Mein Besuch der Shakespeare Olympics 2012 in Londons Globe Theater gab mir eine Ahnung von der umfassenden Bedeutung von Shakespeares Werk. Diese kulturellen olympischen Spiele fanden damals parallel zu den olympischen Spielen in London statt. Jedes Theaterstück von Shakespeare wurde von einer Theaterkompanie aus jeweils einem anderen Land in der eigenen Muttersprache aufgeführt.
Bei jeder Aufführung waren Menschen im Publikum, welche die Aufführungssprache verstanden; ja, sie waren wohl genau deswegen zur Aufführung gekommen. Aber der grösste Teil der Zuhörerinnen und Zuhörer verstand die Sprache auf der Bühne nicht und doch waren alle ergriffen und verzaubert. Das Erlebnis von 37 verschiedenen Aufführungen, wovon nur zwei in Englisch waren, bestätigte mir, dass die Faszination von Shakespeares Dramen nicht auf dem Verständnis der gesprochenen Sprache beruht. Vielmehr sprechen Shakespeares Stücke alle unsere Sinne in der Sprache der menschlichen Seele an.
Der hervorragende Shakespeare Darsteller und Regisseur Kenneth Branagh erinnert sich, wie er sich als Jugendlicher bei seinem ersten Besuch einer Aufführung von Romeo und Julia fühlte: „Ich erinnere mich daran, dass ich mich wohl fühlte obwohl ich nichts, oder nur ganz wenig, verstand. Aber ich war hingerissen […] Hier ging es um Jugendliebe, Sex, Strassenbanden, Gewalt […] die feurige Auseinandersetzung der Schauspieler mit der alten Sprache faszinierte mich […] das Ganze erweiterte sich, wie ein grosses Geheimnis, es zog einem unerreichbaren Ort entgegen. Aber das schreckte mich nicht ab. Das grosse Geheimnis würde sich weiter und weiter ausdehnen und sich gleichzeitig von mir zurückziehen – aber teilweise war es genau diese Unerreichbarkeit, die mich in ihren Bann schlug.“ (2)
Branaghs gewaltigen Worte erfassen mehrere Elemente von Shakespeares dynamischer Ausstrahlung; und sie tragen etwas von der Sprache der Sehnsucht in sich. Er spricht davon, „sich im Unverständnis wohl zu fühlen“ und gleichzeitig „hingerissen“ zu sein von der dramatischen Kraft des Schauspiels. Er spricht von der „feurigen Auseinandersetzung“ der Schauspieler mit dem Sprachgeist, welche ihn fortzieht, ihn am fast vom Stuhl reisst, in ihm den Wunsch weckt, das „sich zurückziehende Geheimnis“ zu lüften. Mit seinen Worten weist Branagh auf drei Ebenen von Shakespeares Stücken hin: Sie sind eine Mischung aus Drama, grossartigen Geschichten und reiner Poesie. Er zeigt uns jedoch auch das vierte Element, das zur Kraft von Shakespeares Theaterstücken beiträgt: die Teilnahme der Zuschauerinnen und Zuschauer. Wir, die Zuschauenden, sind es, die uns dem Stück hingeben, unsere Vorstellungskraft mit der Vorstellungskraft der Schauspielerinnen und Schauspieler verbinden und das Theatererlebnis damit erst vollenden. Es liegt in der Natur von uns Menschen, innerlich zu vervollständigen, was in der physischen Welt als unvollständig wahrgenommen wird.
