1919 stellte Emil Molt, Direktor der Waldorf-Astoria Zigarettenfabrik in Stuttgart, Rudolf Steiner die Frage, ob er aus den Grundlagen der Anthroposophie für die Kinder seiner Arbeiter eine Schule konzipieren könne. Die Begründung dieser ersten Waldorfschule erfolgte bereits im September 1919. Vorbereitend hielt Rudolf Steiner für den ersten Lehrkörper einen menschenkundlichen, methodisch-didaktischen und seminaristischen Grundkurs, den er in den folgenden Jahren in vielfältiger Weise durch Vorträge und Kurse in Deutschland, der Schweiz, Oesterreich, Holland und England ergänzte. Manche Elemente dieser neuen Schule haben in verschiedenen Ländern Eingang in die Regelschule gefunden, wie etwa der Verzicht auf Notenzeugnisse als Selektionsmittel, die Kunst und das Handwerk als Erziehungsmittel, die Koedukation. Andere Elemente, wie etwa der Unterricht in Latein, Griechisch und Stenografie, entsprangen den damaligen Zeitverhältnissen, und, was den Lehrplan betrifft, auch damaligen behördlichen Vorschriften. In Bezug auf den Lehrplan hat sich daher auch an den Waldorfschulen vieles gewandelt. Was aber das Essentielle dieser Pädagogik ausmacht, so bildet das anthroposophische Menschenverständnis die Grundlage dieser Schule. Dies soll im folgenden zunächst skizziert werden.
In den 1924 veröffentlichten Leitsätzen formuliert Rudolf Steiner in Kurzform, was er unter Anthroposophie versteht: "Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltall führen möchte."
Es gibt ein Geistiges in jedem Menschen. Auch der sichtbaren Welt um uns liegt ein unsichtbar Wirksames zugrunde, das es zu entdecken und zu erforschen gilt.Die Anthroposophie ist kein Glaubensinhalt, sondern die Anregung, einen Weg des Erkennens zu beschreiten, der gleichzeitig ein Weg der Selbstentwicklung ist; ein Weg, der die eigene geistige Kraft im Menschen aktiviert.
Anthroposophie versteht sich also als eine Anregung, diesen Forschungsweg auf den verschiedensten Lebensgebieten zu beschreiten. In der Pädagogik handelt es sich um die schrittweise Entfaltung des Menschen zur freien Selbstbestimmung. Diese Forschungshaltung bewirkt, dass die Waldorf-Pädagogik grundsätzlich keine dogmatische Anwendungspädagogik sein kann, sondern erst im individuellen Vollzug und durch die aktuelle Begegnung entsteht. In seinem grundlegenden Aufsatz Freie Schule und Dreigliederung schreibt Rudolf Steiner lapidar:
"Was gelehrt und erzogen werden soll, das soll nur aus der Erkenntnis des werdenden Menschen und seiner individuellen Anlagen entnommen sein. Wahrhaftige Anthropologie soll die Grundlage der Erziehung und des Unterrichtes sein" (Pädagogische Grundlagen und Zielsetzungen der Waldorfschule, Dornach 1969, S.8).
Unsere Aufgabe als Erziehende liegt vor allem darin, das in jedem Menschen verborgene, zur freien Selbstbestimmung fähige Wesen zu fördern und darum besorgt zu sein, dass es sich gesund entwickeln kann. Dazu müssen wir aber die Entwicklungsbedingungen kennen, denn in jedem Lebensalter zeigt sich dieses individuell Einmalige, das der Mensch aus einer vorgeburtlichen Welt mitbringt, in einer anderen Gestalt und muss daher anders angeregt werden.
Erschienen in:
Waldorf-Pädagogik weltweit
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