Hier finden Sie mehr Informationen zur Tagung<link www.paedagogik-goetheanum.ch/International-Conference-Transitions.6416.0.html; "Übergänge in der Kindheit"</link>.
Das hohe Ziel der Waldorfpädagogik, „den ganzen Menschen zu erziehen“, fragt aus sich selbst heraus nach einer Erzieher- und Lehrer-Haltung, die selbst die Qualität der Ganzheitlichkeit enthält. Wer in der Dynamik des Unterrichtens steht, erlebt in jedem Augenblick die Herausforderung, einen inneren Massstab für die jeweilige Situation zu finden. Diese stetige Verortung und Urteilsfindung ist umso lebendiger und sicherer, je reicher das ganzheitliche Menschenbild ist, das sich der Erziehende erworben hat.
Nehmen wir allein das heute brisante Beispiel der „Verfrühungen“ und „Verspätungen“: Auf der einen Seite ist deutlich zu beobachten, dass eine gedanklich intellektuelle Wachheit in der Kindheit früher auftritt. Im Verhältnis dazu kommen motorische und seelische Fähigkeiten oft deutlich später zur Reife. Dort, wo in diesem Auseinanderklaffen, in dieser Dissoziation die frühe Gedankenwachheit nur partiell als „Lernpotential“ des kleinen Kindes ergriffen wird, entstehen vielerorts „Kleinkind-Lernprogramme“. So empörten sich Eltern vor einigen Monaten in einer Schweizer Zeitung: „Nun gibt es schon Noten im Kindergarten! – Die Normierungsbemühungen in den Schulen nehmen derart zu, dass nun schon auf der Kindergarten- Stufe Lernberichte erstellt werden. ...“iAus der Perspektive der Waldorfpädagogik ist diese Tendenz nur schmerzlich zu ertragen, da sich aus dem Blick auf die Ganzheit der Biographie ein anderer, konträrer Standpunkt ergibt.
Sich kreuzende Entwicklungsströmungen
Im Vortrag vom 14. März 1913 stellt Rudolf Steiner das Phänomen der Verfrühung in den Zusammenhang mit zwei unterschiedlichen Entwicklungsströmungen des Menschen. Zunächst schildert er die Entwicklung in 7-Jahres-Phasen, wie es in der Schrift „Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft“ ausgeführt ist: – von der physischen Geburt zum Zahnwechsel und zur Geburt des Astralleibes in der Erdenreife. Diese Verwandlung des Menschen in 7-Jahres-Schritten wird beschrieben als bewirkt und gelenkt von hohen geistigen Wesenheiten: „Das ist so recht die fortschreitende Evolution, die da von sieben zu sieben Jahren verläuft, so dass wir sagen können, die eigentlich fortschreitenden göttlich-geistigen Mächte, die leiten und lenken diese Evolution von sieben zu sieben Jahren.“ii
Würde die kindliche Entwicklung einzig von diesen Mächten inspiriert, so würde das Kind noch viel länger eingebettet in geistige Kräfte erscheinen und es würde sich aus dem Träumerischen erst nach und nach bis hin zum 21. Jahr das eigentliche Ich-Bewusstsein herausarbeiten. Diese menschliche Entwicklung gemäss der höheren Wesen wird nun von einer zweiten geistigen Strömung durchkreuzt, die ausgeht von den luziferischen Mächten. Sie bewirken, dass der Mensch schon viel früher im 3./4. Lebensjahr zu einem Bewusstsein seiner selbst gelangt: „Es ist der Zeitpunkt, bis zu dem der Mensch im späteren Leben sich zurückerinnert. ... Dass wir so frühzeitig zum Selbstbewusst- sein kommen, dass wir so frühzeitig zu uns ‚Ich‘ sagen, das ist lediglich das Ergebnis der luziferischen Kräfte, die in den Menschen hereinwirken. ... Das Bewusstsein von Selbständigkeit, von innerer Individualität und Persönlichkeit erlangen wir durch die zweite Strömung. So sehen wir zugleich, dass es weisheitsvoll ist, dass diese zweite Strömung sich in uns hineinergiesst.“iii
