Charakteristische Wirkungen der elektronischen Medien sind, dass sie:
• Informationen extrem schnell, also jederzeit und sofort verfügbar machen.
• Das Zeitgefühl bei der Nutzung verschwinden lassen.
• Mit minimalem körperlichem Aufwand den Schein von Bewegung (in Bildern, Spielen, Filmen etc.) entstehen lassen.
• Die aktive Aufmerksamkeit häufig durch die von außen erzeugte Bilder- und Informationsflut ersetzen.
• Statt dem gedanklichen und wahrnehmungsgestützten Verfolgen von Zusammenhängen auf „Weblinks“, also programmierte Assoziationen, setzen.
• Langeweile überspielen.
• Fertige Urteile in Form einer nicht endenden Informationsüberflutung an die Stelle von selbst gebildeten Urteilen oder Begriffen setzen.
• Das langsame und gründliche Entwickeln von Gedanken im wechselseitigen Austausch durch häppchenweise Kurznachrichten ersetzen, die mehr auf den assoziierten Effekt als auf den Erkenntnisgewinn und die Wahrnehmung des Gegenübers gerichtet sind.
• Sprache zu Kürzeln oder Symbolen (Icons) verkürzen.
Dem stehen viele sinnvolle Anwendungen gegenüber, aber hier geht es darum, wie diese genutzt werden können, ohne dass Abhängigkeiten oder andere ungewollte Begleiterscheinungen in den Vordergrund rücken.
Auf welche Fähigkeiten kommt es also an und wie können sie gebildet werden?
• Durch eine aktive Sinnesschulung kann die Wahrnehmungsfähigkeit differenziert angeregt werden.
• Die Aufmerksamkeit kann durch Beobachtungsschulung über kurze Momente hinaus aufrechterhalten werden.
• Die sich bildende Vorstellungs - welt der Kinder kann durch die Schulung der Fantasie zum schöpferischen Instrument eines Bewusstseins werden, das nicht nur Gedanken reproduziert, sondern das Erkannte weiterspinnt (und denkt). Fantasie ist der beste Schutz vor wesenlosen Fantasy-Welten.
• Viel kommt darauf an, die eigene Körperlichkeit im Raum und in der Zeit zu erfahren und sich im eigenen Körper zu beheimaten.
• Die Hände müssen als das entdeckt werden, was sie sind: die menschlichen Freiheitsinstrumente schlechthin, mit denen man „alles“ tun kann, was man will.
• Klassenbibliotheken sind Anregungen zur sinnlichen Erfahrung des Lesens und sie regen zu echten Recherchen an, bei denen nicht Weblinks, sondern echte Fragen zum Ziel führen.
• Über gemeinsame Tätigkeiten können die Kinder entdecken, wie das Zusammenwirken mehr hervorbringen kann als die Summe der einzelnen Aktivitäten.
• Erfahrungen mit den unterschiedlichsten „analogen“ Ausdrucksmitteln und Medienträgern schaffen das Unterscheidungsvermögen für die Qualitäten verschiedener Medien und ihrer Träger (Papier oder Knetwachs, Wachsstifte oder Wasserfarben, Musikinstrumente, Ton, Holz, etc.).
• Der „Dreischritt“, der vom aktiven Hören oder Handeln über das beschreibende Gestalten bis zum erinnernden Erkennen geht, schafft die Grundlage für ein selbstständiges, aktives Lernen.
• Die Kinder müssen die Erfahrung von Zeit und Rhythmus machen, indem sie einen atmenden Unterricht erleben, warten lernen, Naturprozesse begleiten (Tierpflege und Kräutergarten 1. Klasse, Landbauepoche 3. Klasse, Schmetterlinge 5. Klasse, Gartenbau, Bienen etc.) und erleben, dass Arbeiten immer zu einem Abschluss (Höhepunkt) geführt werden, sodass sich die Anstrengung lohnt.
Kurz: Die Kinder sollten in den ersten Schuljahren mit Materialien umgehen, welche die ganze Vielfalt ihrer Sinne ansprechen, vom Geruch über die Farben bis zum Tastsinn. Dies alles ist in den Methoden und Traditionen der Waldorfschulen tief verankert. Im Unterschied zu früher finden viele dieser Tätigkeiten für viele Kinder aber zunehmend nur noch in der Schule statt und gewinnen daher zusätzlich eine sozialtherapeutische Funktion.
Mit Bezug auf das vorher Geschilderte kann man sagen:
• Die Erfahrung von Zeitprozessen steht dem Verschwinden der Zeit im Bereich der elektronischen Medien gegenüber.
• Die Schulung der Aufmerksamkeit, die Erfahrung sinnvoller Zusammenhänge durch Beobachtung und die eigene Begriffsbildung im „dreistufigen“ Lernen sind die Voraussetzung, um die assoziativen Zufallsfunde im Internet im Kontext beurteilen zu können.
• Die Bewegungserfahrungen und taktile Geschicklichkeit sind das Gegenstück zu der körperlichen Erstarrung beim Benutzen von Computern.
• Die Gemeinschaftserfahrungen in der Wahrnehmung der Arbeitsergebnisse der Klassenkameraden sowie in gemeinschaftlichen Aktionen (Musik, Theater, Eurythmie, Handwerk etc.) vermitteln die Erfahrung echter Begegnung und setzen den elektronisch gesteuerten Kommunikationsformen reale Beziehungen entgegen.
• Der lebendige Umgang mit der Sprache in vielerlei Formen hebt sie über das rein informative Austauschen von Nachrichten oder Urteilen hinaus und vermittelt die Erfahrung der echten Wesensbegegnung.
Um das zwölfte Lebensjahr herumentdecken die Kinder zunehmend,wie sie sich der Welt reflektierendund mit Blick auf Kausalitäten gegenüberstellenkönnen – und wollen. Das ist der Zeitpunkt, zu dem auch die bewusste Auseinandersetzungmit den elektronischen Medienbeginnen kann und sollte.
Die Schule ist heute vermutlich dereinzige Ort, an dem die Kinder täglichüber mehrere Stunden Erfahrungenmachen können, die durchweg aufeiner unmittelbaren, sinnlichen undseelischen Begegnung mit der Welt und den sie umgebenden Menschenbasieren. Sie kann ein Erfahrungsfeldsein, an dem sich die Kinder ungehindertmit der analogen, also nichtvirtuellen Welt auseinandersetzenkönnen und zugleich ihre Begegnungsmöglichkeitenmit anderenKindern und Erwachsenen erweitern.
Insofern bedeutet der Verzicht aufelektronische Medien in diesem Alter keine Verarmung, sondern einen Gewinn an Weltnähe und Welt(zu)gewandtheit.Es geht nicht um weniger, sondern um mehr Aktivität, nicht um eine Einschränkung der Erfahrungsmöglichkeiten,sondern um eine erweiterteund gesättigte Verbindung mit der Welt.
Henning Kullak-Ublick, von 1984 bis 2010 Klassenlehrer an der FWS Flensburg; Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen, den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners und der Internationalen Konferenz der Waldorfpädagogischen Bewegung.
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Diese Auszüge erscheinen in dem Reader "Struwwelpeter 2.0" in Kooperation des Bundes der Freien Waldorfschulen und der Aktion mündige Schule. Die AmS setzt sich für Freiheit im Bildungswesen ein und initiierte 1995 die erste Volksinitiative „Schule in Freiheit“ (www.freie-schule.de), später unterstützte sie die gleichnamigen Initiativen in Berlin und Brandenburg. Freiheit hat eine äußere und eine innere Seite. Erstere schafft die Bedingungen, Letztere die Substanz. Gemeinsam ist beiden, dass es sie nicht einfach gibt, sondern dass sie immer wieder neu erobert werden wollen. Medienmündigkeit ist eine der Freiheitsfragen unserer Zeit.
Die Broschüre (siehe "Struwwelpeter 2.0") wendet sich insbesondere an Erziehende und Lehrkräfte, kann aber auch von interessierten Eltern und Schülern verstanden werden, weil sie weitgehend auf Fachterminologie verzichtet. Es versteht sich von selbst, dass diese Skizze ein „work-in-progress“ ist, der sich kontinuierlich weiterentwickeln muss und wird. Vor allem möchte sie den Erziehern und Lehrern Mut machen, sich aktiv mit einer der großen pädagogischen Herausforderung unserer Zeit auseinanderzusetzen.
Das Autorenteam – Franz Glaw, Dr. Edwin Hübner, Celia Schönstedt und der Unterzeichner – gehört der Arbeitsgruppe „Medienmündigkeit und Waldorfpädagogik“ an, die seit 2012 arbeitet. Außer den bereits Genannten gehören dem Arbeitskreis auch Christian Boettger, Klaus-Peter Freitag, Andreas Neider, Florian Osswald-Muller, Dr. Martin Schlüter und themenbezogen Dr. Paula Bleckmann an.
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