Als Ausgangspunkt dient uns der erste Kurs für Lehrpersonen, der 1919 in Stuttgart stattfand und in dem Rudolf Steiner nicht nur den Grundstein für eine neue Pädagogik, sondern auch für einen neuen Gemeinschaftsbildungsprozess legte. In ihm entwirft er ein neues Leitungsverständnis, das die beiden Ebenen des Tag- und Nachtgeschehens miteinander in Einklang bringt.
Dominanz der "Tagseite"
Jeder pädagogische Impuls basiert auf der Beziehung von Menschen zueinander. Es ist deshalb unerlässlich, diesem Aspekt grösste Aufmerksamkeit zu schenken. In Beziehungen wird im allgemeinen der "Tagseite" mehr Beachtung geschenkt. Nehmen wir das Beispiel der Kollegialen Beratung, die in vielen Schulen angewendet wird. Der strukturierte Ablauf aktiviert im wesentlichen die Tagseite. Er nützt das Potential der Teilnehmenden und führt ein Coaching ohne Coach durch. Dabei werden von den Beteiligten Gesprächs- und Beratungsfähigkeiten vorausgesetzt. Die Kollegiale Beratung verlangt eine aktive Teilnahme. Bei genauerem Hinschauen sehen wir aber, dass ihr auch eine „Nachtberatung“ zur Seite steht. Eine gesunde Gemeinschaftsbildung umspannt das ganze Leben, d.h. die Tag- und Nachtseite. Gehen wir dieser These nun auf den Grund.
Gemeinschaftsbildung
Wenden wir uns dem ersten Kurs zu, in dem Rudolf Steiner über die Art und Weise wie die zukünftige Schule geleitet werden sollte, spricht. Zwei Gemeinschaftsbildungsprozesse bilden die Grundlage dieser Leitung.
Den Ersten beschreibt er am Vorabend des Kursbeginns. Steiner nennt die drei Schritte dieses „Tagprozesses“ wie folgt:
1. Allen pädagogisch Tätigen soll es möglich sein, ihre ganze Persönlichkeit in die Gemeinschaft einzubringen.
2. Alle sollen voll verantwortlich für ihr Handeln sein.
3. Durch das Studium des Kurses kann eine Gemeinschaft entstehen, die ein Ersatz für die Rektoratsleitung sein kann.
Hier wird eine klare Aufforderung ausgesprochen und wenn wir ihr folgen, wird die Leitung aus der Gemeinschaft möglich. Wir geben dieser Form heute meistens den Namen Selbstverwaltung. Sie setzt voraus, dass wir immer wieder einen gemeinsamen Boden bilden.
Am nächsten Morgen hält Steiner den ersten Vortrag der Allgemeinen Menschenkunde, darin beschreibt er den zweiten Gemeinschaftsbildungsprozess in Form einer Imagination. Ihr Wortlaut wurde nicht mitstenographiert. Die Kursteilnehmer Caroline von Heydebrand (1886-1938) und Herbert Hahn (1890-1970) haben aus der Erinnerung den Inhalt der von Rudolf Steiner gesprochenen Worte schriftlich niedergelegt. Die folgende Aufzeichnung stammt von Caroline von Heydebrand:
«Wir wollen unsere Gedanken so gestalten, daß wir das Bewußtsein haben können: Hinter jedem von uns steht sein Engel, ihm die Hände sanft aufs Haupt legend; dieser Engel gibt Euch die Kraft, die Ihr braucht. - Über Euren Häuptern schwebt der Reigen der Erzengel. Sie tragen von einem zum andern, was einer dem andern zu geben hat. Sie verbinden Eure Seelen. Dadurch wird Euch der Mut, dessen Ihr bedürft. (Aus dem Mut bilden die Erzengel eine Schale.) - Das Licht der Weisheit wird uns geschenkt von den erhabenen Wesenheiten der Archai, welche sich nicht im Reigen abschließen, sondern aus Urbeginnen kommend sich offenbaren und in Urfernen verschwinden. Sie ragen nur wie eine Tropfenform hinein in diesen Raum. (In die Schale des Mutes hinein fällt von dem wirkenden Zeitgeist ein Tropfen des Zeitenlichtes.)» (1)
Wir haben es mit drei Schritten zu tun, die die drei oben genannten Schritte ergänzen:
1. Das Einbringen der Persönlichkeit wird ergänzt durch das persönliche Verhältnis zum Engel.
2. Die Verantwortung wird ergänzt durch das was der Eine dem Andern schenkt.
3. Die Bildung der Gemeinschaft wird durch Licht der Weisheit - wir wollen es Orientierung nennen - ergänzt.
Schauen wir nun die Entstehung der Orientierung in der Imagination genauer an.