Beobachten und beschreiben wir nun, wie sich das Kind im 3./4. Jahr seine frühe individuelle innere Selbständigkeit erringt [siehe: <link www.waldorf-resources.org/de/artikel/anzeige/archive/2014/09/08/article/transitions-as-developmental-dynamics-between-dissolution-and-re-birth-part-one/>Claus-Peter Röh: Übergänge als Entwicklungs-Dynamik zwischen Auflösung und Neugeburt</link>], so können wir aus ganzheitlicher Sicht auf die sich überkreuzenden Entwicklungsströmungen den Massstab für unseren Erziehungsansatz finden: Würden wir die früh auftretenden Bewusstseins- und Gedächtniskräfte aufgreifen oder gar forcieren, so würden wir der luziferischen Strömung zuarbeiten. Entscheiden wir uns dagegen bewusst für eine Orientierung hin zur Entwicklung in 7-Jahres-Rhythmen, so arbeiten wir den fortschreitenden Wesenheiten der Menschheitsentwicklung in die Hände: indem die Entwicklung des physischen Leibes bis zum Zahnwechsel in eine gesundende, von Lebensrhythmen getragene, fördernde Umgebung gestellt wird, bildet die Erziehung einen ausgleichenden, tragenden Grund für den Strom der Bewusstseinsentwicklung.
Auch im 2. Jahrsiebt nach der Einschulung wird der Strom der fortschreitenden Entwicklung des Menschen von einer anderen Strömung durchkreuzt. Im 9./10. Lebensjahr erlebt das Kind jenen inneren Umbruch, der sein ganzes Verhältnis zur Welt verwandelt: Das Ich-Bewusstsein verdichtet sich so stark, dass die vorherige kindliche Verbundenheit mit allem Umgebenden durchbrochen wird. Der junge Mensch erlebt sich nicht mehr in der Welt, sondern ihr gegenüber
und sucht nun nach dem eigenen Verhältnis zu den Dingen [siehe: <link www.waldorf-resources.org/de/artikel/anzeige/archive/2014/10/01/article/transitions-in-the-human-temporal-organism-part-two/>Claus-Peter Röh: Übergänge in der Perspektive des menschlichen Zeitorganismus</link>]. Diese zweite Durchkreuzung des Entwicklungsstromes beschreibt Rudolf Steiner in seiner Qualität der Verdichtung und Festigung als einen ahrimanischen Ausgleich zum luziferischen Bewusstseinsimpuls des 3./4. Lebensjahres. Lag die Gefahr im 3./4. Jahr in einem partiellen, einseitigen Aufgreifen der Gedächtniskräfte, so besteht sie in dieser Zeit des ersten Rubikon in einem partiellen Erfassen der früh selbständigen Urteilsgewohnheit: Würden wir uns als Erzieher in diesem Kindesalter aus der Lebendigkeit des Lernprozesses so herausziehen, dass wir das Kind möglichst früh den eigenen Urteilen überlassen, so würden wir wiederum den ahrimanischen Kräften zuarbeiten: „
Wir können nun dasjenige vollbringen, was dem Ahriman den grössten Gefallen tut, ... wenn wir uns sagen: Das Kind muss in dieser Zeit möglichst so abgerichtet werden, dass es überall zu einem eigenen, selbständigen Urteil kommt. – ... Man stellt sogar Rechenmaschinen hin, damit die Kinder nicht einmal veranlasst werden, das Einmaleins ordentlich gedächtnismässig zu lernen.“iv
Blicken wir nun aus ganzheitlicher Perspektive auf diese zweite Durchkreuzung, im 9./10. Jahr, so wird deutlich, auf welche Weise sich die Waldorfpädagogik auch hier mit dem Strom der fortschreitenden menschlichen Entwicklung verbindet: In Anerkennung dieses weisheitsvollen Impulses zur Selbständigkeit stellen sich Lehrerinnen und Lehrer als ganzer Mensch so entschieden, herzlich und fachkundig in den Unterricht, dass sie den Schülern zur geliebten und respektierten Autorität werden können. Von der Schöpfungsgeschichte bis zur Handwerks-, Rechen- und Schreibkunst wird der Mensch des jungen Menschen Lehrer.
