In der Natur begegnet der Mensch dem Göttlichen nur mittelbar. Er kann die Weisheit, Schönheit und Erhabenheit der Natur ehrfürchtig bestaunen, er kann sie als eine Schöpfung auffassen, aber eine unmittelbare Gotteserfahrung aus den Dingen und Wesen der Natur heraus wird es nicht geben, denn letztendlich wirken in der Natur die rational völlig nachvollziehbaren Naturgesetze. Und da, wo sie wirken, kann zugleich keine moralische Kraft wirken. Gnade und Nächstenliebe sucht man hier vergeblich. (Die berechtigte Frage, ob und wie eine Brücke vom Geistigen in die natürliche Welt möglich sei, ist eine entscheidende, Steiner nennt sie die Kardinalfrage, aber an dieser Stelle nicht zu erörternde, da sie den Rahmen dieser Darstellung sprengen würde).
Moralische Kräfte wirken in der Menschenbegegnung. Güte, Vergebung, Liebe sind nur hier, nicht in der Natur erfahrbar. Sie sind aber zugleich Kräfte, die dem Göttlichen zugeschrieben werden. Das Göttliche kann nur so in der Welt wirksam werden, dass es durch die Seele eines Menschen gezogen und durch ihn in die Welt getreten ist. Menschenbegegnung ist mithin in ihrer reinsten Form eine religiöse Erfahrung. Dass gerade auch das Diabolische auf diesem Wege in die Welt tritt, falsifiziert die These nicht, sondern belegt nur, dass Himmel und Hölle für die Erfahrbarkeit immer nur durch das Seelenleben eines Menschen in die Welt treten und nur auf diesem Wege Wirklichkeit erlangen können.
Die unterschiedlichen Religionen sind, solange sie Bekenntnisse formulieren und damit bestimmte Glaubensinhalte postulieren, ausnahmslos alle immer nur Teilaspekte einer universell zu denkenden Religion. Wer aus dem Geist der Bekenntnisreligion die Frage nach der richtigen oder letztendlich wahren Religion stellt, dem kann nur im Sinne der Lessing'schen Ringparabel mit Schiller geantwortet werden: "Die Weltgeschichte ist das Weltgericht."
Für das junge Kind ist die Trennung von Naturgesetz und Moral (noch) keine Realität. Es lebt zu Recht in der Empfindung, dass die Welt, die Natur, göttliche Schöpfung sei. Das ist eine religiöse Grundstimmung des Kindes der Welt gegenüber, und es fällt leicht, aus ihr heraus Dankbarkeit in die Kinderseele einzupflanzen. Im folgenden Jahrsiebt besteht die Aufgabe des Pädagogen darin, auf der Grundlage der Dankbarkeit die Liebe im allgemeinsten Sinne zu erwecken. Aus Dankbarkeit und Liebe entsteht in der Seele von selber das Pflichtgefühl, das Bedürfnis, moralisch in der Welt zu handeln. Es kann nicht verordnet werden. Dieses weitverbreitete irrtümliche Verordnen nennt Rudolf Steiner den Ofen-Imperativ: "Du bist ein Ofen, dein Daseinszweck ist es, das Zimmer zu wärmen, also, wärme!" (i) Dieser Aufforderung kann der Ofen nicht folgen. Würde man ihn aber mit Brennstoff befüllen und entzünden, käme er seiner Pflicht ganz von alleine nach. Entsprechend kann man einem Menschen nicht verordnen, er solle sich religiös-moralisch verhalten. Man kann aber den Brennstoff dafür in ihn legen und entzünden, nämlich Dankbarkeit und Liebe, dann entwickelt sich das Pflichtgefühl in Freiheit aus der Tiefe der menschlichen Individualität von selber. Und zwar dann, wenn dem Menschen die Trennung von Naturgesetz und Moral allmählich bewusst wird. Mit Dankbarkeit und Liebe sind auch die zwei Kräfte im Menschen veranlagt und verankert, die ihm ermöglichen, diese Trennung oder diesen Bruch im Weltbild zu überwinden und das unmittelbar erfahrbare Göttliche nicht mehr in der Natur, sondern im Mitmenschen zu suchen. Wenn dieser Schritt nicht gegangen werden kann, liegt hierin der Grund für das allmähliche Ersterben des Religiösen in der Seele oder die Lebenspraxis einer nicht ganz aufrichtigen "Festtagsreligion", die dann im Lebensvollzug des Alltags nicht bestehen kann.
Überhaupt steckt in diesem Ansatz der Schlüssel zum Befrieden der religiösen Frage, wohingegen aus dem Betrachten und Betonen der Bekenntnisinhalte der Religionen schnell unvereinbare Positionen eingenommen werden müssen. Für die Waldorfschulen ist dieser Ansatz essentiell, denn er ermöglicht das Ausgestalten der pädagogischen Idee der Schule in jedem Kulturkreis der Erde bei gleichzeitiger Pflege des Religiösen. Dieses allerdings ist für die Idee unabdingbar. Dass es sich je Kulturkreis partikularisiert und differenziert, darf als Bereicherung empfunden werden.
i Rudolf Steiner, Vortrag vom 12. März 1908, GA 56
Stefan Grosse ist Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen in Deutschland. Seit 1984 Klassenlehrer in Esslingen, seit 1986 Lehrer für freien Religionsunterricht. Mitglied im deutschen und im internationalen Religionslehrergremium der Freien Waldorfschulen.