Im Folgenden soll versucht werden, der Frage des Umgangs mit herausfordernden Verhaltensweisen unter verschiedenen Perspektiven nachzugehen. Zuerst erfolgt eine Klärung des Begriffes Verhaltensauffälligkeit, darauf aufbauend wird die Frage der Haltung thematisiert. Daran anschliessend skizziere ich kurz Erklärungsansätze aus dem anthroposophischen Menschenverständnis. Zum Schluss werden die zentralen Fragen von Autorität und Vertrauen dargestellt, zwei grundlegende Fragen im Bezug auf das Thema.
Ein Begriff, der Fragen aufwirft und mehrere Perspektiven erfordert
Der heute allgemein verwendete Begriff Verhaltensstörung ist nicht ganz unumstritten. Er impliziert eine heimliche Wertigkeit, eine Abwertung des Kindes. Die Definitionsmacht liegt immer bei den Erwachsenen, der Objektbereich ist höchst unklar und der Begriff geht in seiner Festlegung immer von einer Norm aus (2). Je nach gesellschaftlichen, statistischen oder einer Ideal- oder Minimal-Norm erfolgt die Zuordnung des Begriffes in Bezug auf das Verhalten des Kindes oder Jugendlichen. In unserer Gesellschaft wird erwartet, dass ein Kind in der ersten Klasse in der Schule ruhig in seiner Bank sitzen kann, tut es das nicht – weil es seinen altersspezifischen Bewegungsdrang ausleben möchte – gilt es als auffällig, denn es entspricht nicht unseren Erwartungen.
Gerade weil es sich bei auffälligem Verhalten nicht um ein isoliertes Geschehen handelt, sondern immer die Umwelt auch mitbeteiligt ist, kann man vier verschiedene Perspektiven von Erklärungsansätzen unterscheiden. Jeder dieser vier Perspektiven stellt für sich alleine aber eine Einseitigkeit dar.
Die personenorientierte Perspektive fokussiert auf das Kind oder den Jugendlichen: „Bei Einnahme einer personenorientierten Perspektive geht man von einer „kranken“ Persönlichkeit aus. Die Ursache für das auffällige Verhalten wird in einer auffälligen Persönlichkeitsstruktur gesehen, in abweichenden Persönlichkeitseigenarten – als überdauernde Eigenarten und typische Reaktionsweisen der Person. Das Kind “ist eben so“. (3).
Ein zweite Perspektive stellt die Situation in den Mittelpunkt: „Aus einer solchen situationistischen Perspektive heraus sind einzig die aktuelle Situation und die Bedingungen für das Auftreten einer Verhaltensstörung entscheidend. Person-Variablen treten dabei in den Hintergrund. Es wird davon ausgegangen, dass, unabhängig von den individuellen Eigenarten der Person, durch Spezifika der Situation auffällige Reaktionen der Person hervorgerufen werden“ (3).
Ebenso kann die Interaktion im Zentrum stehen: „In den Focus kommt die Wechselwirkung zwischen bestimmten Person-Variablen und bestimmten Qualitäten der aktuellen Situation. Es werden weder ausschliesslich die Eigenarten einer Person noch ausschliesslich bestimmte Besonderheiten der Situation als Ursache betrachtet, sondern es wird die aktuelle Auffälligkeit als Ergebnis einer gestörten Person-Umwelt-Interaktion gesehen“ (3).
Einen ganz wichtigen Aspekt betont die Beobachter-Perspektive. Sie richtet ihren Blick auf den Erwachsenen, der für sich die Definitionsmacht beansprucht, denn er oder sie „etikettiert ein bestimmtes Verhalten als auffällig: Er verleiht diesem Verhalten und Erleben das Etikett „auffällig“ (3). Schon die Etikettierung ist an und für sich bedenklich, sie birgt aber noch eine weitere Gefahr in sich, denn es „kann eine gemässigte oder radikale Etikettierung auch dazu führen, dass das zugeschriebene „gestörte“ Verhalten tatsächlich (gehäuft) auftritt“ (3).
