne, des vegetativen Nervensystems des Bauchraums, das das große Nervensystem des Verdauungstraktes einschließt (enterisches Nervensystem, ENS), zeigt bei diesen Kindern erworbene oder anlagebedingte Störungen seiner Entwicklung. Charakteristisch sind daraus resultierende Perzeptionsstörungen, etwa Störungen des Tastsinns, viszerale Hypersensitivität mit entsprechenden Missempfindungen, Störungen der Darmfunktion und oft kolikartigen Schmerzen, Propriozeptions- und Gleichgewichtsregulationsstörungen, aber auch Störungen im Sprachverständnis, des Gehörs und anderen höheren Sinnesleistungen (1) und bis hin zu schweren Seh- und Hörstörungen. Eine Sinnesüberempfindlichkeit ist häufig anzutreffen, etwa im Mundraum und Verdauungstrakt, gegenüber Nahrungsmitteln und Gerüchen, Geräuschen, Menschengruppen. Diese Kinder imponieren oft als „seelisch wunde“ Kinder, die durch äußere Reize und Anlässe sehr leicht außer sich geraten und in Ruhe und Umhüllung gebessert werden. Es überwiegt ein graziler Körperbau.
Funktionell lassen sich oft umschriebene „Teilleistungsstörungen“ (Lese-Rechtschreibstörungen, Dyskalkulie u. a.) und Entwicklungsverzögerungen diagnostizieren, die Konzentrationsspanne ist kurz, die motorische, auch grafomotorische Geschicklichkeit oft eingeschränkt und insgesamt dominiert ein langsames Arbeitstempo. Die Intelligenz kann, muss aber nicht eingeschränkt sein. Lernfortschritte gestalten sich oft langsam und sind stark von einer optimierten, reizarmen, geduldig geführten Lernsituation mit ausreichender Gelegenheit zur Wiederholung abhängig.
Das Problem des Kindes hat hier in der Regel in bereits vergangenen Ereignissen oder angeborenen Störungen seinen Ursprung:
- (Extreme) Frühgeburt und extrem niedriges Geburtsgewicht gehen mit einem ca. zwei- bis fünffach erhöhten Risiko von Aufmerksamkeits- und Aktivitätsstörungen einher (2). Das Risiko einer Dyskalkulie ist insbesondere bei Frühgeborenen <28. SSW um ein Vielfaches erhöht. Frühgeborene gelten heute als die größte Risikogruppe für Teilleistungsstörungen.
- Früh traumatisierte Kinder, insbesondere, wenn das Trauma das Nerven-Sinnes-System direkt geschädigt hat.
- Unterernährung schädigt im frühen Kindesalter neben dem Immunsystem vor allem das Sinnes-Nerven-System und stellt weltweit betrachtet eine wesentliche Ursache lebenslang persistierender Schädigungen der Entwicklung des Nerven-Sinnes-Systems von Kindern dar.
- Konstitutionell sinnesüberempfindliche Kinder mit dünner Haut, niedrigem Geburtsgewicht, die „schnell aus der Haut fahren“
- Kinder mit vegetativer Überempfindlichkeit, gehäufter Übelkeit, Bauchschmerzen und schwacher Vitalität
- Kinder mit umschriebenen Sinnesdefiziten, z. B. hörgeschädigte Kinder
- Kinder mit genetisch bedingten Störungen der Entwicklung des Sinnes-Nerven-Systems und daraus folgenden Aufmerksamkeits- und Aktivitätsstörungen
Entsprechend der Genese ihrer Probleme liegen bei diesen Kindern primär Störungen in der Ausformung des physischen Leibes vor. Der Ätherleib ist in seinem Verinnerlichungsprozess des ersten Jahrsiebts gestört. Viele dieser Kinder sind im ersten Jahrsiebt häufig krank und erholen sich nur langsam. Zu Beginn der Schulzeit stehen oft noch wenig Lebenskräfte für die Verwandlung in Denk- und Konzentrationskräfte zur Verfügung, was u. a. in der kurzen Konzentrationsspanne zum Ausdruck kommt.
Die Kinder dieser Gruppe verbessern sich therapeutisch oft durch
- Berührung, rhythmische Einreibungen, Öleinreibungen und Öldispersionsbäder. Die Schulung der basalen Sinne (Tastsinn, Bewegungs- und Gleichgewichtssinn und Wahrnehmung der viszeralen Lebensprozesse) ist von zentraler Bedeutung. Frühförderung, Krankengymnastik auf neurophysiologischer Grundlage, Ergotherapie, Heileurythmie seien hier stellvertretend für viele weitere mögliche Therapiemethoden genannt. Die Musiktherapie kann eine tief greifend beruhigend Wirksamkeit entfalten, eine Therapie in Rhythmik-Gruppen und später Chorsingen die soziale Integrations- und Konzentrationsfähigkeit in der Gruppe wesentlich stärken.
