Sind wir uns bewusst, dass wir durch die Wahl der Unterrichtsinhalte „auswählen“, „konstruieren“ und „fokussieren“? Es macht beispielsweise einen Unterschied, ob die Lehrperson bei der Wahl einer Lektüre für die Lernenden eine Autorin oder einen Autoren wählt, ob diese Person aus einem urbanen oder einem ländlichen Umfeld stammt, welcher Religion sie angehört und so weiter. Ich möchte mit diesem Artikel dazu anregen, über die eigenen pädagogischen Narrativen zu reflektieren. Das Reflektieren kann im Kindergarten-/ Schulalltag helfen, die Schüler genauer wahrzunehmen, eine stimmige kulturelle Auswahl des Erzählstoffs zu treffen und die eigene Fokussierung zu hinterfragen. Im Folgenden werden auch Beispiele von ersten Forschungsarbeiten an Waldorfschulen in verschiedenen Kulturen herangezogen.
Verloren im Bedeutungsgewebe?
Was ist eigentlich Kultur? Einfach gesagt ist es das, was uns als Gesellschaft zusammenhält, was uns verbindet. In einem „Kulturraum“ sprechen wir eine gemeinsame kulturelle „Sprache“, über die wir uns identifizieren. Kultur benötigt gemeinsame Rituale, Normen, Werte, die zum Beispiel bei Tischriten oder beim Begrüßen eine Orientierung geben. Solche kleinen Alltagsrituale fallen einem nicht unbedingt auf. Wir beherrschen sie von klein auf. Nur wenn wir ins Ausland reisen, sind wir schnell verwirrt. Eine wiegende Kopfbewegung in Indien kann einen Europäer zum Verzweifeln bringen, wir erkennen nicht, ob nun ja oder nein gemeint sei. Auch deutsche Busfahrpläne, die auf die Minute genau die Haltezeiten vorgeben, sind eine kulturspezifische Besonderheit.
Kultur ist aber nicht etwas Festgelegtes mit klaren Grenzen. Der Ethnograph Clifford Geertz nennt Kultur ein Bedeutungsgewebe, das es zu deuten oder wie er es nennt „dicht zu beschreiben“ gilt. Man kann an folgendem Beispiel sehen, dass das gar keine leichte Aufgabe ist: „Es gibt eine indische Geschichte – zumindest wurde sie mir als indische Geschichte erzählt – über einen Engländer, dem man erklärt hatte, die Welt stehe auf einem Podest, das auf dem Rücken eines Elefanten stehe, der selbst wiederum auf dem Rücken einer Schildkröte stehe; und dieser Engländer fragte daraufhin [...], worauf denn die Schildkröte stehe? Auf einer anderen Schildkröte. Und diese andere Schildkröte? „Oh Sahib, dann kommen nur noch Schildkröten, immer weiter hinunter.“ (2)
Es wird schnell klar: das Herantasten an Kultur ist komplex und im Fremden manchmal einfacher als im eigenen Umfeld. Aber genau darin liegt die Kunst: zu lernen, über die eigenen Gewohnheiten zu reflektieren.
Steiner sagte zu den ersten Lehrpersonen der ersten Waldorfschule: „Wir dürfen nicht bloß Pädagogen seine sondern wir werden Kulturmenschen im höchsten Grade, im höchsten Sinne des Wortes sein müssen. Wir müssen lebendiges Interesse haben für alles, was heute in der Zeit vor sich geht, sonst sind wir für diese Schule schlechte Lehrer.“ (3)
Kulturelle Akteure
Jeder ist ein kultureller Akteur: in jedem Moment wird Kultur individuell geschaffen. James Clifford spricht in „Writing Culture“ davon, dass Kultur von jedem einzelnen (fest)geschrieben wird. (4) Blickt man beispielsweise auf den schulischen Literaturkanon, ist klar, dass Shakespeare oder Schiller nicht fehlen dürfen. Aber wie steht es mit weiblichen Autorinnen oder unbekannteren Größen auch aus nicht-westlichen Ländern? Einerseits ist ein bestimmter Kanon ein wichtiger kultureller Vermittler, anderseits muss man sich bewusst vor Augen halten, dass dabei eine Fokussierung stattfindet. Edward Said hat das in seinem berühmten Buch „Orientalism“ (5) zugespitzt: durch die westliche Wissenschaft und Literatur über den „Orient“ wurde diese Region erst „orientalisiert“.
