„Würde man für solche Dinge im Leben mehr Beobachtungssinn entwickeln, so würde jene Scheußlichkeit in der Schule sich nicht entwickeln, die man heute ja nun leider so oft sieht. Man sieht fast kein Kind mehr, das die Feder oder den Griffel ordentlich hält. Irgendwie wird der Griffel oder die Feder falsch gehalten, weil man nicht Sinn dafür hat, richtig zu beobachten. Das ist überhaupt schwer. Das ist auch in der Waldorfschule nicht leicht. Man kommt sehr häufig in eine Klasse hinein, wo man erst ordentlich aufräumen muss in bezug auf Federhaltung, Griffelhaltung und so weiter. Man sollte in dieser Beziehung gar nicht außer acht lassen, dass der Mensch ein Ganzes ist, dass der Mensch also Geschicklichkeit nach allen Richtungen hin erwerben muss. Also Lebensbeobachtung, das ist es, was auch für die Kleinigkeiten des Lebens der Lehrende, der Erziehende braucht. Und wenn Sie durchaus etwas in Grundsätze geformt haben wollen, so nehmen Sie das als den ersten Grundsatz einer wirklichen pädagogischen Kunst: Du musst das Leben in allen seinen Äußerungen beobachten können.“ (1)
Rudolf Steiner konnte damals schon aufzeigen, wie wichtig der richtige Umgang mit dem Zeichenstift ist. Heute, 100 Jahre später, sehen wir immer mehr Kinder, die Probleme mit der Bewegung und den feinmotorischen Fähigkeiten haben.
Im Folgenden werden Übungen im Formenzeichnen vorgestellt, welche den Prozess der Bewegungsentwicklung in Arm und Hand nachvollziehen. Dieser Prozess ist Voraussetzung für das Erlernen von Zeichnen und Schreiben. Die Übungen können von der ersten bis dritten Klasse oder auch in allen Altersstufen in einer Einzelstunde aufgegriffen werden. Zuerst führen die Kinder große Bewegungen aus, also von der Schulter ausgehende grobmotorische Gesten mit dem ganzen Arm, während die freie Hand das Papier festhält. Als nächstes entsteht der Bewegungsimpuls im Ellbogen, während der Oberarm in einer entspannten Ruheposition bleibt. Anschließend kommt die Bewegung hauptsächlich aus dem Handgelenk und zum Schluss führen nur die Finger die Bewegung aus. Dabei suchen sich die Kinder immer selbst die Farben aus.
Die erste Übung: DIE KRITZELÜBUNG, aus Audrey McAllens „Extrastunde“ (2)
Auf dem Schreibtisch wird ein großes Stück Papier festgeklebt oder von der freien Hand festgehalten. Das Kind hält 2-3 Wachskreiden im "Palmargriff" in der geballten Hand und zeichnet damit ohne Unterbrechung Wirbel auf das Papier. Rechtshänder bewegen ihre Hand im Gegenuhrzeigersinn (in Richtung Schwerkraft, wie wenn man einen schweren Teig umrührt) und Linkshänder im Uhrzeigersinn. Das machen die Kinder einige Minuten lang. Dabei bleiben die Füsse flach auf dem Boden, das Papier liegt in der Mitte des Tisches und das Kind sitzt weit hinten auf dem Stuhl, der genau in der Schreibtischmitte steht. Der ganze Arm schwingt über das Papier.
Die zweite Übung: DER STRASSENKEHRER
Ein genauso großes Stück Papier wie in der ersten Übung wird von der freien Hand festgehalten, während die Schreibhand in der unteren rechten Ecke für Rechtshänder (bzw. linken Ecke für Linkshänder) gebogene Linien hin und her zeichnet. Der Ellbogen kann auf der Papierecke der jeweiligen Seite abgelegt oder am Körper gehalten werden, so dass der Unterarm Kontakt mit dem Papier hat und darauf hin und her fegt. Das Papier wird jedes Mal so gedreht, dass am Ende jede Ecke mit einem Kurvenmuster versehen ist.
Die dritte Übung: DIE WELLEN
Ein kleineres Stück Papier – etwa in der Größe wie beim Formenzeichen – wird wie zuvor von der freien Hand festgehalten. Zuerst werden wie in der Straßenkehrer-Übung in jeder Ecke Kurven gezeichnet. Dann wird eine wellenförmige Linie über den Bogen hinzugefügt. Sowohl Rechts- als auch Linkshänder beginnen unten links am Bogen. Der Unterarm bleibt auf dem Papier liegen, während die Hand sich aus dem Handgelenk heraus bewegt. Danach soll unterhalb der gebogenen Linie eine wellenförmige Linie gezeichnet werden. Die Kinder können die wellenförmige Linie mehrmals nachzeichnen.
Die vierte Übung: DIE SCHLEIFEN
Die gleiche Papiergröße wie in Übung 3 wird hier benötigt. Wieder beginnen wir mit der Straßenkehrer-Übung. Dann fangen wir an, im Gegenuhrzeigersinn Schleifen oberhalb des Bogens zu zeichnen, beginnend von links unten. Danach werden unterhalb des Bogens, wieder beginnend von links, die Schleifen im Uhrzeigersinn gezeichnet. Die Bewegung erfolgt aus dem Handgelenk.
Nachdem eine Übung beendet ist, können auf das gleiche Papier auch Wörter oder Sätze geschrieben werden.
Die fünfte Übung: DIE FEDERN
Wir nehmen wiederum die gleiche Papiergröße wie in Übung 3 und beginnen mit der Straßenkehrer-Übung. Danach zeichnet man sorgfältig und langsam oberhalb des Bogens kurze schraffierte Linien ein, die Strichrichtung von oben nach unten, um einen „gefiederten“ Eindruck des Bogens zu erwecken. Als nächstes werden die gleichen Linien, auch von oben nach unten, unterhalb des Bogens eingezeichnet. In beiden Fällen beginnen wir von links unten am Bogen und arbeiten nach rechts. Bei dieser Übung bleibt die Hand ziemlich still und nur die Finger bewegen sich.
Die sechste Übung: DER REGENBOGEN
Jetzt werden ein kleineres Papier und Farbstifte verwendet. Die Kinder sollen einen Regenbogen oder mehrere kleine Regenbögen mit einer Bewegung aus dem Handgelenk zeichnen und dabei den Arm ruhig auf dem Tisch liegen lassen. Prüfen Sie die Stifthaltung und bauen Sie, wenn nötig, weitere Übungen für die Fingerbeweglichkeit ein.
Alle oben beschriebenen Übungen können mit einem Farbstift und mit kleineren Bewegungsgesten aus dem Handgelenk wiederholt werden.
Schraffierungstechniken:
In den frühen Jahren der Waldorfpädagogik wurde in den unteren Klassen auch eine Schraffierungstechnik verwendet. Einige Kollegen behaupten heute, dass diese Technik erst ab der siebten oder achten Klasse verwendet werden sollten. Ich denke, dass diese Aussage auf einem Missverständnis und einer Verwechslung mit der Schwarz-Weiß Schraffierungstechnik beruht.
Schon ab der ersten Klasse können wir mit Kindern die „Regentropfen“ zeichnen , so dass kleine diagonale Farbstriche von oben nach unten und von rechts nach links gezeichnet werden, aber nicht umgekehrt, denn der Regen fällt ja auch immer von oben nach unten. Nach ein paar Übungsstunden können die Erstklässler die Techniken in einem kleinen Bild anwenden, zum Beispiel um das grüne Gras oder den blauen Himmel zu malen. Einige wollen immer gleich das ganze Bild damit zeichnen. Man sollte dafür nur kleine Papiergrößen (A6) verwenden.
Von den Kindern erfordert die Technik, ihre Handbewegungen und die erzielten Ergebnisse sorgfältig zu beobachten. Sie können damit keine Konturen zeichnen und diese anschließend ausmalen. Durch diese Technik wird es für sie einfacher, Bilder von Tieren, Bäumen etc. zufriedenstellend zu zeichnen. Während der ganze Arm auf dem Tisch liegen bleibt, hilft die Technik auch, die Beweglichkeit des Handgelenks zu fördern. Die diagonal verlaufende Linie von rechts nach links stärkt die objektive Wahrnehmung durch den Empfindungsleib. Es hat sich gezeigt, dass eine Klasse nach einer Pause mit wilden Spielen im Freien, nach 5 bis 10 Minuten mit dieser Technik wieder zur Ruhe findet.
Quellen:
Steiner, R. (1924): Die Kunst des Erziehens aus dem Erfassen der Menschenwesenheit. 2. Vortrag. Torquay 13. August 1924. GA 311
- McAllen, A. (2012): Die Extrastunde: Zeichnen und Bewegungsübungen für Kinder mit Schwierigkeiten im Schreiben, Lesen und Rechnen. Verlag Freies Geistesleben. Stuttgart
Aus dem Englischen von Katharina Stemann und Beate Schram