Aus diesen Ausführungen wird deutlich, dass wir mit den Begriffen sehr vorsichtig umgehen müssen, damit sie nicht zu Etikettierungen – ein „auffälliger“ Schüler wird seine Auffälligkeit über seine ganze Schulzeit nicht mehr los, weil alle Lehrpersonen in seinem vielleicht harmlosen und altersgemässen Verhalten eine Bestätigung der Zuschreibung erkennen – und Schubladisierungen führen. „Das Kind trägt das Etikett “der, der immer stört“ und die Eltern sind „die mit dem störenden Kind, die es überhaupt nicht hinkriegen.“ (4)
Es darf nicht sein, dass wir alle Schwierigkeiten nur beim Kind – oder auch den Eltern – festmachen, sondern das Verhalten des Kindes ist immer auch eine Reaktion auf eine beeinträchtigte oder problematische Beziehung zu sich selbst, zur Um- oder Mitwelt, es bedarf immer aller vier der oben aufgeführten Perspektiven.
Ich verwende im Folgenden den Begriff „herausforderndes Verhalten“, weil er den Kontextbezug stärker gewichtet, aber auch nicht das Verhalten beschönigt oder verharmlost – verhaltensoriginell – und damit die Ernsthaftigkeit der Fragestellung für alle betont.
Die Haltung – kleine Sache und grosser Unterschied
Die Konfrontation mit Kindern und Jugendlichen mit herausforderndem Verhalten stellt an die Mitarbeitenden enorme Anforderungen und kann zu Hilflosigkeit und Ohnmachtsgefühlen führen. Solche Kinder und Jugendliche überschreiten sehr häufig eine Grenze und können Mitarbeitende nicht nur seelisch, sondern auch physisch verletzen. Mit welcher Haltung die Erwachsenen dieser Grenzüberschreitung begegnen, ist von grösster Wichtigkeit. Ein moralisches Verurteilen des Kindes oder des Jugendlichen – meist gefolgt von einer Strafe – kann zwar kurzfristig eine Entlastung schaffen, führt aber auf Seiten des Kindes oder Jugendlichen kaum zu einer Verhaltensänderung. Es muss darum gehen, das Verhalten des Kindes zu verstehen und sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Verhaltens – auch wenn wir es als herausfordernd und auffällig erleben – zu stellen.
Was will das Kind oder der Jugendliche mit seinem Verhalten ausdrücken, welche Schwäche oder Einseitigkeit wird damit überspielt, was ist der Grund dahinter? „Einem Menschen mit der Einstellung zu begegnen, dass sein Verhalten eine Bedeutung hat, die wir nicht verstehen, ermöglicht einen ganz anderen Zugang zu ihm, als wenn wir ihn einfach als „verwirrt“, „verrückt“ oder „unangepasst“ abstempeln ... Allein schon der Versuch, zu verstehen, verändert die Qualität der Beziehung“ (5).
Wichtig ist aus unserer Sicht, dass wir unterscheiden zwischen dem Kind oder Jugendlichen als Mensch und dem herausfordernden Verhalten.
Zwei Reaktionen sind möglich:
- Ich beurteile das Kind und sein Verhalten moralisch; das Kind fühlt sich abgewertet und nicht akzeptiert.
- Ich differenziere und signalisiere dem Kind, dass ich es als Person wertschätze, aber sein Verhalten nicht akzeptieren kann.
Dieser kleine aber bedeutende Unterschied in der Haltung berücksichtigt, dass jedes Verhalten, für denjenigen, der es zeigt, Sinn macht. Ein überempfindliches Kind wird in einer Überforderungssituation vielleicht laut schreien oder Gegenstände zerstören. Für uns als Betrachtende ist das herausfordernd und auffällig, für das Kind eine Strategie, um mit der Überforderung umgehen zu können. „Jedes kindliche Verhalten macht auf Basis vorheriger sozialer Lernerfahrungen einen Sinn – es gibt einen „guten Grund“ für jedes noch so bizarre Verhalten“ (6).