- Eine osteopathische/craniosacrale Behandlung kann bei vielen dieser Kinder zu einer Entspannung insbesondere des vegetativen Nervensystems, einem verbesserten Ess- und Schlafverhalten beitragen. Hier kommt der Region des craniozervikalen Übergangs besondere Bedeutung zu.
- Eine lange Stillzeit, bei fehlender Muttermilch evtl. eine Stärkung mit Stutenmilch ist sowohl für die immunologische wie neurologische Entwicklung und seelische Stabilisierung wichtig. Bereits angesprochen wurde die hohe Bedeutung der Ernährung für das Nerven-Sinnes-System. (3) Das gilt auch für die Beachtung physischer Defizite, z. B. Eisen- (4) und Vitamin B12-Mangel, die mit einer Verstärkung von ADHS-Problemen einhergehen können. Zur medikamentösen Behandlung vergleiche mit der Literatur „Individuelle Pädiatrie“ (3).
Fasst man dies alles zusammen, wird deutlich erlebbar, dass hier die Vergangenheit die Gegenwart dominiert, dass es für das Kind wie seine Eltern darum geht, die Folgen einer „erworbenen“ (erlittenen) oder genetisch angeborenen Störung zu akzeptieren und geduldig zu überwinden. Geduld ist in diesem Prozess die vielleicht wichtigste Haltung. Das betrifft auch Themen wie das richtige Alter für den Eintritt in Kindergarten und Schule. Dort besteht sozial ein nicht unerhebliches Risiko des „mobbings“ seitens gleichalter Kinder, das wiederum retraumatisierend wirkt und Lernen erschwert. Das Erlernen von Lesen, Schreiben und insbesondere des Rechnens vollzieht sich oft langsam und mühsam. Gleichzeitig besteht oft ein hohes Maß an Ablenkbarkeit und sind die geistigen Kräfte rasch erschöpft. Hilfreich sind
- Kleine Gruppen und Klassengrößen mit geschulten Pädagogen (5)
- Elektronische Medien sind möglichst lange und konsequent zu meiden
- Spätes Einschulungsalter
Kinder, die in gestörten sozialen Beziehungen aufwachsen
Bei dieser Gruppe von Kindern steht oft die Störung der Beziehungen in der Familie/im Umfeld des Kindes im Vordergrund. Die Bindung an die Mutter ist oft unsicher-ambivalent, zum Vater gestört oder aufgrund mangelnder Präsenz ungenügend entwickelt. Die Beziehung zu Geschwistern kann durch Rivalität oder enge Altersabstände gestört oder verschattet sein, das Kind erlebt „zu wenig Sonne“ in der Familie. Wiederholte kindliche Stresserlebnisse bei mangelnder Verfügbarkeit oder schwerwiegendem Konflikt zwischen den Eltern/Bezugspersonen des Kindes werden elterlicherseits oft nicht zureichend realisiert und entsprechend dem Arzt auch nicht berichtet, aber z. B. in Zeichnungen des Kindes sichtbar. Vielfach sind diese Kinder traurig-depressiv, doch gerade bei Jungen kann sich dies in aggressiv-verletzendem und oppositionellem Verhalten, bei Mädchen in der Pubertät auch in selbstverletzendem Verhalten äußern.
Die Eltern sind oft stark mit sich selbst beschäftigt. In dieser Gruppe ist der abwesende Vater ein häufiges Thema, aber auch mütterliche Depression, Armut, Überforderung mit Vernachlässigung kindlicher Bedürfnisse nach Rhythmus, Orientierung, Sicherheit. Das Kind ist hier vielfach auch ein Index-Patient (6). In der Erfahrung des Verfassers und vieler anderer Kollegen stellen diese Kinder in der Praxis heute die am häufigsten anzutreffende Gruppe dar, was der Diagnose ADS-ADHS eine gewisse Fragwürdigkeit gibt, vor allem, wenn sie vorwiegend unter genetisch-neurobiologischem Aspekt gesehen wird.