Jedes Jahr liefert uns die neurologische Forschung neue Hinweise, die das alte Wissen bestätigen: Es gibt eine dynamische, kreative Partnerschaft zwischen dem Kunstwerk und seiner Betrachterin. In der Literatur baut der Autor die Geschichte sorgfältig auf; es ist eine Einladung an den Lesenden, an einer Reise der Transformation durch den Text teilzunehmen. Die Leserin und der Leser erfahren, wie die Protagonisten „durch das Leiden geschult werden“. (3) Indem die Lesenden in die Haut der Protagonisten schlüpfen und in dieser bis zum Ende der Geschichte gehen, erweitern sie ihren eigenen moralischen Horizont und lernen, emphatisch zu werden. Die neurologische Forschung belegt, dass dieser Effekt, mehr als bisher angenommen, physisch in unserer Hirntätigkeit verwurzelt ist. (4)
Im Theater wird diese verwandelnde Kraft einer Geschichte durch die Energie des Schauspiels noch zusätzlich verstärkt. Während einer Aufführung sind die Zuschauenden völlig umgeben vom Spiel der Bilder, den Geräuschen und Gerüchen, kurz, vom physischen Erlebnis des Theaterspiels. Wenn dieser Prozess erfolgreich verläuft, können wir unsere „Zweifel vergessen“ und zu Partnern werden im sorgfältig choreographierten Tanz des sich entfaltenden Dramas. Während einer Aufführung eines Stückes von Shakespeare, in der alles auf den Publikumseffekt ausgerichtet ist, können wir uns bewusst werden, dass wir in einem kollektiven aber harmlosen Zauber gefangen sind; wir werden uns der Fülle des menschlichen Lebens mehr als sonst bewusst. Oder wir erleben einfach nur die Freude von der wir immer wussten, dass es sie gibt, die wir aber alleine nicht erleben konnten. (5)
Shakespeare verstand sehr genau, wie ein Stück gestalten sein muss um das Potential der menschlichen Seele zum Klingen zu bringen. Darin liegt die Kraft seines Werkes. In jedem einzelnen Stück liegt die Möglichkeit einer Seelenverwandlung. Dieses Wissen wurzelt in der Herkunft des Theaters und seiner Aufgabe in der Welt; das selbe Wissen kann der inneren Entwicklung von jungen Menschen heute dienen. Brien Masters schreibt über das Theaterspiel in der Waldorfpädagogik: (6)
Von den Wellen, welche an die felsige Küste schlagen bis zu den majestätischen Cumuluswolken über uns; vom blassblauen Himmel eines Sommernachmittags bis zum Feuer des Sonnenuntergangs; vom wilden Sturm bis zur Ruhe des Mondaufganges – eine solche Dynamik bildet die natürliche Kulisse von Cornish Minac (7) einem Freilichttheater in Cornwall, England. Der Zuschauerraum ist in die Klippen in der Nähe von Land's End hineingehauen. Natürlich erwartet man nicht, dass der Donnerschlag jedes Mal mit den Regieanweisungen übereinstimmt! Aber - was immer man auch über Freilichttheater denken mag – eine solche Kulisse zeigt uns ganz deutlich, und in kosmisch grossartiger Weise, das wahre Wesen des Schauspiels. Es ist nichts Materielles oder Messbares, es ist das Element auf welchem die Entwicklung der menschlichen Seele gründet: das Element der Verwandlung.
Eine Schauspielkarriere birgt in sich die Möglichkeit, nicht nur an der Produktion eines Theaterstücks, sondern auch an der Verwandlung teilzunehmen, welche die Aufführung im Publikum bewirkt, an der Alchemie der Seele. Beispielsweise hat das klassische griechische Schauspiel teilweise zur Geburt des Bewusstseins in Europa beigetragen. Der Schauspielunterricht an der Waldorfschule ist zutiefst mit diesem Prozess der Verwandlung verbunden. Jedoch ist der Zweck des Schauspiels in diesem Zusammenhang nicht, im Publikum eine Verwandlung herbeizuführen, – obwohl das Publikum bewegt sein mag – sondern in den Schauspielenden selbst, in den Schülerinnen und Schülern. Sie treten in den Prozess sozusagen als Raupen ein und verlassen ihn als Schmetterlinge. Ausserdem – in der Gefahr, die Metapher zu überstrapazieren – strahlt die Lehrperson sozusagen das Sonnenlicht aus, welches den langen und anstrengenden Prozess ermöglicht, den jede Theaterproduktion im Kokonstadium durchmachen muss.
Dieses archetypische Bild eines Verwandlungsprozesses, symbolisiert durch die Schönheit des ausgeschlüpften Schmetterlings, steht für die Freude, an einer Shakespeare Produktion beteiligt zu sein; sei es als Zuschauerin oder Schauspieler, als Regisseurin oder Designer, als Schülerin oder als Wissenschaftler.