Konsequent hat der Schweizer Heilpädagoge Emil E. Kobi diese Betrachtungsweise verdichtet, mit dem Resultat, dass eine Verhaltensstörung Ausdruck von Normalität sein kann. „Ein Kind ist normalerweise durch gestörte Verhältnisse störbar und wird dadurch in seinem Verhalten in störender Weise gestört (verhaltensgestört), Verhaltensgestörtheit ist somit Ausdruck von Normalität (7).
Eine Verhaltensstörung als adäquate und gesunde Reaktion auf gestörte Verhältnisse zu betrachten, ist herausfordernd, aber ergibt meiner Einschätzung nach fruchtbare Erklärungsansätze und Handlungsmöglichkeiten. Der logische Umkehrschluss, „ein Kind, das durch gestörte Verhältnisse in seinem Verhalten nicht (mehr) gestört wird, erscheint abnorm, Verhaltenskonformität ist somit Ausdruck von Normopathie (7) regt zum Nachdenken an. Denn dadurch wird deutlich, dass viele Irritationen oder Störungen sich nicht nach Aussen richten müssen, sondern gegen Innen ihre Wirkung entfalten und das Kind – trotz gravierender Schwierigkeiten – sich korrekt benimmt und ein sozial und gesellschaftlich angepasstes Verhalten zeigt. Dies würde bedeuten, dass Mitarbeitende sich speziell auch um diejenigen Kinder bemühen müssten, die angepasstes Verhalten zeigen, denn internalisierende Störungen sind zwar äusserlich nicht auffällig, aber sehr gravierend.
Ansätze des Verstehens aus dem anthroposophischen Menschenverständnis
Das anthroposophische Menschenverständnis bietet viele Ansatzpunkte, um herausforderndes Verhalten zu verstehen und auf diesem Hintergrund auch Begleit- und Unterstützungsansätze zu finden. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass herausforderndes Verhalten die Strategie des Kindes oder Jugendlichen ist, um mit einer Schwäche oder Einseitigkeit umgehen zu können.
Der Dreischritt Symptomatologie, Diagnose und Therapie – als Wahrnehmen, Verstehen und Handeln – wird auch im Heilpädagogischen Kurs dargestellt. Erst die Phänomene wahrnehmen und sie, jenseits von Sympathie und Empathie versuchen zu verstehen, ist eine im Alltag gewaltige Herausforderung! Aber erst wenn die Erscheinung – zum Beispiel das herausfordernde Verhalten – zum objektiven Bild wird, man sich mit Gelassenheit innerlich damit verbunden hat, „dann ist die im astralischen Leib befindliche Seelenverfassung da, die in richtiger Weise den Erzieher neben das Kind hinstellt. Und dann wird er alles übrige mehr oder weniger richtig besorgen“ (8). Das Überwinden von Sympathie und Antipathie ist eine innerliche Arbeit, die ihre Auswirkungen in einer Haltungsänderung zeigen kann.
Zentraler Bezugspunkt ist der Hinweis von Rudolf Steiner zur Anforderung an die Erwachsenen in der Begegnung mit den Kindern: „Der ist nie fertig, für den ist jedes Kind wieder ein neues Problem, ein neues Rätsel. Aber er kommt nur darauf, wenn er nun geführt wird durch die Wesenheit im Kinde, wie er es im einzelnen Fall machen muss. Es ist eine unbequeme Arbeit, aber sie ist die einzig reale“ (8). In diesem kurzen Abschnitt liegen meiner Einschätzung nach viele wichtige Aspekte verborgen, die für den Umgang mit Kindern mit herausforderndem Verhalten ausserordentlich bedeutsam sind.
Es tritt uns ein Kind, ein jugendlicher Mensch mit einem herausfordernden Verhalten entgegen, das ist primär einmal ein Problem, das Rätsel aufwirft. Der Erwachsene muss sich nun auf das Rätsel Mensch einlassen, ein langer und herausfordernder Prozess. „Immer wenn es darauf ankommt, sich in Prozesse einzulassen, geht es um den Einbezug der eigenen Persönlichkeit. Der Prozess verändert auch denjenigen, der sich auf ihn einlässt“ (9). Darum ist dieser Weg unbequem, weil ich mich auch verändern muss, denn vielleicht zeigt das Kind oder der Jugendliche ein Verhalten, das mich an meiner wunden Stelle trifft und meine Schwächen offenbart, zu denen zu stehen nicht immer ganz einfach ist. Diese Arbeit auch an mir selber muss ich leisten, will ich in die Lage kommen, mich von der Wesenheit des Kindes leiten zu lassen.