Im Gegensatz zur ersten Gruppe liegt die Ursache des Problems hier stärker in der Gegenwart. Das gegenseitige Vertrauen in der Familie ist oft tief enttäuscht. Astralleib und Ich des Kindes können sich nicht in einer stabilen Eltern-Kind-Triade entwickeln. Die Nachahmung der primären Bezugspersonen bleibt problematisch, die Verinnerlichung der höheren Wesensglieder ist oft gestört. Damit können auch Schlafstörungen zusammenhängen, die in dieser Gruppe häufig sind. Eine zentrale Ursache sind dabei elterliche Konflikte. (7) Der Ätherleib erfährt nicht die für den Aufbau der Organe notwendigen Impulse, da die Tätigkeit des Astralleibs unter dem Einfluss gestörter seelischer Bezüge und Bindungen irritiert und deformiert wird. Das rhythmische System, die Mitte des Organismus, die sich im zweiten Jahrsiebt ausformt und uns befähigt, innerlich Kopf und Gliedmaßen zu vermitteln und im Gleichgewicht zu halten, ist in seiner Ausbildung gestört. Dabei ist das Kind seelisch-geistig und oft auch leiblich unter- oder fehlernährt.
Die Kinder verbessern sich vor allem dann, wenn die gesamte Familie behandelt bzw. einbezogen wird. Therapeutisch brauchen alle Beteiligten eine klare Orientierung, die sie aus ihrer Selbstbezogenheit im Unglück herausführt, die eine Wertschätzung des Kindes und gegenseitige Wertschätzung der Eltern ermöglicht.
Es ist in meiner Praxis immer wieder bewegend zu erleben, wie Väter aufleben, denen man versichert, wirksamer zu sein als jedes Medikament – wenn sie sich für ihr Kind Zeit nehmen und vor allem, wenn sie mit ihm etwas unternehmen, was Sonne, Spiel und Abenteuer verspricht (und sich nicht allein vor Mattscheiben und der Autofahrt zum Fußballverein erschöpft). Das Gespräch mit einem wohlwollend-neutralen Therapeuten, das Gestalten in einer künstlerischen Therapie kann wirksam die Mitte stärken, Letzteres ganz besonders auch bei betroffenen Mädchen. Zentrales Therapieziel stellt die positive Ausbildung des rhythmischen Systems und seelisch die Entfaltung der Beziehungsfähigkeit des Kindes dar. Aufmerksamkeit, Motivation und Konzentration hängen hier entscheidend ab von der Stärkung der Mitte ab, der Fähigkeit, vertrauensvolle Bindungen aufzubauen.
Therapeutisch kommt damit dem zweiten Jahrsiebt für diese Gruppe von Kindern besonders große Bedeutung zu, in dem der Astralleib sich allmählich von den Eltern löst und „geboren“ wird, das rhythmische System sich ausformt (bis hin zum Puls-Atem-Quotienten) und in dem die Kunst, das Erleben und Gestalten des Schönen von zentraler Bedeutung für die Ausformung des Organismus sind. Gelingt die Behandlung, dann kann sich in der Adoleszenz die Ich-Organisation zunehmend stabil im Organismus verankern, die/der Jugendliche zunehmend Frustrationen tolerieren, tragfähige Beziehungen entwickeln und Lernprozesse durchhalten.
Kinder mit „schwierigem Temperament“
In der im Folgenden charakterisierten, dritten Gruppe haben wir es hingegen mit einer willensbetonten, stark in den Gliedmaßen und der eigenen Stoffwechselorganisation verhafteten Gruppe zu tun, die erst im Erwachsenwerden, in der Adoleszenz ausreift und dann oft ein großes Willenspotenzial entfalten kann. Diese Einseitigkeit der kindlichen Konstitution kann sich „propulsiv“ zeigen, was oft von der Umgebung als besonders herausfordernd erlebt wird, oder auch „retardiert“. Letzteres ist durchaus nicht selten, es überwiegen eher Aufmerksamkeitsstörungen ohne Hyperaktivität.
Diese Kinder zeichnen sich von früher Kindheit an durch eine langsame Entwicklung aus, an der die pädagogischen Bemühungen ihrer Umgebung weitgehend wirkungslos abprallen. Leiblich imponieren sie ganz entgegengesetzt zu der Eingangs dargestellten, ersten Gruppe mit einer eher stabil bis etwas schwer wirkenden Konstitution. Der Appetit ist mehrheitlich robust, die Gliedmaßenaktivität entwickelt sich langsam, die Bindung an die Eltern, insbesondere die Mutter ist eng, auch wenn für sie der Eigenwille ihres Kindes nicht immer leicht zu ertragen ist. Sie sind langsam, aber nicht schwach im Kopf, in den Sinnen. Sinneseindrücke wirken lange nach, Gewaltdarstellungen im Kinderfernsehen können sich sehr irritierend auswirken, das Bedürfnis nach sozialen Kontakten hält sich in Grenzen. Der Ätherleib, die Lebensorganisation entwickelt sich überquellend, der Aufwachprozess des Bewusstseins entsprechend langsam und die Kinder brauchen in ihrer Entwicklung lange, um ihre intensiven Lebensprozesse seelisch-geistig so weit zu durchdringen, dass sie sich auf von außen herangetragene Ziele orientieren können.