Wenn sich eine Kultur neu erfindet, dann ist das immer auch ein „machtvoller“ Ausdruck. Eric Hobsbawm zeigt in „The Invention of Tradition“ (6), dass gewisse „Traditionen“ als historische Fiktion in der Gegenwart konstruiert werden um bestimmte Normen und Strukturen zu festigen. Dieses Phänomen kann als Reaktion auf den allgegenwärtigen gesellschaftlichen Wandel gesehen werden. So werden heute in vielen Kulturen der Welt alte Feste und Rituale wieder neu inszeniert. Für uns als pädagogisch Tätige kann dies spannend sein: oft werden dadurch verlorengegangene Traditionen wieder wahrgenommen und neu belebt.
Karin Smith, eine Schweizer Mentorin, beschrieb mir neulich, wie sie peruanische Studentinnen und Studenten auf die alte andine Tradition der Keramik aufmerksam machte. Ihnen wurde dadurch erst bewusst, was für eigene, verloren geglaubte Schätze sie besitzen, die sie in ihrem pädagogischen Tun hilfreich einsetzen können. Es zeigt sich wie der internationale Austausch in der Waldorfbewegung den eigenen Horizont nach innen wie nach außen öffnen kann.
Kultur und Waldorfpädagogik
In der Waldorfbewegung beschäftigt man sich schon seit einigen Jahren mit der Frage, wie Waldorfpädagogik zum Beispiel in Russland, Australien oder in Japan aussehen kann.
Martyn Rawson, Mitherausgeber des englischen Waldorflehrplans, fragt sich berechtigterweise, ob man pädagogische Gewohnheiten einfach adaptieren sollte. „Was in einer Situation gut ist, gilt nicht für andere. Nur weil die Kinder in Deutschland lernen, mit Wolle zu stricken, kann das nicht für andere Länder gelten, wo es unter Umständen gar nicht üblich ist, mit Wolle zu stricken (sondern vielleicht mit Baumwolle).“ (7)
Neil Boland, ein Waldorflehrer in Neuseeland geht sogar so weit zu behaupten, dass ein „umfassender kultureller Kolonialismus“ (8) in der Waldorfpädagogik - wie auch in anderen kulturellen Bereichen- fortbesteht, wenn zum Beispiel das Christgeburtspiel im neuseeländischen Hochsommer aufgeführt wird, während den in Fellen und Wollmützen gekleideten Schauspielern der Schweiß von der Stirn rinnt.
Die christlichen Jahresfeste, vor allem Weihnachten, Ostern, Johanni und Michaeli, sind eng mit den Jahreszeiten in Mitteleuropa verbunden. Diese Feste fallen im Kalender mit einem bestimmten Stand der Sonne oder des Mondes zusammen. Auch erleben viele Menschen zu bestimmten Jahreszeiten eine bestimmte Stimmung in der Natur. Ostern, das im europäischen Frühling stattfindet, ist mit neuem Wachstum verbunden und Weihnachten, zur Zeit der Wintersonnenwende, feiert das Erwachen des Lichtes in der dunkelsten Jahreszeit. Es muss daher untersucht werden, wie christliche Feste mit den lokalen Ereignissen und der Naturstimmung verbunden sind. Gilt es nicht vornehmlich zu hinterfragen, ob sich Wochensprüche, Jahresfeste oder mitteleuropäischer Erzählstoff auch in anderen Kulturregionen eignen?
Boland hat Lehrkräfte an Waldorfschulen in Neuseeland befragt, die in der Maori Tradition beheimatet sind. Es kam zum Ausdruck, dass der Waldorfpädagogik ein eurozentristischer Blick anhaftet und die Verortung in der lokalen Kultur oder auch in multiplen kulturellen Zusammenhängen von den Schulen und Praktikern noch nie genau untersucht wurde. Boland plädiert dafür, das Curriculum neu zu hinterfragen, zu ergründen wie es sich in den lokalen Kontext fügt, zu sehen, ob die Schulgemeinschaft Sichtweisen von Minderheiten berücksichtigt usw. Es geht darum die Pädagogik mit dem Ort, der Zeit und den Menschen vor Ort zu verbinden. (9)
Gehen wir jetzt Beispielen nach, bei denen die lokale Kultur in der Waldorfpädagogik zum Ausdruck kommt. Carlo Willmann hat sich in einem Forschungsprojekt mit der Frage beschäftigt, wie das besondere Erziehungskonzept an Waldorfschulen, mit Augenmerk auf die sogenannte „Religiöse Erziehung“, in nichtchristlichen Kontexten angewendet wird. Hierbei hat er die Sekem Schule in Ägypten und die Waldorfschulen in Harduf, Shefar’am und Jerusalem in Israel untersucht.
Willmann zeigt auf, dass Steiner einen pädagogischen Religionsbegriff entworfen hat, der weniger die inhaltlichen Aspekte einer Religion zum Gegenstand hat, als vielmehr die Gefühle und den Willen anregen, wie zum Beispiel das Vertrauen, Staunen, Ehrfurcht etc. Didaktisch wird das durch den bildhaften Unterricht umgesetzt, durch Sprache, Gesten, Bilder, Musik, Symbole und Gleichnisse und in der Praxis meist von religiösen Motiven begleitet. So findet man an europäischen Waldorfschulen religiöse Lieder, Jahreszeitentische, das Feiern von christlichen Festen, Sagen und Legenden etc.
An der Sekem Schule stellt Willmann fest, dass die religiöse Erziehung einen wichtigen Stellenwert im Schulleben einnimmt und in seinen Forschungsgesprächen fiel oft der Satz: „Alles ist Religion“, denn im islamischen Kontext ist die Erziehung Teil der religiösen Lebenspraxis.
„Als Beispiel kann eine von dem Begründer von Sekem, Dr. Ibrahim Abouleish, geschilderte regelmäßige Arbeitssequenz aus den Konferenzen herangezogen werden. Die islamische Tradition spricht Allah 99 Namen zu, die zugleich positive Prädikate Gottes darstellen und dem unzulänglichen menschlichen Erkennen eine nähere Qualifikation des grundsätzlich unfassbaren Wesens Gottes erlauben sollen. Regelmäßig wird in den Konferenzen ein Name Allahs meditiert und auf das Pädagogische Handeln bezogen. Wenn „der Geduldige“ ein Name Allahs ist, kann der Lehrer diesen Namen meditieren und daraus die Kraft ziehen, selbst die Gabe der Geduld in sein pädagogisches Handeln verstärkt einfließen lassen.“ (10)
Erzählstoff
Welche Auswahl an waldorfpädagogischem Erzählstoff, an Legenden, Symbolen und Geschichten treffen die Lehrkräfte an den israelischen Schulen und an der Sekem Schule?
Willmann beschreibt wie an der Sekem Schule Gebete, Sprüche und Geschichten aus der arabischen Kultur und dem Islam zum Ausdruck kommen. An den israelischen Schulen wurde sogar ein eigenes Curriculum für die Klassen 1-8 entwickelt. Im zweiten Schuljahr werden zum Beispiel jüdische Legenden großer Rabis erzählt, in der vierten Klasse die Erzählungen der Richter Debora Gideon, Samuel, Josua und im Mittelpunkt der fünften Klasse steht die Davidgeschichte.
Es wird deutlich, dass die Auswahl des Erzählstoffs etwas über die eigene Kultur aussagt. Anhand dieses Beispiel könnte die eigene Aufgabe sein, darüber zu reflektieren, wie wichtig für die Schüler ein solcher Bezug ist, sie beheimatet in Raum und Zeit, ihnen Wertvorstellungen wie in Sekem über die wichtige kulturelle Tugend der Reinheit vermittelt oder wie anhand der großen Rabi im israelischen Kontext Mut und Weisheit zum Ausdruck kommen.
Jahresfeste
Rhythmisch sich wiederholenden Jahresfeste sind ein wichtiger Bestandteil für eine Kultur und für das kindliche „Begreifen“ von Kultur, von Raum und Zeit. Festlichkeiten und Rituale spiegeln kulturell tradiertes Wissen wider und sind daher besonders bei Kulturforschern ein idealer Rahmen, um etwas über die jeweilige Gesellschaft zu erfahren. (11)
Für die Akteure selbst sind es wichtige Momente eines Jahres, die ihnen Halt und Orientierung geben und mithilfe deren sie ihre kulturellen Gegebenheiten - meist unbewusst- ausdrücken.
Vera Hoffmann hat in ihrer Doktorarbeit die Jahresfeste an den Waldorfschulen Kusi Kawsay in Peru und in Nairobi und Kenia untersucht. (12) Die andine Waldorfschule Kusi Kawsay liegt auf über 3000 Metern in der Nähe von Cusco. Die Schule richtet ihren Jahreszyklus nach den alten Ritualen der Andenkultur. Die Schulgemeinschaft begeht zum Beispiel gemeinsam die rituelle Ehrung der „Pachamama“, der Muttererde. Weiter beschreibt Hoffmann die Suche der international ausgerichteten Nairobi Waldorfschule nach neuen Formen. Sie war früher an christlichen Festen orientiert, heute feiert sie ein Lichterfest, in dem Elemente aus allen Weltreligionen zum Ausdruck kommen.
Silviah Njagi, vom Kindergarten an der Nairobi Waldorf School und Dozentin am ostafrikanischen Kindergartenseminar, beschreibt, wie der Übergang von der Trockenzeit zur Regenzeit ein wichtiger Augenblick im Kindergarten und Schule darstellt. „So nehmen wir für den Jahreszeitentisch kahle Zweige, Steine und Ameisen, die in dieser Zeit nach Essen suchen. Und auf einmal, Mitte März, beginnt der starke Regen und innerhalb von zwei Tagen ist alles grün. Das nährt uns und es ist Zeit, mit allen Farben dieser Übergangszeit das Regenbogenfest zu feiern.“ (13)
Ein weiterer Aspekt den Njagi nennt, ist die afrikanische Tradition des Geschichtenerzählens. Sie stellt immer wieder fest, dass es den Studierenden am Ostafrikanischen Lehrerseminar leicht fällt, Geschichten frei zu erzählen. Es ist Teil ihrer Kultur.
Lehrplan auf Kiswahili, Arabisch, Französisch...
Ein „Lehrplan“ an Waldorfschulen ist nicht wie ein gewöhnlicher Lehrplan mit festgelegten Lerninhalten. Es ist ein offenes Konzept, auch kulturell offen und immer an der individuellen, sozialen, regionalen und zeitgemäßen Entwicklung orientiert.
Martyn Rawson beschreibt es folgendermaßen: „Ein Waldorflehrplan nähert sich der Aufgabe an, auf eine ganz andere Art die Kinder und jungen Menschen auf die Herausforderungen in der Welt vorzubereiten. Er sieht Erfahrungen, Tätigkeiten, Themen, Geschichten und Phänomene vor, die für Kinder und junge Menschen eine Lernumgebung bereit stellen, in der sie sich selbst entfalten können, ihre Fähigkeiten schulen, ihre Gefühle pflegen und ihre Beziehung zur Welt, zu anderen und darüber hinaus immer wieder neu festlegen können, um dann neue Ideen zu entwickeln.“ (7)
Es geht immer wieder darum, den Lehrplan in den verschiedenen Kulturen neu zu beleben. Es gilt dabei den eigenen kulturellen Hintergrund mit der Entwicklung der Kinder zusammenzubringen.
Zum Beispiel wurden in Australien die Geschichten der Aborigines sorgfältig von Waldorfpädagogen untersucht, um zu sehen, welche Geschichten in welcher Klassenstufe erzählt werden können. (14)
Ein Lehrplan kann auch gesellschaftshistorische Veränderungen aufgreifen, wie ein Beispiel aus Japan aufzeigt. An der Fujino Steiner School lernen die Schüler in der 4. bis zur 8. Klasse japanische Kalligrafie. Jedoch wird in der 4. bis zur 6. Klasse der typische „gedruckte“ Stil der Kalligrafie, genannt Kaisho, unterrichtet. In der 7. Klasse lernen die Schüler Gyosho, ein „kursiver“ Stil der Kalligrafie. In der 8. Klasse lernen sie den Koso Stil, der nicht mehr so häufig verwendet wird, aber eine Veränderung im Bewusstsein und im künstlerischen Ausdruck widerspiegelt. (14)
Über den Umgang mit dem Lehrplan und den verschiedenen Kulturen schreibt Alain Denjean: „Neulich machte mich eine Deutsch unterrichtende Kollegin darauf aufmerksam, dass sie bei der Behandlung des Nibelungenlieds in der 10. Klasse die Gestalt von Dietrich von Bern ausführlich bespricht, weil er ein großes Ideal für die Jugend verkörpert: Der Sieg über den Feind, wird nicht genutzt, um die eigene Macht und das Selbstbewusstsein auszubauen, sondern er versucht den Gegner zu würdigen und im Frieden mit ihm gemeinsam eine bessere Welt zu gestalten. Nun, sagte sie strahlend, genau diese Haltung dem Menschen gegenüber finde sie bei dem kürzlich verstorbenen Nelson Mandela. In ihrer Freude leuchtete für mich der Reichtum des Lehrplans, der nicht vorschreibt, mit südafrikanischen Schülern das Nibelungenlied zu besprechen, sondern in jeder Kultur Einstiegsmöglichkeiten zu finden, um anthropologische Themen zu behandeln, welche die Seele der Schüler zur rechten Zeit in ihrer Entwicklung weiter führen.“ (15)
Dieses Beispiel ist interessant: einerseits heißt es für die jeweilige Lehrperson in ihrer Kultur, eigene, vor Ort beheimatete Beispiele zu finden, andererseits kann es aber auch bedeuten, aus verschiedenen Kulturen das den Schülern in ihrer Entwicklung angemessene Beispiel zu finden und zugleich auch die Möglichkeit zu bieten, den eigenen Horizont zu erweitern.