„Das Wort Diagnose bedeutet wörtlich, „auseinander erkennen“ oder „durch und durch erkennen“. Was zunächst wie ein Widerspruch klingen kann, bekommt durch die Verbindung mit dem Prozesshaften der heilpädagogischen Diagnostik einen Zusammenhang. In der Annäherung an die Individualität des Anderen geht es ja zum einen darum, viele verschiedene Aspekte, die zu den Äusserungen des Individuums gehören, zu betrachten. Damit wäre der Vorgang des Auseinander-Erkennens beschrieben. Das reicht aber nicht aus, um eine Individualität zu verstehen. Was es noch braucht, ist die Fähigkeit, dem nachzugehen, was sich durch die Phänomene ausspricht. Das erfordert eine ganz andere Vorgehensweise als die analytische Betrachtung der verschiedenen Aspekte“ (9).
An dieser Stelle, darf wieder einmal an die heilpädagogischen Grundregeln, wie sie Paul Moor vor bald sechzig Jahren formuliert hat, erinnert werden; sie sind unserer Einschätzung nach in ihrer Kürze, Aktualität, Aussagekraft und Praxisrelevanz nicht zu überbieten:
- Erst verstehen, dann erziehen
- Nicht gegen den Fehler, sondern für das Fehlende
- Nicht nur das Kind, auch seine Umgebung ist zu erziehen (10).
Diese drei Aussagen beinhalten das Wesentliche, das uns im Alltag eine Hilfestellung sein kann.
Der Versuch zu verstehen ist ein diagnostischer Prozess, auf den ich mich einlassen und wo ich mich auf die im Vorfeld erarbeiteten menschenkundlichen Gesichtspunkte stützen kann.
Die Handlung richtet sich nicht gegen den Fehler – `das Verhalten werde ich dir abgewöhnen` – sondern macht dem Kind oder Jugendlichen Angebote – `was brauchst du ?` – damit das auffällige Verhalten nicht mehr als Reaktion auf ein Mangelerleben gezeigt werden muss.
Mit der dritten Regel wird deutlich, dass die Bemühungen sich nicht nur auf das Kind konzentrieren dürfen. Der Miteinbezug der Umgebung, zu der ich selber natürlich auch gehöre, ist wesentlich. „Sie glauben gar nicht, wie gleichgültig es im Grunde genommen ist, was man als Erzieher oberflächlich redet oder nicht redet, und wie stark es von Belang ist, was man als Erzieher selber ist“ (8), denn so „finden wir zurück zur alten, aber durch methodische Raffinessen oft überdeckten Wahrheit, dass der Erzieher weniger wirkt durch das, was er tut als durch das, was er ist“ (11).
Von Autorität und Vertrauen
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass herausfordernde Verhaltensweisen von Kinder und Jugendlichen zunehmen und in Erziehung und Schule zu einem grossen Problem geworden sind. In der Folge gibt es viele Stimmen, die darauf hinweisen, dass diese Zunahme von herausfordernden Verhaltensweisen mit dem zunehmenden Hinterfragen der Legitimierung von Autorität der Bezugspersonen zusammenhängt.
Die Erschütterung des traditionellen Autoritätsverständnisses, das Versagen des antiautoritären und partnerschaftlichen Erziehungsstils (12) wirft eine zentrale Frage auf: „ Wie kann das Vakuum wieder gefüllt werden, das durch den Wegfall der traditionellen Autorität entstanden ist, so dass die Kinder entwicklungsfördernde Erfahrungen mit Grenzsetzungen, Anforderungen und Auseinandersetzungen mit Schwierigkeiten machen können – und zwar auf eine moralisch und gesellschaftlich vertretbare Weise“ (13)?