Eine frühe Einschulung schadet diesen Kindern sehr, sie neigen zum Träumen, zu abschweifender Aufmerksamkeit, verkrampfen sich beim Schreiben lernen, fühlen sich überfordert und versuchen abzutauchen in die Welt ihrer inneren Fantasie. Dabei ist die langfristige Prognose meist hervorragend, sie entwickeln sich mit zunehmender Verinnerlichung des Seelisch-Geistigen nach dem 9. Lebensjahr oft zu stabilen, bodenständigen, verlässlichen und in ihrer Umgebung beliebten Menschen. Hier ist es wichtig, Gefühle der Enttäuschung bei Eltern und Lehrern aufzufangen.
Pädiatrisch konstatieren wir häufig
· Starke Impulsivität
· Erhebt oft einen Führungsanspruch, verfügt früh über Charisma
· begeisterte Krieger, aktiv im Gelände, furchtlos in Gefahrensituationen
· lehnen Regeln „für Warmduscher“ ab
· nicht selten auch starke orale Bedürfnisse: Süßigkeiten, später Alkohol
· keine Neigung, von sich aus einen normalen Rhythmus zu entwickeln – andererseits auch sehr belastbar!
Diese Kinder rufen nach Erziehern von männlichem Typus (das kann heute durchaus manchmal überzeugender von Frauen verkörpert werden) und verbessern sich durch
· klare Führung
· Anerkennung, wo möglich
· Humor!
· rhythmische Tagesgestaltung, insbesondere der Ernährung
· kräftige und ausreichende Bewegung
· Heileurythmie, die sie oft überraschend gerne praktizieren, vor allem, wenn sie von einem Eurythmisten mit männlichem Typus (siehe oben) vermittelt wird
· Herausforderungen
· Starke Gruppen, die ihnen einen Gegenpart geben können
Medikamente, die helfen, den Stoffwechsel zu ordnen, wofür potenzierter Schwefel eine Leitsubstanz ist (3).
Georg Soldner, Stellvertretender Leiter Medizinische Sektion der Freien Hochschule, Goetheanum, Dornach/Schweiz; Leiter der Akademie Anthroposophische Medizin der GAÄD, München; niedergelassener Kinder- und Jugendarzt in München mit Schwerpunkt integrative Behandlung von Kindern mit chronischen Erkrankungen; Chefredakteur des Vademecum Anthroposophische Arzneimittel.
Literatur
(1) Kutik, C., Entscheidende Kinderjahre, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart, 2. Auflage 2012
(2) Saigal S. et al: School-age outcomes in children who were extremely low birth weight from four international population-based cohorts. Pediatrics 112 (2003), 943–950.
(3) G. Soldner, H. M. Stellmann, Individuelle Pädiatrie, Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart, 5. Aufl. 2018, Kap. 2, 4, 7; spezifisch zu ADHS Kap 7.5
(4) Konofal E. et al., Iron deficiency in children with attention-deficit/hyperactivity disorder. Arch Pediatr Adolesc Med 158: 1113–1115.
(5) K. Jäkel: Frühgeborene und Schule – Ermutigt oder ausgebremst? Erfahrungen, Hilfen, Tipps, <link www.fruehgeborene-rlp.de/121downloads_buch.php>www.fruehgeborene-rlp.de/121downloads_buch.php</link>
(6) Schneider/Eisenberg: ADHS-Kinder als Symptomträger eines gestörten sozialen Umfeldes? A. Jenke, Pädiatrie hautnah (3) 2005 – vgl. auch Anm. 19.
(7) Palmstierna P. et al: Parent perceptions of child sleep: a study of 10.000 swedish children. Acta paediatrica 97, 1631–1639 (2008): “It turned out that the greatest determining factor of sleep disturbance was the child´s perception of parental conflict”
Weiterführende Literatur
H. Köhler, War Michel aus Lönneberga aufmerksamkeitsgestört? Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2002
Der Artikel stellt das – erweiterte – Autoreferat zu einem Vortrag dar, der am 26. Oktober 2014 im Goetheanum/Dornach im Rahmen der anthroposophisch-medizinischen Fortbildung für Schulärzte, Kinderärzte und Kinder- und Jugendpsychiater zum Thema Aufmerksamkeitsstörungen gehalten wurde. Es fehlen die erläuternden Tafelzeichnungen. Erstpublikation in „Medizinisch Pädagogische Konferenz“ Heft 73, Mai 2015, gekürzt von Katharina Stemann