Zusammenfassend zeigt sich bei den genannten Übergängen, wie sich aus einer Gesamtperspektive der menschlichen Entwicklung neue Massstäbe für den pädagogischen Umgang mit dem Phänomen einer verfrühten oder verspäteten Entwicklung ergeben. Einzelne kompensatorische, gesundende Wirkungen ergeben sich aus einer ganzheitlichen Orientierung:
Zur Bedeutung der Phantasie in der Mittelstufe
Richten wir den Blick nun auf die ganzheitliche Entwicklung des jungen Menschen in der Mittelstufe, zeigt sich im Übergang des 12. Lebensjahres eine nächste einschneidende Überkreuzung und Wandlung. Indem sich die Wachstumskräfte vom rhythmischen Atmungs- und Zirkulationssystem abwenden und sich nun stärker mit der Mechanik des Knochensystems verbinden, verändert sich das gesamte Wesen des Kindes: Das selbst- verständliche Mitschwingen mit dem Musikalisch-Rhythmischen, wie es in der 4. und 5. Klasse erlebt wurde, zieht sich zurück, während das Gesetzmässige des Skelettsystems stärker ins Bewusstsein rückt. Mit der immer stärker aufkommenden Frage nach dem „Warum und Wieso?“ beginnt das seelische Erleben der Kausalität. Auf diese neue Fähigkeit antwortet der Lehrplan mit der Erkundung neuer gedanklicher Zusammenhänge in der Mineralogie, Physik und Geschichte, – ab der 7. Klasse auch der Chemie. Mit diesem Aufbruch in die Zeit des kausalen Denkens, dem unter anderem die Entwicklung der Geschichte bis hin zur 8. Klasse entspricht, erwächst dem Schüler die Gefahr einer Einseitigkeit: In dem Masse, wie der junge Mensch seinen Leib immer stärker ergreift und mit seiner ganzen Sinneswachheit auf die Erdenreife zugeht, können sich auch seine Vorstellungen, Gedanken und Urteilsbildungen ganz einseitig an der materiellen, äusseren Welt orientieren. Was kann nun gerade in dieser Zeit, in der mit der Geburt des Astralleibes höchste individuelle und menschheitliche Ideale aufkeimen, eine Brücke bilden zwischen einem äusserlichen, zur materiellen Mechanik hinneigenden Denken und den inneren geistig-seelischen Idealen?
In dieser Fragestellung weist Rudolf Steiner im 14. und letzten Vortrag der Allgemeinen Menschenkunde mit grosser Eindringlichkeit auf eine Seelenfähigkeit des Menschen hin, die nun vom 6. Schuljahr an von grösster Bedeutung ist. Im Vergleich wird zunächst geschildert, wie sich mit dem Zahnwechsel verwandelte ätherische Bildekräfte in das Seelische hineindrängen und wie dem Schulkind daraus die Fähigkeit erwächst, das Zeichnen, Schreiben und Lesen zu erlernen. – Nun, 6 bis 7 Jahre später, drängen sich in einem verwandelten Prozess die Kräfte der Gliedmassennatur stärker in das Seelenleben des jungen Menschen hinein. Auch hier wird eine seelische Fähigkeit frei, die aber darauf angewiesen ist, von der Erziehung entwickelt und gefördert zu werden: Die Kraft der eigenständigen, freien Phantasie: „Und so wie sich anzeigt in der Fähigkeit, Schreiben und Lesen zu lernen in den ersten Schuljahren, das seelische Zahnen, so kündigt sich an in alledem, was Phantasietätigkeit ist und was von innerer Wärme durchzogen ist, alles dasjenige, was die Seele entwickelt am Ende der Volksschuljahre vom zwölften ... Lebensjahre an.“v