Es geht also nicht um einen Rückfall in alte Autoritätsformen, die von Distanz, Furcht, unbedingtem Gehorsam, Kontrolle, Unanfechtbarkeit der Rolle der Erziehungsperson und physischer Bestrafung geprägt waren, sondern um das Ausbilden einer neuen Haltung in Bezug auf Autorität auf der Grundlage von Nähe, Präsenz, Beziehung, Gewaltlosigkeit und dem Zulassen einer Fehlerkultur (13).
Der Ansatz „Autorität durch Beziehung“ ist ursprünglich vom israelischen Psychologen Haim Omer entwickelt worden. Er ist meiner Meinung nach sehr fruchtbar im Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen, denn er führt zu einer Entlastung der Bezugspersonen und ermöglicht ihnen neue Handlungsmöglichkeiten. „Neue Autorität geht von der Erkenntnis aus, dass absolute Kontrolle nicht nur nicht wünschenswert ist, sondern nicht möglich. Das erlaubt eine graduelle Veränderung der emotionalen Reaktion und der Handlungen der Autoritätsperson, ihrer Aussagen, ihres Identitätsgefühls und ihrer körperlichen Reaktionen. Diese Veränderungen beginnen mit der folgenden Einsicht: Ich kann die Gefühle, Gedanken und Reaktionen des Kindes nicht kontrollieren, sondern nur meine eigenen“ (13)!
Im Focus steht dabei nicht primär die kindliche Verhaltensänderung, sondern das Aufrechterhalten der Beziehung.
Unkommentiert erwähne ich im Folgenden drei Grundsätze der neuen Autorität; sie sprechen für sich, ein Nachdenken darüber ist fruchtbar.
- „Man muss nicht siegen, sondern beharrlich sein“
- „Man muss das Eisen schmieden, wenn es kalt ist“
- „Man darf sich irren, da Angelegenheiten auch wiedergutzumachen sind“ (13).
Zentral ist, dass das Vertrauen des Kindes in sich und seine Umgebung nicht erschüttert wird, denn „Vertrauen ist nicht der Schlüssel zur Lösung der Lebensprobleme verhaltensauffälliger Kinder und Jugendlicher, sondern in den meisten Fällen die Basis, um diesen überhaupt zu begegnen“ (14).
„Pädagogisch fruchtbar ist nicht die pädagogische Absicht, sondern die pädagogische Begegnung“ (14). Gerade wenn die Begegnung und Beziehungsgestaltung erschwert wird durch herausfordernde Verhaltensweisen, sind sie umso wichtiger für das Kind oder Jugendlichen, der uns als Problem, als Rätsel entgegentritt. „Eine an den Widersprüchen in der Welt, in der menschlichen Gesellschaft, in ihrem eigenen leiblichen Dasein leidende Seele tritt mir mit einer Frage entgegen, indem ich ihr nach meinem besten Wissen und Gewissen zu antworten versuche, helfe ich zum Charakter zu werden, der die Widersprüche handelnd überwindet“ (14).
Dem Gehorsam als Leitlinie und Forderung von Seiten der Erwachsenen gerecht zu werden und den Erwartungen zu entsprechen, ist für die Kinder und Jugendlichen nicht einfach. Denn „das Konzept der traditionellen Autorität setzt das Ansehen der Autoritätsperson mit dem Grade des Gehorsams gleich, der ihr entgegengebracht wurde. Doch die Tatsache, dass jemandem eine gewisse Autorität zugestanden wird, bedeutet nicht, dass die ihm untergeordneten Personen gehorsam sein müssen (13).
Wo Gehorsam sich entwickeln soll, muss Vertrauen gepflegt werden. Vertrauen kann nicht eingefordert werden, es ist nicht einfach da. Vertrauen einer Person schenken hat mit einer öffnenden Geste zu tun, es macht verletzlich, deshalb ist es für die Kinder und Jugendlichen mit herausforderndem Verhalten auch an Voraussetzungen gebunden.