Ist ein internationaler Waldorf-Lehrplan denkbar? Christof Wiechert, ehemaliger Leiter der Pädagogischen Sektion am Goetheanum, skizziert anhand von Märchen folgendes Bild: „Die Kriterien für einen Internationalen Lehrplan können nur in abstrakter Form gegeben werden: erstens braucht man eine gründliche Kenntnis des Stoffes und zweitens eine gründliche Kenntnis der Entwicklungspsychologie besonders der anthroposophischen Anthropologie. Für Märchen - aber auch für andere Erzählstoffe – gelten zum Beispiel folgende Kriterien: in einer Geschichte müssen Urbilder, sogenannte Archetypen, vorkommen wie z.B. die böse Hexe, die gute Fee, das unschuldige Kind, die gute Tat, die schlechte Tat etc. Dann sollte eine Geschichte eine Entwicklung aufzeigen, so dass sie sich von einem Anfangs- zu einem höheren Zustand entwickelt, also als eine Art Durchführung, manchmal auch mit einem krisenartigen Charakter. Und schließlich sollte ein Märchen oder eine Geschichte im Guten enden.“ (16) Das bedeutet, dass ein internationale Lehrplan denkbar wäre der aber nicht konkrete Inhaltsangaben vorgibt, sondern Kriterien nennt, mit denen man sich die Inhalte in der jeweiligen kulturellen Region erarbeiten kann.
Inter- oder multi-kulturelle Pädagogik
Als letztes möchte ich auf inter- bzw. multikulturellen Fragen in der Waldorfpädagogik eingehen. Auch das ist vielerorts durch den internationalen Charakter der Schulen oder durch die Aufnahme von Flüchtlingen zu einem wichtigen Thema geworden.
Jürgen Lohmann, Dozent am Hamburger Seminar für Waldorfpädagogik hat mit seiner Studierendengruppe 2012 Fragen der interkulturellen Pädagogik aufgegriffen. Dabei wurden unter anderem Folgendes diskutiert: „Welche Bedeutung hat die Muttersprache für die Identitätsentwicklung des Menschen? Wie vereinbart eine Pädagogik die Ansprüche von Individuum und Gemeinschaft? Wie und wann bin ich als Lehrperson vor dem Hintergrund der eigenen Kulturalität unbewusst hierarchisierend tätig? Worin liegt die Stärke der Unterschiedlichkeit? Was ist Heimat? Welche Rolle spielt die Religionszugehörigkeit und was ist das Verbindende der verschiedenen Religionen?“ (17)
Weitere Fragen zu diesem Thema ergaben sich auch auf einem Workshop der Asienkonferenz 2013. „Welche Kinder wollen wir unterrichten? Wie entwickeln wir in unseren Kindern eine starke Identität, während wir zugleich ihre Offenheit gegenüber anderen Kulturen pflegen? Ist Multikulturalität das Ziel der Waldorfpädagogik? Wenn ja, sollen wir unsere eigene Kultur als Teil des Lehrplans beleben? Wie können wir helfen, dass sich das Kind in seiner eigenen Kultur wohl fühlt? Durch Mobilität? Oder durch Geborgenheit? Wie multikulturell ist die Waldorfpädagogik? Wie multikulturell ist unsere eigene Schule? In einer sich verändernden Gesellschaft tauchen ländliche/urbane Unterschieden in der eigenen Bevölkerung auf. Wie gehen wir damit um?“ (14)
Zum Schluss möchte ich alle dazu anregen, sich auf diese spannende Reflexion über Kultur einzulassen. Rasch wird man merken, dass sich neue Blickwinkel auf die eigenen Gewohnheiten eröffnen und zu frischen Impulsen im Unterrichtsgeschehen anregen.
Gerne würde ich auch über die kulturellen Erfahrungen unserer Leserinnen und Leser hören. Diskutiert mit auf unserem <link internal-link internen link im aktuellen>Forum unter „Kultur und Waldorfpädagogik“
Katharina Stemann ist begeistert vom internationalen Wachstum der Waldorfschulen und den mutigen Menschen, die weltweit Schulen in schwierigen Situationen initiieren. Sie hat Kulturanthropologie studiert und als Mitarbeiterin der „Freunde der Erziehungskunst“ die weltweite Waldorfschulbewegung begleitet. Zurzeit ist sie für die Online-Plattform „Waldorf Ressourcen“ und darüber hinaus für die Pädagogischen Sektion und die Internationale Konferenz der Waldorfpädagogischen Bewegung tätig.
Literatur
(1) Pioniere weltweit, Freunde der Erziehungskunst, Rundbrief Herbst 2016.
(2) Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Suhrkamp Verlag. 1983.
(3) Steiner, Rudolf: Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik. GA 293.
(4) Clifford, James/ Marcus, Georg: Writing Culture: the Poetics and Politics of Ethnography. University of California Press. 1986.
(5) Said, Edward: Orientalism. Random House. 1978.
(6) Hobsbawm, Eric J.: The Invention of Tradition. Cambridge University Press. 1993.
(7) Rawson, Martyn: Immer wieder neu: Waldorfpädagogik. Aus: Vorwort zur chinesischen Ausgabe von “The Educational Tasks and Content of the Steiner Waldorf Curriculum”. Waldorf Ressourcen. Januar 2017
(8) Boland, Neil: im Gespräch mit Karin Smith. Januar 2017.
(9) Boland, Neil: The globalisation of Steiner education: Some considerations. RoSE Journal Vol 6, Dezember 2015.
(10) Willmann, Carlo: Religiöse Erziehung an Waldorfschulen im nichtchristlichen Kontext. RoSE, Vol 5 / Special Issue. August 2014.
(11) Bell, Catherine: Ritual Theory, Ritual Practice. Oxford University Press. 1992.
(12) Hoffmann, Vera: Jahresfeste an Waldorfschulen in nichtchristlich-konfessioneller und multireligiöser Umgebung. Masterarbeit RSUC Oslo. 2015
(13) Njagi, Silviah: Es dreht sich wirklich um das Kind. Waldorf Resources. Juli, 2015.
(14) Rawson, Martyn/ Li, Zewu/ Panosot, Porn: History and Culture Curriculum – A Multi-cultural Approach. Notes of a workshop at the Asian Waldorf Teachers’ Conference. Transcribed and edited by Emily Bulter. Seoul, Korea. 2013.
(15) Denjean, Alain: Lehrplan auf Kiswahili, Arabisch, Französisch..., Rundbrief Pädagogische Sektion, Nr. 51, Ostern 2014.
(16) Wiechert, Christof: Konversation per E-Mail 12./ 14. Oktober 2016.
(17) Lohmann, Jürgen: Interkulturalität: Baustein der Lehrerbildung. Erziehungskunst. Juli 2012.
Weiterführende Literatur
Brater, Michael (et al): Interkulturelle Waldorfschule. Evaluation zur schulischen Integration von Migrantenkindern. Verlag für Sozialwissenschaften. 2009.
Cherry, Ben: Lebst du, was du predigest? Waldorf Resources. Mai 2016.
Davidow, Shelley et al: Decolonising the Classroom – An Indigeneous learning journey of transformation. Journal for Waldorf/Rudolf Steiner Education. Vol. 18. 2016.
Geertz, Clifford: The Interpretation of Cultures. Basic Books. 1977.
Gerding, Lutz: Steinerschule in China? Ein persönlicher Erlebnisbericht. Forum 5. Rudolf Steiner Schule Bern Ittigen Langnau. 2015.
Häuptle, Mary-G.: Was sind die Schätze Deiner Kultur für die Zukunft? Gedanken über die kulturelle Vielfalt und Waldorferziehung. IASWECE. 2015. www.iaswece.org/wp-content/uploads/2015/06/Cultural-DiversityDE.pdf
Keller, Gunter: Cultural Turn und das Zeitalter der Globalisierung. RoSE Vol 5 / Special issue. August 2014.
Schmelzer, Albert: Die multikulturelle Gesellschaft. Eine Herausforderung für die Waldorfpädagogik. Erziehungskunst. Juli 2012.