Legen wir den Massstab der Ganzheitlichkeit auch an diese Entwicklungsstufe an, so zeigt sich vom 12. Jahr an der Strom der wachsenden Urteilskraft, die sich nach zwei Seiten hinneigen kann: Von den äusseren Sinneserfahrungen her kann das Denken sich mit materiellen Vorstellungen verbinden. – Gelingt es von der inneren seelischen Seite her, die Kraft der Phantasie im Schüler aufzurufen, so können sich ganz neue Qualitäten im Erleben und Erkennen entwickeln: Die äussere Anwendung von geometrischen Sätzen beim Zeichnen der Platonischen Körper in einer 8. Klasse wäre dann die eine Erfahrung. – Eine vollkommen andere Qualität entsteht, wenn die Schüler sich in ihrer Vorstellung Kraft der Phantasie als „Spinne“ in die vorgestellten farbig getönten Raumeskörper hineindenken und dabei Winkel-, oder Entsprechungen von Flächen entdecken. „Wir appellieren an die Phantasie, wenn wir uns immer bemühen, so wie wir es versucht haben im praktisch- didaktischen Teil, dem Kinde Flächen nicht nur für den Verstand begreiflich zu machen, sondern die Flächennatur wirklich so begreiflich zu machen, dass das Kind seine Phantasie aufwenden muss selbst in der Geometrie und Arithmetik.“vi
Der Appell an die Kraft der Phantasie zur Verlebendigung des Lernens kann zum Beispiel im Grammatik-Unterricht einer 8. Klasse bedeuten, die Schüler zunächst im Entwickeln charakteristischer Sprach-Dialoge zu engagieren. Aus dem Durchleben und Durchfühlen der eigenen Tätigkeit können dann die Gesetze der Stilkunde entdeckt werden. – Offensichtlich trägt die Phantasie gerade in diesem Alter die Kräfte in sich, Themen und Gedanken in qualitativen Zusammenhängen zu erleben und zu erlernen. Durch die Verwandlungskraft der Phantasie wird der blosse Wissensstoff in einen ganzheitlichen, immer neuen Bezug zur Erscheinung, zu Bedeutung und zum lernenden Schüler gestellt.
Ganz unmittelbar geht aus dem Geschilderten hervor, dass die belebende, beflügelnde Kraft der Phantasie gerade am Ende der Klassenlehrerzeit zunächst nur ausgehen kann von der Lehrerin oder vom Lehrer: Je lebendiger sie selbst den Unterrichtsstoff durch- dringen, desto lebendiger werden die Schüler ihn aufnehmen und weiterbewegen. Finden wir im 2. Vortrag der Allgemeinen Menschenkunde die Qualität der Phantasie ganz auf der Seite des Willens, der Sympathie- und der Bluts-, bzw. Lebenskräfte, so kann das Anregungen für die Arbeit an den eigenen Phantasiekräften geben:
– Jede Willenstätigkeit, etwa durch künstlerische Arbeit am jeweiligen Thema, kann zu neuen Anregungen führen
– Wiederholungen, auch von früher phantasievollen Ansätzen, gehören eher zur Gedächtnis- und Begriffs-Qualität
– Unterlagen zum methodischen Vorgehen sollten daher im Grunde nicht aufbewahrt werden
– Bei der Vorbereitung ist es hilfreich, stets mindestens einen ganz fremden, anderen Ansatz durchzudenken und durchzuspielen
– Unbefangene Betrachtung: Welcher der Ansätze trägt am meisten Zukunft in sich? – Gedanken an einzelne Schüler und an die Gemeinschaft der Klasse beflügeln oft die Phantasie
Lehrer- und Schülerbegegnung im Zeitenstrom
In den beschriebenen drei Stufen der kindlichen Entwicklung führte der Versuch, einen Erziehungsansatz aus ganzheitlicher Perspektive zu finden, jeweils zu einem Spannungsfeld zwischen den seelisch-geistigen Bewusstseinsschritten, der äusseren Leibesentwicklung und dem Erziehungsansatz:
In diesen vertikalen Gesten klingt die grundsätzliche Aufgabe der Erziehung an, das Geistig-Seelische des heranwachsenden Menschen in eine Harmonie zu bringen mit dem Leiblich-Physischenvii. Vergegenwärtigen wir uns nun noch einmal die zuletzt geschilderte Entwicklungsphase der Mittelstufe bis hin zu einer konkreten Unterrichtssituation. Hier zeigt sich, dass der Spannungsbogen der vertikalen Polarität im unmittelbaren Geschehen von einer weiteren Ebene der Ganzheit durchkreuzt wird:
In einer 7. Klasse wurde die Biographie Leonardo da Vincis erarbeitet. Zum Abschluss er- hielten die Schüler als Aufgabe, schriftlich- erzählerisch und zeichnerisch Motive aus dieser Biographie darzustellen. Als die Fähigkeit, noch weitere Beiträge aufzunehmen im Grunde schon erschöpft war, deutete ein gerne das Wort führendes Mädchen heraus- fordernd auf einen sehr zurückhaltenden Jungen, als wolle sie sagen: „Na, da bin ich mal gespannt.“ Alle Blicke richteten sich auf ihn, als er zögernd das Heft aufschlug und zu lesen begann. Mit jedem Satz, den er nun vortrug, verwandelte sich die Atmosphäre im Klassenraum von erster Neugier bis hin zu einer tief staunenden Aufmerksamkeit: Unmittelbar erlebbar wurde die Betroffenheit, mit der dieser Schüler Wort für Wort betonte. Offensichtlich hatte er eine Lebenssituation ausgewählt, die ihn selbst tief betraf und die er aus seiner Phantasie heraus wie in holzschnittartigen prägnanten Sätzen verfasst hatte:
„... Eines Tages fand sein Vater die geheimen Skizzen in seinem Zimmer und ging damit zu dem bekannten Künstler Verrochio. Der sagte: ‚Dein Sohn soll morgen zu mir kommen.‘ Da sagte der Vater: ‘Dann geh morgen zu Verrochio.‘ Verrochio hatte viele Berufe: Goldschmied, Bildhauer, Steinschneider, Tischler, Maler, Konstrukteur, Schmied. Eines Tages bekam Verrochio den Auftrag, ein Bild mit Engeln zu malen. Er ging auch gleich an‘s Werk. In der Nacht malte auch Leonardo einen Engel. Am nächsten Morgen sagten die Gesellen einstimmig, dass Leonardos Engel besser wäre als der des Meisters. Verrochio hörte das, sah sich das Bild an und zerbrach seinen Pinsel. Ab jetzt war Leonardo Meister. – Eines Tages gab es einen Streit unter den Gesellen, ... jede Partei glaubte, sie hätte recht. Als Leonardo das hörte, rief er wütend: ‚Ihr Dummköpfe! Ihr glaubt nur, aber man muss erkennen und beobachten!‘ ...“
In jener staunenden Aufmerksamkeit war in rätselhafter Weise nicht nur diese Lebensszene in unmittelbarer Gegenwart präsent, sondern der ganze Werdegang des Jungen stand mit im Bewusstsein: Seine Scheu, in den ersten Jahren vor der Klasse zu sprechen. – Seine Überwindung, um dann den Zeugnisspruch in ruhiger Weise vorzutragen. – Sein Interesse im unablässig wachsamen, beobachtenden Blick. – Seine Fähigkeit, sich manchmal unerwartet zwischen streitende Mitschüler zu stellen. –
Mit diesen Bildern der Vergangenheit war zugleich in anderer Färbung und weniger konkret ein deutlicher Entwurf für die Zukunft anwesend, – als stiller Gedanke formuliert, etwa: „Die Szene, die Du ausgewählt hast, ist Deine Szene. Alles klingt in ihr zusammen: Jetzt wird deutlich, was Dir wichtig ist. Du wirst nun auch andere Herausforderungen in dieser Richtung bekommen – und bestehen.“
Das Erleben jener Unterrichtsstunde hatte deutlich gemacht, wie gerade im Ringen um eine künstlerische Gestaltung andere, tiefere Unterrichts-Erfahrungen möglich werden. Solche Begegnungen können nicht nur den Zusammenhang von Thema und jeweiliger Entwicklungsstufe, sondern darüber hinaus Aspekte der Ganzheit einer individuellen Biographie zur Erscheinung bringen: Je älter ein Kind wird, desto stärker kann ein Erzieher, der das Kind lange begleitet, aus solchen Lebensbegegnungen neben dem Gewordenen auch Impulse für die Zukunft lesen und fördernd in den weiteren Unterricht einbringen. Diese weitere Ebene der Ganzheit in der Begegnung mit dem Kind formuliert Rudolf Steiner mit folgenden Worten:
„Immer muss der Lehrer, der als Ganzes wirkt, neben dem dastehen, was er im Einzelnen am Kinde zu verrichten hat. Beides muss immer dastehen in der Pädagogik; auf der einen Seite das einzelne Unterrichtsziel, auf der anderen Seite die tausend Imponderabilien, die intim von Mensch zu Mensch wirken.“viii
In diesem Sinne besteht die Kernaufgabe einer langjährigen Klassenlehrerzeit darin, gerade in der Mittelstufenzeit bis hin zur achten Klasse durch die phantasievolle, künstlerische Arbeit Begegnungsräume zu schaffen, in deren Gegenwart sowohl die biographische Vergangenheit, als auch zukünftige Ziele erlebbar werden:
So wie im künstlerischen Element des Unterrichts ein ganzheitliches Erleben angeregt wird, so wird von Rudolf Steiner auch die Empfindungskraft des Pädagogen, die Thema, Situation und Schülerpersönlichkeit zusammenschaut, als eine künstlerische beschrieben:
„Es wird in der Methodik unsere Aufgabe sein, dass wir immer den ganzen Menschen in Anspruch nehmen. Wir würden das bestimmt nicht können, wenn wir nicht auf die Ausbildung eines im Menschen veranlagten künstlerischen Gefühls unser Augenmerk richten würden. Damit werden wir auch für später den Menschen geneigt machen, seiner ganzen Wesenheit nach Interesse für die ganze Welt zu gewinnen.“ix
Claus-Peter Röh. geboren am 15.12.1955. Nach dem Studium der Pädagogik war er von 1983 an als Klassen-, Musik- und Religionslehrer an der Freien Waldorfschule in Flensburg tätig. Neben der Unterrichtstätigkeit arbeitete er als Gastdozent an der Pädagogischen Hochschule in Flensburg und gab Kurse an verschiedenen Lehrerseminaren in Deutschland. Seit 1998 ist er Mitglied im Initiativkreis der Pädagogischen Sektion in Deutschland. Im September 2010 wechselte er zur Pädagogischen Sektion am Goetheanum in Dornach/CH. Ab Januar 2011 in Kooperation mit Florian Osswald Übernahme der Sektionsleitung. Verheiratet, 2 Kinder.
iBasler Zeitung vom 7. Februar 2014
iiR. Steiner. Die Welt des Geistes und ihr Hereinragen in das physische Dasein. GA 150, 1. Vortrag. 14. März 1913, S. 14
iiiEbenda, S. 15 und S. 16
ivEbenda, S.17
vR. Steiner, Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik. GA 293, 2005, 14. Vortrag, S. 226
viEbenda, S. 227
viiEbenda im 1. Vortrag
viiiR. Steiner, Erziehungs- und Unterrichtsmethoden auf anthroposophischer Grundlage, GA 304, S. 83
ixR. Steiner, Erziehungskunst, Methodisch-Didaktisches, GA 294, 1. Vortrag, S.11