Aus diesem Grund ist es wichtig, dass Kinder und Jugendliche mit herausfordernden Verhaltensweisen nicht immer wieder Beziehungsabbrüche erleben, dies schwächt nicht nur das Selbstwertgefühl des Kindes, sondern kann auch dazu führen, dass sie nach vielen Enttäuschungen nicht mehr bereit sind, einem anderen Menschen Vertrauen zu schenken. „Der Erzieher selber kann sich diese Art von Vertrauen nicht anmassen und auf keine Weise schaffen; sie kann ihm nur geschenkt werden vom Vertrauen des Kindes. Und fügen wir gleich hinzu: Sie wird ihm viel häufiger geschenkt, als er sie verdient. Weil er dies aber so oft nicht bemerkt und dann das Vertrauen enttäuscht, dann verliert er es“ (14).
Ausklang
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der Umgang mit herausforderndem Verhalten bei Kindern und Jugendlichen den Alltag in den Institutionen und Schulen immer mehr bestimmt.
Folgende Kernaussagen scheinen mir als Haltung und Voraussetzung für das Bewältigen dieser Herausforderung wichtig:
- Kinder und Jugendliche, die uns mit ihrem Verhalten Probleme machen, haben selber ein Problem.
- Wir können nicht das Verhalten verändern, sondern versuchen, das Problem zu verstehen.
- Das Verhältnis des Kindes oder Jugendlichen zu sich selbst, zur Um- und Mitwelt rückt dabei in den Mittelpunkt.
- Gelingt es uns, das Problem des beeinträchtigten Verhältnisses zu verstehen und adäquate Unterstützung anzubieten, kann das herausfordernde Verhalten durch das Kind abgebaut werden.
- Oft brauchen Kinder und Jugendliche genau das, was sie vehement ablehnen, z. B. Beziehungsangebote und Nähe.
- Grundlage aller Begleitung bildet das Vertrauen und eine Autorität, die auf Beziehung und Nähe basiert.
- Die Begleitung von Kindern und Jugendlichen mit herausforderndem Verhalten ist eine Gratwanderung mit Abgründen, eine Einzelperson ist damit überfordert.
- Mitarbeitenden brauchen Begleitung, Unterstützung und einen sicheren Ort, an dem sie über ihre Verletzungen und Gefühle sprechen können.
Ich bin mir sehr bewusst, dass in dieser Thematik die Diskrepanz zwischen theoretischen Erläuterungen und der Praxis sehr gross ist. „Ich habe meine berufliche Tätigkeit vorwärts gelebt und rückwärts verstanden“ (15); die Reflektion der eigenen Praxis hat mich aber zur Überzeugung geführt, dass eine ehrliche Auseinandersetzung mit den aufgeführten Aspekten im Alltag mit diesen Kindern und Jugendlichen sinnvoll und hilfreich sein kann. Denn Haltung ist eine kleine Sache, die den grossen Unterschied macht!
Andreas Fischer, Dr. phil., verheiratet, vier Kinder, Ausbildungen als Heilpädagoge, Primarlehrer und Supervisor. 1980-2001 Schulleiter und Lehrer in einem kleinen Sonderschulheim in der Ostschweiz, 1995-2006 Führung der Koordinationsstelle des Verbandes für anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie der Schweiz (vahs). Von 2006 - 2017 Leiter der Höheren Fachschule für anthroposophische Heilpädagogik (HFHS) in Dornach.
Literatur
(1) Schulz Dieter (1994): Der Störenfried – Warum stört Frieder? Zum Verständnis des entwicklungsauffälligen Kindes. Merkblätter für eine bewusste Lebensführung in Gesundheit und Krankheit, Nr. 147. Verein für ein erweitertes Heilwesen, Bad Liebenzell.
(2) Hillenbrand Clemens (2006): Einführung in die Pädagogik bei Verhaltensstörungen. 3. Auflage, Reinhardt Verlag, UTB, München, Basel.
(3) Stein Roland (2017): Grundwissen Verhaltensstörung. 5. neu überarbeitete Auflage, Schneider Verlag, Hohengehren GmbH.
(4) Schulz Dieter / Zimmermann Karel (2011): AD(H)S – Krankheit oder Zeitproblem? Therapieansätze aus der anthroposophischen Heilpädagogik. Gesundheit aktiv anthroposophische Heilkunst e. v., Bad Liebenzell.