Dieses Bild steht auch im Zentrum eines neuen Buches von Brien Masters und Josie Alwyn über esoterische Aspekte in Shakespeares Werk. Es ist 2016 unter dem Titel Educating the Soul im Temple Lodge Verlag erschienen. (Keine deutsche Übersetzung erhältlich. Anm. der Red.)
Shakespeare war sich bewusst, dass nur Imagination, Inspiration und Intuition die fortschreitende Technologisierung, die politischen Gegebenheiten der „alten Welt“, die Kauflust, die den Menschen blendet, und den Materialismus ausgleichen können.
Brien Masters sagt: „Dass Shakespeare dies verstanden hat, erkennt man an seiner Sprache, den Ereignissen, der Substanz, der Struktur und der Weltanschauung, welche in seinen Stücken ausgedrückt ist. Etwas weniger offenkundig ist vielleicht das Heilmittel, welches er vorschlägt: einen Gegenpol zum sich verändernden Bewusstsein zu schaffen. Darin war er seinen Zeitgenossen weit voraus. Er will sicherstellen, dass die Türe, welche sich seit längerem unaufhaltbar für Imagination, Inspiration und Intuition schliesst, sich nicht unwiderruflich schliessen wird.“ (8)
Vielleicht haben wir damit eine Antwort auf die Frage nach Shakespeares anhaltender Faszination gefunden: Er hält die Türe zur Imagination bis heute für uns offen, so dass wir hinüberwechseln können, wie es uns gefällt, zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Welt. Die Antwort könnte ganz einfach sein, dass Shakespeares Stücke der menschlichen Seele einen Spielraum geben (im Kampf oder in der Liebe) und dass wir im Fest zu seinem 400. Todestag das Licht der Freude feiern, welches sich unermüdlich an die Menschen verschenkt.
Aus New View Magazine, mit freundlicher Genehmigung der Autorin <link http: www.newview.org.uk>www.newview.org.uk
Josie Alwyn lebt in Lewes, England und ist Co-Direktorin des Waldorflehrerseminars in London.
Aus dem Englischen von Karin Smith
Literaturangaben
(1) Aus der Broschüre für das Shakespeare Festival, 21. -24. April 2016, Rudolf Steiner House, London, organisiert von der Anthroposophischen Gesellschaft in Grossbritannien und der Sektion für Schöne Wissenschaften der Hochschule für Geisteswissenschaften am Goetheanum
(2) The Guardian Website: Gespräch mit Kenneth Branagh über seine neue Theaterkompanie 2015: <link http: www.theguardian.com stage oct kenneth-branagh-an-audience-of-100000-makes-for-a-different-feeling-in-the-tights>www.theguardian.com/stage/2015/oct/09/kenneth-branagh-an-audience-of-100000-makes-for-a-different-feeling-in-the-tights
(3) “Schooled by the pains of this world into being or becoming a soul”. Worte des Irischen Dichters Seamus Heaney (1939-2013) über das Werk von John Keats in einem Programm für BBC Radio 4.
(4) Zum Beispiel in Keith Oatleys Buch Such Stuff as Dreams, Wiley-Blackwell, Chichester,2011. (Keine deutsche Übersetzung erhältlich. Anm. d. Red.)
(5) Nach Gabriel Josipovici (über Virginia Woolf) in The Singer on the Shore, p.77 (2006)
(6) Aus dem Editorial der Zeitschrift Child and Man, Sommer 1982, vol.16, no.2.
(7) Das Minack Theater ist ein Freilichttheater in Porthcurno, in Cornwall, England. Es wurde auf einem Felsvorsprung aus Granit direkt über dem Atlantik gebaut. Minack stammt aus der kornischen Sprache und bedeutet “steiniger oder felsiger Ort”. Das Minack wird seit den 1930er Jahren als Theater genutzt und befindet sich auf der internationalen Liste der spektakulärsten Theater.
(8) Alwyn, J. und Masters, B. (2016) Educating the Soul, on the Esoteric in Shakespeare. Temple Lodge. S.3 (Keine deutsche Übersetzung erhältlich. Anm. d. Red.)