Nachtberatung - die Imagination
In der Selbstverwaltung konzentrieren wir uns hauptsächlich auf Prozesse, die wir bewusst wahrnehmen. Eine Gemeinschaft braucht aber auch Orientierung, oder eine „Nachtseite“ wie sie von Steiner in der oben erwähnten Imagination beschrieben wird.
Im ersten Bild der Imagination sehen wir einen Engel, der hinter einem Menschen steht und ihm sanft die Hände sanft aufs Haupt legt. Der Engel steht hinter uns, auf unserer "Nachtseite". Wie bilden wir eine Beziehung zur "Nachtseite" und zu unserem Engel? Die Rückschauübung, die wir in den Rundbriefen 58 und 59 eingeführt haben, ist ein Weg, ein Instrument dazu. Sie verbindet uns mit der „Nachtseite“ und gibt den geistigen Wesen die Möglichkeit, uns zu sehen und zu unterstützen. Diese Übung machen wir alleine, so wie Musiker alleine auf ihrem Instrument üben. Ich verbinde mich damit mit einem geistigen Wesen, schaffe eine Beziehung zur geistigen Welt.
Das zweite Bild der Imagination führt in die kollegiale Arbeit ein. Wir haben geübt, das Instrument spielen gelernt und gehen jetzt ins Kollegium, ins Orchester. Dieses verlangt von uns ein intensives Hinhören auf die Andern. Martin Buber nennt es "Ich werdend spreche ich Du", denn das Mitwirken im Orchester beeinflusst die Spielweise und so werden wir immer fähiger, einen Beitrag für das Ganze, die Musik zu erbringen. Das Zusammenspiel schafft die Voraussetzung im Orchester, dass Musik erscheinen kann.
Hier tauchen wir in das dritte Bild der Imagination ein. Entscheidend ist das Neue, das aus dem Zusammenklingen des Ganzen erst erscheint. Die Orientierung entsteht aus dem was jeder Einzelne beitragen kann. Wir nennen sie eine Orientierung aus der Gemeinschaft heraus.
Das ganze Leben erfassen
Die von Rudolf Steiner angeregten Prozesse begründen eine neue Form der Schulleitung, die die Nachtwelt aktiv miteinbezieht. In unserer Rückschauübung erarbeiten wir ein Verhältnis zum unbewussten Nachtgeschehen und befähigen uns, es zunehmend bewusst in die Arbeit einzubinden. Wir können diesen Vorgang schlicht ein 'Aufwachen für die Nachtberatung' nennen.
Das Leben besteht nicht nur aus dem Tag. Es gibt auch die Nacht. Beide zusammen umspannen das Ganze. Wir denken, dass es entscheidend ist für eine Gemeinschaft, dieses Ganze immer wieder neu zu bilden. Es scheint uns wesentlich den Gedanken zu verfolgen, dass zum Beispiel Entscheidungen im Schlaf getroffen und am Tag ins Bewusstsein gehoben werden.
Wir hoffen, in Ihnen viele Fragen angeregt zu haben. Es war die Absicht, auf einen verborgenen Schatz hinzuweisen. Wer anfängt mit den Nachtgeschehen zu arbeiten - wie es die vorgeschlagene Übung versucht - wird diese neue Form der Beratung entdecken und schätzen lernen.
Florian Osswald, geboren in Basel, Schweiz, studierte Verfahrensingenieur. Nach einer Ausbildung zum Heilpädagogen in Camphill, Schottland, besuchte er das Lehrerseminar in Dornach. Während 24 Jahren unterrichtete er Mathematik und Physik an der Rudolf Steiner Schule Bern-Ittgen und war in verschiedenen Ländern als kollegialer Berater tätig. Seit Anfang 2011 leitet er zusammen mit Claus-Peter Röh die Pädagogische Sektion am Goetheanum.
(1) Zur Vertiefung der Waldorfpädagogik. Aus Rudolf Steiners Eröffnungsrede vom 21. August 1919. Aus der Erinnerung aufgezeichnet von Caroline von Heydebrand. Pädagogische Sektion am Goetheanum. 1990. S.50