(5) Pörtner Marlis (2004): Ernstnehmen Zutrauen Verstehen. Klett-Cotta, Stuttgart.
(6) Schmid Marc /Lang Birgit (2012): Was ist das Innovative und Neue an einer Traumapädagogik? In: Schmid et al.: Handbuch psychiatriebezogene Sozialpädagogik. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. S. 337- 351.
(7) Kobi Emil E. (1994): Zur heimlichen Unheimlichkeit von Heimen – Heilpädagogische Reflexionen zum System Subsidiärer Residenzen, Edition SZH, Luzern.
(8) Steiner Rudolf (1985): Heilpädagogischer Kurs GA 317. Rudolf Steiner Verlag, Dornach.
(9) Schöffmann Erika / Schulz Dieter (2015): Wege zum Anderen. Facetten heilpädagogischer Diagnostik auf anthroposophischer Grundlage. Mayer Info3 Verlagsgemeinschaft, Frankfurt.
(10)Moor Paul (1994): Heilpädagogik. Ein pädagogisches Lehrbuch. Studienausgabe, HPS Reihe Band 7, Edition SZH, Luzern.
(11) Kobi Emil E. (1993): Grundfragen der Heilpädagogik und Heilerziehung. 5. Auflage, Haupt Verlag, Stuttgart, Zürich.
(12) Winterhoff Michael (2008): Warum unsere Kinder Tyrannen werden. Oder: Die Abschaffung der Kindheit. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh.
(13) Omer Haim / von Schlippe Arist (2016): Stärke statt Macht. Neue Autorität in Familie, Schule und Gemeinde. 3. Auflage, Vandenhoek & Ruprecht, Göttingen.
(14)Müller Thomas (2017): „Ich kann Niemandem mehr vertrauen.“ Konzepte von Vertrauen und Ihre Relevanz für die Pädagogik bei Verhaltensstörungen. Verlag Julius Klinkhart, Bad Heilbronn.
(15) Wigger Annegret (2005): Was tun SozialpädagogInnen und was denken sie, was sie tun? Professionalisierung im Heimalltag. Verlag Barbara Budrich, Opladen.
Weiterführende Literatur
Bijloo Marijke (2011): Bindung und Bindungsproblematik. In: Niemeijer Martin / Gastkemper Michael / Kamps Frans (Hg): Entwicklungsstörungen bei Kinder und Jugendlichen. Medizinisch-Pädagogische Begleitung und Behandlung. Verlag am Goetheanum, Dornach, S. 189-205.
Brisch Karl Heinz (2017). Bindungsstörungen. Von der Bindungstheorie zur Therapie. 14. Auflage, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart
Fischer Andreas (2013): Der Heilpädagogische Kurs im Kontext aktueller Forschung. Der Zusammenhang zwischen „seelischem Wundsein“ und Vulnerabilität. In: Seelenpflege in Heilpädagogik und Sozialtherapie, Heft 3, Dornach. S. 21-32
Köhler Henning (1994): Von ängstlichen, traurigen und unruhigen Kindern – Grundlagen einer spirituellen Erziehungspraxis. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart
König Karl (1995): Sinnesentwicklung und Leiberfahrung. 4. Auflage, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart
Lievegoed Bernhard (1984): Heilpädagogische Betrachtungen. Hilfen zur Behandlung von Entwicklungsstörungen. Verlag Freises Geistesleben, Stuttgart
Lievegoed Bernhard (2012): Der Mensch an der Schwelle. Biographische Krisen und Entwicklungsmöglichkeiten. Verlag Freises Geistesleben, Stuttgart
Niemeijer Martin / Gastkemper Michael / Kamps Frans (Hg) (2011): Entwicklungsstörungen bei Kinder und Jugendlichen. Medizinisch-Pädagogische Begleitung und Behandlung. Verlag am Goetheanum, Dornach
Pichler Annette (2016): Die Dynamik von Punkt und Kreis als Grundlage der Bindungssicherheit. In Seelenpflege in Heilpädagogik und Sozialtherapie, Heft 3, Dornach. S. 175-180
Schulz Dieter (1991): Frühförderung in der Heilpädagogik. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart